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Neuntes Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 71 (in dieser Übersetzung Band 4, Kapitel 9):

Clown.
'Twas in the Bunch of Grapes, where, indeed, you have a delight to sit, have you not?
Froth.
I have so: because it is an open room, and good for winter.
Clown.
Why, very well then: I hope here be truths.

Shakespeare: Measure for Measure.


Fünf Tage nach Raffles' Tode stand Bambridge müßig unter dem großen Thorweg, der in den Hof des ›Grünen Drachen‹ führte. Er war kein Freund einer contemplativen Einsamkeit, aber er war erst eben aus dem Hause gekommen und konnte, wie jede menschliche Gestalt, die am frühen Nachmittage behaglich unter dem Thorwege stand, so sicher darauf rechnen, Gesellschaft anzuziehen, wie eine Taube, die etwas zu picken gefunden hat. In diesem Falle fehlte es freilich an einem Gegenstande materieller Nahrung, statt dessen aber bot sich die sichere Aussicht auf geistige Nahrung in der Gestalt von Stadtklatsch Herr Hopkins, der gegenüber wohnende Tuchhändler mit den sanften Manieren, war der erste der dieser Voraussicht gemäß handelte; er wurde dabei von einem um so lebhafteren Verlangen nach einem bischen männlicher Unterhaltung getrieben, als seine Kunden hauptsächlich aus Frauen bestanden.

Bambridge war ziemlich kurz gegen den Tuchhändler; denn er war sich bewußt, daß Hopkins natürlich froh sein müsse, mit ihm reden zu können, daß er aber seine Unterhaltung nicht an Hopkins zu verschwenden brauche.

Bald genug stellte sich jedoch eine kleine Schar von wichtigeren Hörern ein, die sich theils aus grade Vorübergehenden, theils aus solchen zusammensetzte, die expreß gekommen waren, um zu sehen, ob im ›Grünen Drachen‹ etwas los sei, und Bambridge fand es nun der Mühe werth, sich in seiner drastischen Weise über die schönen Stuten, die er gesehen, und die Einkäufe, die er auf einer Reise im Norden, von der er eben zurückgekehrt war, gemacht habe, zu verbreiten. Er versicherte die anwesenden Herren, daß, wenn sie ihm ein Pferd zeigen könnten, welches es mit einer braunen vierjährigen Vollblutsstute, die sie, wenn sie Lust hätten, in Doncaster ansehen könnten, aufzunehmen im Stande sei, er ihnen gern den Gefallen thun wolle, sich in eine Kanone laden und von hier nach Hereford schießen zu lassen.

Dann wieder erinnerten ihn ein paar Schwarze, die er einfahren sollte, lebhaft an ein Paar, welches er im Jahre 19 für hundert und sechzig Guineen an Faulkner verkauft und welches Faulkner zwei Monate später für hundert und sechzig Pfund wieder verkauft habe. Wer dem widersprechen könne, solle das Recht haben, ihn nach Herzenslust zu schimpfen, bis ihm der Athem ausgehe.

Als Bambridge's Vortrag diesen Höhepunkt erreicht hatte, erschien Herr Frank Hawley. Er war nicht der Mann, seiner Würde durch Herumtreiben im ›Grünen Drachen‹ etwas zu vergeben; als er aber beim Passiren der High Street Bambridge an der anderen Seite der Straße stehen sah, ging er mit ein paar Riesenschritten quer über die Straße, um den Pferdehändler zu fragen, ob er noch immer nicht das vorzügliche Gigpferd gefunden habe, das er sich anheischig gemacht habe, für ihn auszusuchen.

Bambridge bat Herrn Hawley, doch nur zu warten, bis er einen für ihn in Bilckley ausgesuchten Grauen gesehen haben werde; wenn der nicht allen seinen Wünschen vollkommen entspreche, so verstehe Bambridge nichts von Pferden! Womit die denkbar größte Unwahrscheinlichkeit ausgesprochen sein sollte.

Hawley, der mit dem Rücken gegen die Straße gekehrt stand, verabredete eben eine Zeit, wo er den Grauen fahren sehen solle, als ein Herr langsam vorüber ritt.

»Bulstrode!« sagten mehrere Stimmen vor sich hin, unter ihnen die des Tuchhändlers, der dem Namen respectvoll das ›Herr‹ voranstellte; aber sie dachten bei Nennung dieses Namens so wenig an etwas Besonderes, wie wenn sie beim Anblick der aus der Ferne heranfahrenden Postkutsche ›Die Riverstone-Post‹ vor sich hin gesagt hätten.

Hawley blickte Bulstrode einen Augenblick gleichgültig nach, Bambridge aber machte, als er gleichfalls dahin sah, eine höhnische Grimasse.

»Halloh!« fing er mit etwas gedämpfter Stimme an, »das erinnert mich an etwas Anderes, was ich noch außer Ihrem Gigpferde von Bilckley mitgebracht habe, eine schöne Geschichte von Bulstrode. Wissen Sie, wie er zu seinem Vermögen gekommen ist? Wer von den Herren etwas Näheres über die curiose Geschichte zu wissen wünscht, kann es gratis von mir erfahren. Wenn es Allen nach Verdienst ginge, verrichtete Bulstrode seine Gebete vielleicht in Botany-Bay.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Hawley, indem er die Hände tief in die Taschen steckte und noch etwas weiter in den Thorweg hinein trat. »Wenn es heraus kommt, daß Bulstrode ein Schuft ist, so hat Frank Hawley eine prophetische Seele gehabt.«

»Ich habe es von einem alten Spießgesellen Bulstrode's. Ich will Ihnen erzählen, wo ich den zuerst gefunden habe,« sagte Bambridge, indem er den Zeigefinger plötzlich bedeutungsvoll erhob. »Ich hatte ihn schon bei der Auction über Larcher's Sachen gesehen, aber damals wußte ich noch nichts von ihm, er war plötzlich verschwunden, gewiß hinter Bulstrode her. Der hat mir jetzt erzählt, er kann Bulstrode zapfen, soviel er will; er weiß alle seine Geheimnisse. Er hat aber doch gegen mich nicht dicht gehalten; er trinkt gern einen über den Durst. Potztausend, wenn ich mir denke, daß der sich als Königszeuge gegen Bulstrode gemeldet hätte; aber er ist einer von den geschwätzigen Prahlhänsen, mit denen ihr Geprahle über Hecken und Gräben durchgeht, bis sie sich einen Spath an den Hals geprahlt haben, als ob sie's für Geld thäten. Man muß zu rechter Zeit anhalten können.«

Bambridge machte eine verächtliche Miene in dem stolzen Bewußtsein, daß er bei seinem Prahlen stets von einem feinen Gefühl für den Marktwerth seiner Mittheilungen geleitet werde.

»Wie heißt der Mensch? Wo kann man ihn finden?« fragte Hawley.

»Wo er zu finden ist? ich habe ihn im ›Saracenen-Kopf‹ gelassen; sein Name ist Raffles.«

»Raffles!« rief Hopkins. »Für den habe ich gestern das Leichenbegängniß besorgt. Er wurde in Lowick begraben. Herr Bulstrode folgte. Ein sehr anständiges Leichenbegängniß.«

Diese Mittheilung brachte einen tiefen Eindruck auf die Zuhörer hervor. Bambridge machte seinen Gefühlen in einem längeren Ausruf Luft, dessen mildestes Wort ›Schwefelbande‹ war, und Hawley rief mit zusammengezogenen Brauen und vorgebeugtem Kopf:

»Was? wo ist der Mensch gestorben?«

»In Stone Court,« erwiderte der Tuchhändler. »Die Haushälterin sagte mir, er sei ein Verwandter ihres Herrn, er sei Freitag dort angekommen.«

»Wie? vorigen Mittwoch habe ich ja noch ein Glas Wein mit ihm getrunken,« unterbrach Bambridge.

»Hat er einen Doctor gehabt?« fragte Hawley.

»Jawohl, Herrn Lydgate. Eine Nacht hat Herr Bulstrode bei ihm aufgesessen. Am dritten Morgen ist er gestorben.«

»Fahren Sie fort, Bambridge,« sagte Hawley ungeduldig. »Was hat Ihnen der Mensch von Bulstrode erzählt?«

Die Gruppe hatte sich bereits vergrößert; denn die Anwesenheit des Stadtschreibers schien eine Gewähr dafür zu bieten, daß hier etwas des Hörens werthes verhandelt werde, und Bambridge trug seine Erzählung vor sieben Zuhörern vor.

Es war im wesentlichen das, was wir wissen, das Will Ladislaw Betreffende mit einbegriffen; mit etwas localen Nebenumständen versetzt und colorirt. Es war, was Bulstrode verrathen zu sehen gefürchtet hatte und was er mit Raffles' Leiche für immer begraben zu haben hoffte, – es war jenes Gespenst seines früheren Lebens, von welchem er sich, als er vorhin am Thorweg des ›Grünen Drachen‹ vorüberritt, durch die Vorsehung für immer befreit glaubte.

Ja, die Vorsehung! Er hatte sich selbst noch nicht eingestanden, daß er irgend etwas dazu gethan habe, dieses Ende herbeizuführen. Er hatte nur angenommen, was sich ihm dargeboten zu haben schien. Es war unmöglich, ihm nachzuweisen, daß er irgend etwas gethan, was die Beförderung der Seele jenes Mannes ins Jenseits beschleunigt habe.

Aber dieses Gerede über Bulstrode verbreitete sich in Middlemarch so rasch wie Brandgeruch. Herr Frank Hawley suchte die von Bambridge erhaltene Kunde dadurch zu vervollständigen, daß er einen zuverlässigen Schreiber unter dem Vorwande, sich nach dem Heuvorrath zu erkundigen, in der That aber zu dem Zweck, sich möglichst vollständige Auskunft über Raffles und dessen Krankheit von Frau Abel zu verschaffen, nach Stone Court schickte.

Auf diese Weise erfuhr er, daß Garth den Mann in seinem Gig nach Stone Court gebracht habe; in Folge dessen suchte Hawley eine Gelegenheit, Caleb zu sehen, sprach auf seinem Bureau vor, um ihn zu fragen, ob er Zeit habe, erforderlichenfalls eine Taxation zu übernehmen, und befragte ihn dann beiläufig wegen Raffles. Caleb ließ sich zu keinem verletzenden Wort gegen Bulstrode bewegen, nur die Thatsache, daß er es seit acht Tagen aufgegeben habe, für Bulstrode thätig zu sein, mußte er zugestehen.

Hawley zog seine Schlüsse; er war überzeugt daß Raffles seine Geschichte an Garth erzählt und daß Garth in Folge dessen Bulstrode's Geschäfte aufgegeben habe, und theilte das wenige Stunden später Herrn Toller mit.

Diese Mittheilung ging von Mund zu Mund, bis sie das Gepräge eines Schlusses völlig verloren hatte und als eine direkt von Garth kommende Nachricht betrachtet wurde, so daß selbst ein gewissenhafter Geschichtsschreiber sich zu der Annahme würde berechtigt gehalten haben, daß Caleb der Hauptverbreiter von Bulstrode's Missethaten gewesen sei.

Hawley sah bald genug, daß weder in den von Raffles gemachten Enthüllungen noch in den Umständen seines Todes eine Handhabe für eine gerichtliche Verfolgung der Sache gegeben sei. Er war selbst nach Lowick hinausgeritten, um das Kirchenregister einzusehen und sich über die ganze Sache mit Farebrother zu besprechen, der ebenso wenig wie der Advokat davon überrascht war, daß ein häßliches Geheimniß über Bulstrode an den Tag gekommen sei, wiewohl er immer gerecht genug gewesen war, sich durch seine Antipathie nicht zu voreiligen Schlüssen verleiten zu lassen.

Aber während sie sich unterhielten, sah sich Farebrother im Stillen zu einer Combination der Umstände gedrängt, die ihn voraussehen ließ, was bald in Middlemarch laut als so selbstverständlich wie, daß, zwei mal zwei vier sei, betrachtet werden würde. Bei Erwägung der Gründe, welche Bulstrode Raffles fürchten ließen, fuhr Farebrother der Gedanke durch den Kopf, daß diese Furcht vielleicht mit seiner Liberalität gegen seinen Arzt zusammenhänge, und obgleich er die Idee, daß diese Liberalität irgendwie von Lydgate mit dem Bewußtsein, bestochen zu werden, angenommen worden sei, nicht in sich aufkommen ließ, konnte er sich doch der Voraussicht nicht erwehren, daß diese Combination eine verderbliche Wirkung auf Lydgate's Ruf üben werde.

Er merkte, daß Hawley von Lydgate's plötzlicher Befreiung von seinen Schulden nichts wisse, und hütete sich wohl, den Gegenstand auch nur von fern zu berühren.

»Nun,« sagte er tiefaufathmend in dem Wunsche, der ziellosen Discussion über das, was vielleicht geschehen sei, obgleich nichts bewiesen werden könne, ein Ende zu machen, »es ist eine sonderbare Geschichte. Unser quecksilberner Ladislaw ist also von merkwürdiger Herkunft! Eine junge Dame von lebhaftem Geist und einen musikalischen polnischen Patrioten kann man sich sehr gut als seine Eltern denken, aber das Blut des jüdischen Pfandleihers würde ich nie in ihm geargwöhnt haben. Indessen spottet das Ergebniß einer Mischung ja oft aller Voraussicht. Auch giebt es gewisse Arten von Schmutz, deren Beimischung zur Klärung eines Stoffes dient.«

»Ich habe mir das immer gedacht!« sagte Hawley, indem er sein Pferd bestieg. »Verfluchtes fremdes Blut, gleichviel ob jüdisches, korsisches oder Zigeunerblut!«

»Ich weiß, Sie können ihn nicht leiden, Hawley. Aber er ist wirklich ein uneigennütziger nobler Mensch,« erwiderte Farebrother lächelnd.

»Ja, ja, das ist so eine von Ihren whiggistischen Redensarten,« rief Hawley, der von Farebrother entschuldigend zu sagen pflegte, er sei ein so verflucht netter, gutmüthiger Kerl, daß man ihn für einen Tory halten könne.

Hawley dachte auf dem Heimwege an Lydgate's Behandlung von Raffles nur insofern, als dieser Umstand vielleicht zur Aufklärung des Falles werde beitragen können.

Aber die Nachricht, daß Lydgate plötzlich im Stande gewesen sei, nicht nur die ihm drohende Pfändung abzuwenden, sondern auch alle seine Schulden in Middlemarch zu bezahlen, verbreitete sich rasch, setzte in ihrem Laufe Vermuthungen und Commentare an, gewann dadurch immer neue Gestalt und neue treibende Momente und kam bald auch anderen Personen als Hawley zu Ohren, welche nicht verfehlten, einen sehr bedeutsamen Zusammenhang zwischen dieser plötzlichen Zahlungsfähigkeit Lydgate's und dem natürlichen Wunsche Bulstrode's, Raffles sein böses Maul zu stopfen, herauszufinden.

Daß Lydgate das Geld von Bulstrode bekommen habe, würde man unfehlbar errathen haben, selbst wenn kein direkter Beweis dafür vorgelegen hätte; denn es war schon vorher bei der Unterhaltung über Lydgate's Angelegenheiten vielfach zur Sprache gekommen, daß weder sein Schwiegervater noch seine eigene Familie etwas für ihn thun wollten; aber auch der direkte Beweis wurde erbracht, nicht nur durch einen Angestellten der Bank, sondern auch durch die unschuldige Frau Bulstrode selbst, welche des Darlehns gegen Frau Plymdale Erwähnung that, welche desselben wieder gegen ihre Schwiegertochter, die geborene Toller, Erwähnung that, welche mit Jedermann davon sprach.

Man betrachtete die Angelegenheit als eine so allgemein interessante und wichtige, daß eigene Diners zu ihrer gehörigen Verarbeitung erforderlich schienen und daß viele Einladungen auf Grund der skandalösen Affaire von Bulstrode und Lydgate erlassen und angenommen wurden. Frauen, Wittwen und unverheirathete Damen gingen öfter als gewöhnlich mit ihrer Handarbeit zum Thee aus, und aller öffentliche Verkehr in Gasthäusern, vom ›Grünen Drachen‹ bis zu Dollop's ›Trinkkanne‹, erhielt einen Reiz, den nicht einmal die Frage, ob das Oberhaus die Reformbill verwerfen werde, zu bieten vermochte.

Denn kaum Jemand zweifelte daran, daß irgend ein skandalöses Motiv der Liberalität Bulstrode's gegen Lydgate zu Grunde liege.

Hawley lud alsbald eine auserwählte Gesellschaft, in welcher sich auch die beiden consultirenden Aerzte sowie Herr Toller und Herr Wrench befanden, ausdrücklich zu dem Zwecke sein, die Krankheit Raffles' einer gründlichen Discussion zu unterwerfen, und erzählte seinen Gästen dabei alle Einzelheiten, die sich aus Frau Abek's Mittheilungen in Verbindung mit Lydgate's delirium tremens als Todesursache bezeichnender Bescheinigung ergaben.

Die Aerzte, welche sämmtlich unerschüttert an dem alten Standpunkte der Behandlung dieser Krankheit standen, erklärten, daß sie in diesen Umständen nichts zu finden vermöchten, worauf sich ein positiver Verdacht gründen lasse. Aber die moralischen Anhaltspunkte des Verdachtes, die dringenden Gründe, welche Bulstrode offenbar gehabt hatte zu wünschen, sich Raffles' zu entledigen, die Thatsache, daß er in diesem kritischen Augenblick Lydgate die Unterstützung gewährt hatte, deren Bedürfniß er schon längere Zeit gekannt haben mußte, dazu die allgemeine Geneigtheit, Bulstrode einer gewissenlosen Handlung für fähig zu halten, endlich die Abgeneigtheit zu glauben, daß Lydgate der Bestechlichkeit weniger zugängliche sei als andere hochmüthige Menschen, wenn sie sich in Geldverlegenheit befinden – diese moralischen Anhaltspunkte blieben nichts desto weniger bestehen.

Selbst wenn er das Geld nur bekommen hätte, damit er über Bulstrode's früheres anstößiges Leben schweige, fiel doch ein häßliches Licht auf Lydgate, von dem man schon lange höhnend behauptet hatte, daß er sich Bulstrode dienstbar mache, um sich eine dominirende Stellung zu verschaffen und die älteren Männer seines Berufes in der allgemeinen Achtung herabzusetzen.

So kam es, daß Herrn Hawley's auserwählte Gesellschaft, trotz des negativen Ergebnisses im Betreff irgend welchen greifbaren Anhaltes für die Schuld an dem Todesfall in Stone Court, mit der Ueberzeugung aufbrach, daß es eine ›häßliche Geschichte‹ sei.

Aber grade diese rege Ueberzeugung von einer unbestimmbaren Schuld, welche hinreichte, viel Kopfschütteln und beißende Bemerkungen selbst solider älterer Berufsgenossen zu veranlassen, wirkte auf die öffentliche Meinung mit dem ganzen Gewicht des Geheimnißvollen. Jedermann mochte sich lieber in Vermuthungen darüber ergehen, wie es sich wohl mit der Sache verhalten könne, als die Thatsachen wirklich kennen; denn Vermuthungen gingen bald zuversichtlicher zu Werke, als es wirkliches Wissen gethan haben würde, und wußten sich leichter mit dem Unvereinbaren abzufinden. Selbst die faßbareren Skandalosa in Bulstrode's früherem Leben schmolzen für manche mit dem Geheimnißvollen zusammen und bildeten so ein flüssiges Metall, das sich in die Unterhaltung ergießen und eine so phantastische Gestalt annehmen konnte, wie es dem Himmel gefiel.

Diese Art, die Dinge anzusehen, war namentlich bei Frau Dollop, der munteren Wirthin der ›Trinkkanne‹ in Slaughter-Lane, beliebt, die oft in den Fall kam, dem hohlen Pragmatismus ihrer Kunden entgegen zu treten, wenn sie zu glauben geneigt waren, daß ihre von draußen her mitgebrachten Gerüchte eben so viel werth seien wie das, was, wie Frau Dollop sagte, ›ihrem Geiste aufgegangen sei‹. Von wannen ihr das kam, wußte sie selbst nicht; aber es stand vor ihr, als wäre es mit Kreide an die Tafel über dem Kamin geschrieben, daß, wie Bulstrode selbst sich ausdrücken würde, ›sein Inneres so schwarz sei, wie wenn die Haare auf seinem Kopf um seine innersten Gedanken wüßten und sie mit der Wurzel herausgerissen hätten‹.

»Das ist sonderbar,« sagte Herr Limp, ein grübelnder Schuster mit schwachen Augen und piepender Stimme. »Dasselbe sagte auch, wie ich in der ›Trompete‹ gelesen habe, der Herzog von Wellington, als er rechtsumkehrt machte und zu den Römern überging Anspielung auf das von Wellington als Premierminister 1829 durchgesetzte Wahlrecht für Katholiken. Siehe Anm. 163. – Anm.d.Hrsg.

»Sehr wahrscheinlich,« erwiderte Frau Dollop, »wenn schon ein Schuft das gesagt hat, so ist das nur um so mehr Grund, daß auch ein Anderer es sagt. Aber der Heuchler! das ist er sein Lebelang gewesen mit seinen großartigen Manieren, daß kein Mensch im Lande gut genug für ihn war, und hat sich dem Gottseibeiuns ergeben müssen, aber der Gottseibeiuns ist doch zu schlau für ihn gewesen.«

»Ja ja, der ist ein Spießgeselle, den man nicht nach Belieben wegschicken kann,« bemerkte Herr Crabbe, der Glaser, der immer Neuigkeiten sammelte, über die er dann unklar faselte. »Aber, wie ich höre, giebt es Leute, die sagen, Bulstrode habe schon vor einiger Zeit aus Furcht entdeckt zu werden, weglaufen wollen.«

»Ob er will oder nicht, er wird schon weggejagt werden,« sagte Herr Dill, der Barbier, der eben eingetreten war. »Ich habe diesen Morgen Fletcher, Hawley's Schreiber, barbirt, – er hat einen schlimmen Finger –, und der sagt, sie sind sich Alle darin einig, daß sie Bulstrode los werden wollen. Auch Herr Thesiger ist gegen ihn und will ihn aus dem Kirchspiel haben. Und es giebt Herren hier in der Stadt, die sagen, sie möchten grade so gern mit einem Galeerensträfling zu Tisch sitzen, wie mit Bulstrode. Und Fletcher sagt: ›Viel lieber, denn was kann Einem mehr gegen den Strich sein als ein Kerl, der sich Einem mit seiner Religion aufdrängt und thut, als hätte er an den zehn Geboten noch nicht genug, und dabei schlimmer ist als die meisten armen Kerle in der Tretmühle‹, sagt Fletcher, habe er bei sich gedacht.«

»Für die Stadt wird es aber doch schlimm sein, wenn Bulstrode mit seinem Gelde weggeht,« sagte Herr Limp mit tremulirender Stimme.

»Es giebt bessere Leute, die ihr Geld schlechter verwenden,« sagte ein mit fester Stimme begabter Färber, dessen blutrothe Hände schlecht zu seinem gutmüthigen Gesichte paßten.

»Aber so viel ich höre, würde er sein Geld nicht behalten,« sagte der Glaser. »Die Leute sagen ja, es gebe Einen, der Alles von ihm bekommen könnte. Wenn ich recht verstanden habe, könnten sie ihm jeden Heller abnehmen, wenn sie ihn verklagten.«

»O nein, nichts der Art!« sagte der Barbier, der sich etwas erhaben über die Gesellschaft bei Dollop's fühlte, aber darum nicht weniger Geschmack an derselben fand: »Fletcher sagt, von so etwas kann gar keine Rede sein. Er sagt, wenn sie auch durch die unwiderleglichsten Beweise erbrächten, wessen Kind dieser junges Ladislaw sei, so würden sie damit doch nicht mehr erreichen, als wenn sie bewiesen, ich wäre vom Mond gekommen, darum bekäme er doch keinen Heller.«

»Da höre mal Einer!« sagte Frau Dollop entrüstet. »Ich danke Gott, daß er meine Kinder zu sich genommen hat, wenn das Alles ist, was das Gesetz für mutterlose Waisen thun kann. Da wäre es ja ganz gleichgültig, wen man zum Vater oder zur Mutter hat. Aber es wundert mich von einem so gescheidten Manne wie Sie es sind, Herr Dill, daß Sie etwas darauf geben, was ein Advokat sagt, wenn Sie nicht auch einen Anderen gehört haben. Man weiß doch, daß jede Sache ihre zwei, wenn nicht mehr Seiten hat, sonst möcht' ich wohl wissen, warum man Processe hat. Das ist ja ein armseliger Kram mit all' den Gesetzen bald so, und bald so, wenn es Einem nichts nützt, daß man beweis't, wessen Kind man ist. Fletcher kann das in Gottes Namen sagen, aber lassen Sie mich mit Fletcher in Ruh!«

Herr Dill affectirte sein lautes Lachen, um Frau Dollop, als einer Frau, die den Advokaten mehr als gewachsen sei, sein Compliment zu machen; denn er ließ sich die Sticheleien der Frau Dollop, bei der er stark angekreidet war, gern gefallen.

»Wenn es zum Proceß kommt und alles wahr ist, was die Leute sagen, so handelt es sich um noch etwas ganz anderes als nur um Geld,« sagte der Glaser, »da ist eben ein armer Kerl gestorben, nachdem, was ich höre, hat es eine Zeit gegeben, wo der ein viel feinerer Herr war als Bulstrode.«

»Ein feinerer Herr! das will ich wohl glauben,« sagte Frau Dollop, »und so viel ich höre, ein viel hübscherer Mann. Ich habe es auch dem Steuereinnehmer. Herrn Baldwin, auf den Kopf zugesagt, als er neulich hereinkam und sich dahin stellte, wo Sie sitzen, und sagte: ›Bulstrode hat all' sein Geld, was er hier mit hergebracht hat, gestohlen und erschwindelt‹; – da erzählen Sie mir nichts Neues, Herr Baldwin, habe ich da gesagt; mir macht es das Blut in den Adern gerinnen, wenn ich ihn nur ansehe, seit er einmal nach Slaughter-Lane hergekommen ist, um mir das Haus über'm Kopf wegzukaufen. Umsonst haben auch Leute nicht ein solches Teiggesicht und starren Einen an, als wenn sie Einem die Seele aus dem Leibe gucken wollten, das habe ich gesagt, und das kann mir Herr Baldwin bezeugen.«

»Und da haben Sie auch ganz das Richtige getroffen,« sagte Herr Crabbe. »Denn so viel ich höre, war dieser Raffles, wie Sie ihn nennen, ein munterer; hübscher Mann, wie man ihn gern sieht, und ein vortrefflicher Gesellschafter. Jetzt freilich liegt er todt auf dem Kirchhof in Lowick; und wenn ich recht verstanden habe, so giebt es Leute, die mehr davon wissen, wie er dahin gekommen ist, als sie wissen sollten

»Das will ich Ihnen wohl glauben,« sagte Frau Dollop in einem etwas höhnenden Ton, welcher Crabbe's faselnder Art galt. »Wenn ein Mann in ein einsames Haus gelockt wird und wenn Leute, die Hospitäler und Wärterinnen für das halbe Land bezahlen können, aus Wahl Nacht und Tag aufsitzen und Niemanden heranlassen als einen Doctor, von dem Jeder weiß, daß er sich vor nichts scheuet und so arm ist, daß er kaum die Haut über die Knochen hat und der mit einem Male wieder flott wird und Schlachter Byles seine Rechnung über die besten Braten, die nun schon seit vorigem Michaelis vor einem Jahr läuft, bezahlen kann, so braucht Keiner zu kommen und mir zu sagen, daß da mehr vorgegangen ist, als im Gebetbuch steht, da brauche ich nicht lange zu zwinkern und zu blinkern und mir den Kopf zu zerbrechen.«

Dabei blickte Frau Dollop mit der Miene einer Wirthin umher, die gewöhnt ist, ihren Gästen zu imponiren. Die Muthigeren drückten ihre Zustimmung im Chor aus, aber Herr Limp legte, nachdem er einen Schluck getrunken hatte, seine Hände flach zusammen, preßte sie zwischen die Knie und blickte mit contemplativer Triefäugigkeit auf sie nieder, als ob die versengende Gewalt von Frau Dollop's Rede seinen Verstand ganz ausgetrocknet und zu nichte gemacht habe, bis ihn erneute Anfeuchtung wieder zu sich gebracht haben würde.

»Warum graben sie den Mann nicht wieder aus und lassen den Todtenbeschauer kommen?« fragte der Färber. »Das ist ja doch schon oft genug geschehen. Wenn die Sache nicht mit rechten Dingen zugegangen ist, würden sie es schon heraus finden.«

»Die würden nichts finden, Herr Jonas,« sagte Frau Dollop emphatisch. »Ich kenne die Doctoren. Die sind viel zu schlau, als daß man hinter ihre Schliche kommen könnte. Und dieser Doctor Lydgate, der seinen Patienten immer die Leiber aufschneiden wollte, noch ehe sie den letzten Athemzug gethan hatten – es ist klar genug, wozu er respectablen Leuten in den Leib gucken wollte. Der kennt Arzneien, darauf können Sie sich verlassen, die man nicht riechen und nicht sehen kann, weder ehe sie heruntergeschluckt sind noch nachher. Habe ich doch selbst Tropfen gesehen, die Doctor Gambit verschrieben hatte, der unser Club-Doctor ist und ein sehr respectabler Mann und mehr lebendige Kinder in die Welt befördert hat als irgend ein anderer in Middlemarch – ich sage, ich habe selbst Tropfen gesehen, bei denen es keinen Unterschied machte, ob sie in oder aus dem Glase waren und die Einem doch den nächsten Tag in den Eingeweiden rumorten. Brauchen Sie Ihren eignen Verstand. Mir soll Keiner etwas erzählen. Alles, was ich sage, ist: es ist ein wahres Glück, daß sie diesen Doctor Lydgate nicht für unsern Club angenommen haben. Mancher Mutter Sohn möchte es schwer gebüßt haben.«

Die Hauptpunkte dieser bei ›Dollop's‹ geführten Discussion waren das allgemeine Thema der Unterhaltung aller Kreise in der Stadt geworden, hatten ihren Wegs nach dem Pfarrhause von Lowick auf der einen und nach Tiptonhof auf der anderen Seite gefunden, waren der Familie Vincy ihrem vollen Umfange nach zu Ohren gekommen und wurden von allen Freunden Frau Bulstrode's unter dem Ausdruck des Bedauerns für die arme ›Harriett‹ discutirt, noch ehe Lydgate genau wußte, warum ihn die Leute so sonderbar ansahen, und noch ehe Bulstrode selbst zu argwöhnen begann, daß sein Geheimniß verrathen sei. Seine Beziehungen zu seinen Mitbürgern waren nie sehr herzlicher Natur gewesen, und so vermißte er auch jetzt nicht die Aeußerungen der Herzlichkeit in ihrem Benehmen; überdies hatte er verschiedene Geschäftsreisen zu machen gehabt, da er jetzt darüber mit sich ins Reine gekommen war, daß er nicht nöthig habe, Middlemarch zu verlassen, und sich folgeweise im Stande glaubte, Dinge abzumachen, die er bis dahin in der Schwebe gelassen hatte.

»Wir wollen in einigen Wochen eine Reise nach Cheltenham machen,« hatte er zu seiner Frau gesagt. »Die Stadt bietet neben der Luft und dem Brunnen vortreffliche Gelegenheit zu geistlicher Erbauung, und ein sechswöchentlicher Aufenthalt dort wird uns ungemein erfrischen.«

Er glaubte wirklich an die Wirkung geistlicher Erbauung und gedachte fortan ein um so frommeres Leben zu führen, als er sich neuerer Sünden, freilich nur hypothetisch, bewußt war, um deren Vergebung er auch nur hypothetisch mit den Worten betete: ›Wenn ich darin gefehlt haben sollte.‹

In Betreff des Hospitals vermied er es, irgend etwas Weiteres zu Lydgate zu sagen, aus Furcht einen zu plötzlichen Wechsel in seinen Plänen unmittelbar nach Raffles' Tode zu bekunden. Im innersten Herzen glaubte er, daß Lydgate Verdacht hege, seine Verordnungen seien absichtlich nicht befolgt worden, und wenn er einen solchen Verdacht hegte, mußte er auch ein diese Handlungsweise genügend erklärendes Motiv argwöhnen. Aber von Raffles' Geschichte war Lydgate nichts verrathen, und Bulstrode war ängstlich darauf, bedacht, nichts zu thun, was seinem unbestimmten Verdachte Nachdruck zu verleihen im Stande wäre.

Was die zuversichtliche Behauptung betraf, daß irgend eine Methode der Behandlung nothwendig heilen oder tödten müsse, so bekämpfte Lydgate selbst fortwährend einen solchen Dogmatismus; hatte er doch auch kein Recht zu reden, vielmehr die triftigsten Gründe zu schweigen.

So glaubte Bulstrode sich auf die ihm von der Vorsehung gewährte Sicherheit verlassen zu können. Peinliche Empfindungen erweckte es ihm nur, wenn er gelegentlich Caleb Garth begegnete, der aber mit dem Ausdruck milden Ernstes seinen Hut vor ihm zog.

Inzwischen bereitete sich von Seiten der einflußreichsten Leute der Stadt Feine entschiedene Demonstration gegen ihn vor. Das Vorkommen eines Cholerafalles in der Stadt ließ die Lösung einer gesundheitspolizeilichen Frage dringend erscheinen, und man hatte zur Erörterung derselben eine Versammlung im Rathhause angesetzt.

Seit dem Erlaß der rasch zu Stande gekommenen Parlamentsakte, welche die einzelnen Gemeinden zur Erhebung von Lokalsteuern für sanitärische Zwecke befugte, war in Middlemarch eine eigene Behörde mit der Oberleitung solcher Maßregeln betraut worden, und Whigs und Tories hatten im Reinigen und in der Ergreifung vorbereitender Maßregeln gewetteifert. Die Frage, um die es sich in diesem Augenblick handelte, war, ob die Mittel zur Erwerbung eines außerhalb der Stadt liegenden, zum Begräbnißplatz bestimmten Grundstücks auf dem Wege der Besteuerung oder der Privatsubscription beschafft werden sollten.

Die Versammlung sollte öffentlich sein und man rechnete auf die Anwesenheit fast aller einflußreichen Männer der Stadt. Bulstrode, der zu den Mitgliedern der Sanitätsbehörde gehörte, ging kurz vor zwölf Uhr aus der Bank fort nach der Versammlung, mit der Absicht, den Plan einer Privatsubscription dringend zu befürworten. Eine Zeit lang, während seine Pläne für die Zukunft noch unentschieden gewesen waren, hatte er sich von öffentlichen Angelegenheiten fern gehalten, und er gedachte die sich ihm heute darbietende Gelegenheit zu benutzen, sich wieder in seiner Stellung als einflußreicher und thatkräftiger Mann in der Stadt, wo er seine Tage zu beschließen meinte, zu befestigen. Unter den verschiedenen Personen, die desselben Weges gingen, sah er auch Lydgate; er schloß sich ihm an, sie unterhielten sich über den Zweck der Versammlung und traten zusammen in den Saal.

Es schien, als ob alle maßgebenden Persönlichkeiten ihnen zuvorgekommen seien. Aber an der oberen Seite des großen in der Mitte stehenden Tisches waren noch Plätze frei, und dahin lenkten sie ihre Schritte. Ihnen gegenüber saß Farebrother, nicht weit von Hawley, alle Aerzte waren da; Herr Thesiger fungirte als Vorsitzender, und Herr Brooke von Tiptonhof saß zu seiner Rechten.

Lydgate bemerkte ein eigenthümliches Wechseln von Blicken unter den Uebrigen, als er und Bulstrode ihre Plätze einnahmen.

Nachdem der Vorsitzende die Sitzung eröffnet und auf die Vortheile hingewiesen hatte, welche ein durch Subscription ermöglichter Ankauf eines Grundstücks gewährte, das groß genug sei, um später zum allgemeinen Begräbnißplatz zu dienen, erhob sich Herr Bulstrode, dessen etwas hohe, aber gedämpfte Stimme und fließende Rede die Stadt bei Versammlungen dieser Art zu hören gewöhnt war, und bat um die Erlaubniß, seine Meinung über die Sache aussprechen zu dürfen.

Lydgate bemerkte wieder den sonderbaren Austausch von Blicken unter den Anwesenden, als sich plötzlich Hawley erhob und mit seiner festen klangvollen Stimme sagte:

»Herr Präsident, bevor irgend Jemand hier seine Meinung ausspricht, bitte ich um die Erlaubniß, einem öffentlichen Gefühle Ausdruck geben und damit nicht blos nach meiner, sondern nach der Ansicht vieler anwesender Herren eine Vorfrage erledigen zu dürfen.«

Hawley's Art zu reden war, selbst wenn die in keiner öffentlichen Versammlung gebotenen Rücksichten der Schicklichkeit seiner Ausdrucksweise Schranken setzten, durch ihre gedrungene Kürze und die sich darin kundgebende Selbstbeherrschung furchtbar.

Herr Thesiger gewährte die Bitte, Bulstrode setzte sich wieder hin, und Hawley fuhr fort.

»Was ich zu sagen habe, Herr Präsident, sage ich nicht lediglich aus eigenem Antriebe; ich spreche im Einverständniß und zufolge der ausdrücklichen Aufforderung von nicht weniger als acht meiner Mitbürger, die hier anwesend sind. Wir sind einstimmig der Ansicht, daß Herr Bulstrode aufzufordern sei, – und ich fordere ihn: hiermit dazu auf –, auf eine Mitwirkung bei öffentlichen Angelegenheiten zu verzichten, die er nicht einfach als Steuerzahler, sondern als Gentleman unter Gentlemen übt. Es giebt Praktiken und Handlungen, welche das Gesetz in Betracht besonderer Umstände nicht verfolgen kann, obgleich sie schlimmer sein können, als viele gesetzlich strafbare Dinge. Rechtschaffene Leute und Gentlemen müssen sich, wenn sie sich vor der Gesellschaft von Leuten, die solche Handlungen begehen, schützen wollen, wehren, so gut sie können, und das sind wir, ich und meine Freunde, die ich meine Clienten in dieser Angelegenheit nennen darf, zu thun entschlossen. Ich behaupte nicht, daß Herr Bulstrode sich schmachvolle Handlungen hat zu Schulden kommen lassen, aber ich fordere ihn auf, entweder die von einem jetzt verstorbenen und zwar in seinem Hause gestorbenen Mann ihm Schuld gegebenen skandalösen Thatsachen, die Behauptung, daß er viele Jahre lang an einem ruchlosen Betriebe betheiligt gewesen sei und daß er sein Vermögen durch unrechtliche Proceduren erworben habe, öffentlich zu leugnen und zu widerlegen, oder sich aus Stellungen zurückzuziehen, die man ihm nur als einem Gentleman unters Gentlemen eingeräumt hat.«

Aller Augen richteten sich auf Bulstrode, den schon die erste Erwähnung seines Namens in eine Aufregung versetzt hatte, die für seinen zarten Körper fast zu viel war; Lydgate, den der furchtbare praktische Beleg für die Richtigkeit einer leisen Ahnung selbst tief erschütterte, fühlte nichtsdestoweniger, als er das jammervoll eingefallene bleiche Gesichts Bulstrode's sah, eine Regung des Hasses durch jenen Instinkt des Arztes gezügelt, der vor Allem daran denkt, dem Leidenden Befreiung oder Erleichterung zu bringen.

Die rasche Erkenntniß, daß sein Leben doch schließlich ein verfehltes, daß er ein entehrter Mann sei und sich vor den Blicken derer beugen müsse, denen gegenüber er sich gewöhnt hatte, als Tugendrichter aufzutreten; die Erkenntniß, daß Gott ihn vor den Menschen verleugnet und ihn unbeschirmt dem triumphirenden Hohn derjenigen preisgegeben habe, die froh waren, ihren Haß gegen ihn gerechtfertigt zu sehen; das Bewußtsein der gänzlichen Richtigkeit seiner zweideutigen Abfindung mit seinem Gewissen über die Art, wie er mit dem Leben seines Spießgesellen verfahren war, einer Abfindung, die sich jetzt mit dem furchtbaren Giftzahn einer enthüllten Lüge gegen ihn kehrte, Alles das durchfuhr Bulstrode wie die Todesangst des Schreckens, welche nicht tödtet, sondern das Ohr für die wiederkehrende Woge der Verwünschung noch offen hält.

Das plötzliche Bewußtsein, bloßgestellt zu sein, nach dem erst kurz zuvor wiedererlangten Gefühl der Sicherheit kam nicht über einen grob organisirten Verbrecher, sondern über einen nervös reizbaren Mann, für den der Schwerpunkt seines Lebens in der Herrschaft und Ueberlegenheit über Andere lag, welche die Verhältnisse ihm verschafft hatten.

Aber in diesem Schwerpunkt seines Lebens lag für ihn auch die Kraft der Reaction. Bei all seiner körperlichen Schwäche wohnte in ihm ein zäher ehrgeiziger, auf seine Selbsterhaltung bedachter Wille, der sein Lebelang wie eine Flamme aus ihm herausgeschlagen war und alle doctrinellen Befürchtungen zerstreut hatte, und der sich selbst jetzt, während er, ein Gegenstand des Erbarmens für die Mitleidigen, dasaß, in ihm zu regen und unter seinem bleichen aschfarbenen Aeußern zu glimmen anfing.

Noch ehe Hawley ausgesprochen hatte, fühlte Bulstrode, daß er antworten und die ihm gemachten Vorwürfe mit anderen Vorwürfen zurückschleudern müsse. Er wagte nicht aufzustehen und zu sagen: ›Ich bin nicht schuldig, die ganze Geschichte ist erlogen‹, und selbst wenn er es gewagt hätte, so würde ihm das bei dem Bewußtsein der Offenkundigkeit seiner Schuld so eitel erschienen sein, als wenn er, um seine Blöße zu decken, nach einem dürftigen Lumpen gegriffen hätte, der bei jeder kleinen Spannung zerreißen mußte.

Einige Augenblicke herrschte tiefe Stille im Saal, während Jedermann nach Bulstrode blickte. Er saß vollkommen ruhig, fest an den Rücken seines Stuhles gelehnt da; er durfte es nicht wagen, aufzustehen, und als er zu reden anfing, stützte er sich mit beiden Händen auf die Seitenlehnen seines Stuhles. Aber seine Stimme war vollkommen vernehmbar, wenn auch heiserer als gewöhnlich, und er sprach seine Worte scharf und bestimmt, obgleich er zwischen jedem Satze inne hielt, als ginge ihm der Athem aus.

Er sagte zuerst gegen Herrn Thesiger gewandt und dann den Blick auf Hawley geheftet:

»Ich protestire dagegen, daß Sie, Herr Präsident, als ein christlicher Prediger ein Verfahren gegen mich sanctioniren, welches von giftigem Hasse eingegeben ist. Diejenigen, welche mir feindlich gesinnt sind, schenken jeder von einer bösen Zunge gegen mich ausgestreuten Verläumdung ein nur allzu geneigtes Ohr. Und ihr Gewissen hindert sie nicht, sich gegen mich zu kehren. Wenn sie sagen, daß die üble Nachrede, der ich zum Opfer fallen soll, mich böser Praktiken beschuldigt«, – bei diesen Worten erhob sich Bulstrode's Stimme und nahm einen schärferen Accent an, bis sie wie ein leises Schreien klang –, »so frage ich, wer will mein Ankläger sein. Nicht Menschen, deren eigenes Leben unchristlich, ja, höchst anstößig ist, deren Geschäft aus einem Gewebe von Chicanen besteht, die ihr Einkommen für sinnliche Genüsse verausgabt haben, während ich das meinige zur Förderung der besten Zwecke für dieses und jenes Leben verwendet habe.«

Bei dem Worte ›Chicanen‹ entstand ein aus Murren und Zischen gemischtes Geräusch und erhoben sich gleichzeitig die vier Herren: Hawley, Toller, Chichely und Hackbutt; aber während sich die anderen noch schweigend verhielten, platzte Hawley sofort mit den Worten heraus:

»Wenn Sie mich meinen, Herr Bulstrode, so fordere ich Sie und Jedermann sonst auf, mein Berufsleben der strengsten Prüfung zu unterwerfen. Was Christlichkeit oder Unchristlichkeit betrifft, so bedanke ich mich für Ihr süßlich salbaderndes Christenthum, und wenn sie von der Art reden, wie ich mein Einkommen verwende, so kann ich nur sagen, daß ich nicht den Grundsatz befolge, Dieben behülflich zu sein und Kinder um ihr rechtmäßiges Erbe zu betrügen, um dann die Religion zu unterstützen und mich zu einem scheinheiligen Freudenstörer aufzuwerfen. Ich rühme mich keiner überskrupulösen Gewissenhaftigkeit; ich habe bis jetzt noch keines besonders feinen Maßstabes bedurft, um Ihre Handlungen daran zu messen, Herr Bulstrode. Und nun fordere ich Sie nochmals auf, sich in befriedigender Weise über die gegen Sie erhobenen Anschuldigungen zu erklären, oder von Stellen zurückzutreten, an welchen wir Sie unter keinen Umständen als Collegen zu sehen wünschen. Ich sage, Herr Bulstrode, wir weigern uns mit einem Manne zusammenzuarbeiten, auf dessen Charakter nicht nur Gerüchte, sondern neuerliche Handlungen ein abscheuliches Licht werfen.«

»Erlauben Sie, Herr Hawley,« unterbrach ihn der Präsident, und Hawley der noch schäumte, verneigte sich halb ungeduldig gegen den Präsidenten und setzte sich, die Hände tief in die Taschen drängend, nieder.

»Herr Bulstrode, es scheint mir nicht wünschenswerth, diese Diskussion noch weiter zu führen,« sagte Herr Thesiger, indem er sich an den todtenbleichen zitternden Mann wandte. »Ich muß mich dem, was Herr Hawley als Ausdruck der öffentlichen Meinung ausgesprochen hat, insofern anschließen, als ich es durch Ihr christliches Bekenntniß für geboten hatte, daß Sie sich womöglich von schweren Beschuldigungen reinigen. Ich meinerseits würde gern bereit sein, Ihnen die Gelegenheit dazu zu bieten und Ihnen ein williges Ohr zu leihen. Aber ich muß bekennen, daß Ihre gegenwärtige Haltung schlecht zu jenen Prinzipien stimmt, mit denen Sie sich bisher identificiren wollten und die ich in Ehren zu halten verpflichtet bin. Ich empfehle Ihnen für jetzt als Ihr Seelsorger, der aufrichtig wünscht, daß es Ihnen gelingen möge, sich die öffentliche Achtung wiederzuerwerben, den Saal zu verlassen und die geschäftlichen Berathungen nicht länger aufzuhalten.«

Nachdem er einen Augenblick geschwankt hatte, nahm Bulstrode seinen Hut vom Boden auf und erhob sich langsam; aber er stützte sich dabei mit so unsicherer Hand auf die Stuhllehne, daß Lydgate überzeugt war, er sei zu schwach, um ungeführt hinausgehen zu können. Was sollte er thun? Er durfte es nicht mit ansehen, daß ein Mann aus Mangel an Unterstützung dicht neben ihm zusammensinke. Er stand auf, reichte Bulstrode seinen Arm und führte ihn so aus dem Saal.

Und doch war diese Handlung, die ein Akt milder Pflichterfüllung und reinen Mitleids hätte sein können, in diesem Augenblick unaussprechlich bitter für ihn. Es war ihm, als setze er seine Unterschrift unter seine Verbindungen mit Bulstrode, die er erst jetzt ganz in dem Lichte sah, in welchem sie Anderen erscheinen mußte. Er war jetzt überzeugt, daß dieser Mann, der sich zitternd auf seinen Arm stützte, ihn mit den tausend Pfund habe bestechen wollen und daß bei der Behandlung von Raffles in einer oder der anderen Weise eine in böser Absicht vorgenommene Uebertretung stattgefunden habe. Die daraus zu ziehenden Schlüsse ergaben sich nur zu natürlich einer aus dem anderen; die Stadt wußte von dem Darlehn, hielt dasselbe für eine Bestechung und glaubte, daß er es als eine Bestechung angenommen habe.

Der arme Lydgate sah sich, während er unter der furchtbaren Last dieser Enthüllung fast zu erliegen drohte, moralisch gezwungen, Bulstrode nach der Bank zu bringen, von dort Jemand abzuschicken, um seinen Wagen zu holen und die ganze Zeit zu warten, um ihn nach Hause zu begleiten.

Inzwischen hatte die Versammlung ihre Verhandlungen beendet und hatte sich in verschiedene Gruppen aufgelöst, welche eifrig über diese Angelegenheit von Bulstrode – und Lydgate discutirten.

Brooke, der bisher nur durch einzelne Winke mangelhaft von der Sache unterrichtet gewesen war und der es sehr unangenehm empfand, in der Unterstützung Bulstrode's ein wenig zu weit gegangen zu sein, ließ sich jetzt ganz au fait setzen und sprach sich gegen Farebrother mit wohlwollendem Bedauern darüber aus, daß die Sache auch auf Lydgate ein häßliches Licht werfe.

Farebrother war im Begriff, sich zu Fuß nach Lowick zurückzubegeben.

»Steigen Sie mit mir in meinen Wagen!« sagte Herr Brooke. »Ich will doch meine Nichte besuchen. Sie wurde gestern Abend von Yorkshire zurückerwartet. Sie wird sich freuen, mich zu sehen, wissen Sie.«

So fuhren sie miteinander, und Brooke gab in gutmüthigem Geschwätz der Hoffnung Ausdruck, daß kein ernstlicher Vorwurf Lydgate's Benehmen treffen werde – dieses jungen Menschen, bei dem er, als er ihm einen Brief von Sir Godwin gebracht, sofort erkannt habe, daß er sich weit über das gewöhnliche Niveau erhebe.

Farebrother sagte wenig, er war tief betrübt. Bei seinem scharfen Auge für die menschliche Schwäche vermochte er sich nicht der Zuversicht hinzugeben, daß Lydgate nicht, unter dem Drucke demüthigender Verlegenheiten, sich selbst untreu geworden sei.

Als der Wagen vor dem Gitterthor des Herrenhauses vorfuhr, ging Dorothea eben auf dem Kieswege vor dem Hause spazieren und kam den Ankommenden entgegen, sie zu begrüßen.

»Nun, liebes Kind,« sagte Herr Brooke, »wir kommen eben aus einer Versammlung, aus einer zur Berathung von Gesundheitsmaßregeln zusammengekommenen Versammlung, weißt Du.«

»War Herr Lydgate da?« fragte Dorothea, die von Gesundheit und Leben strahlte und ihr entblößtes Haupt von der Aprilsonne bescheinen ließ. »Ich möchte ihn sprechen und eine große Berathung mit ihm über das Hospital pflegen. Ich habe mich dazu gegen Herrn Bulstrode verpflichtet.«

»O liebes Kind,« sagte Herr Brooke, »wir haben schlimme Dinge gehört – schlimme Dinge, weißt Du.«

Da Farebrother sich nach dem Pfarrhause begeben wollte, gingen sie mit einander durch den Garten nach der Kirchhofspforte zu, und auf dem Wege dahin bekam Dorothea die ganze traurige Geschichte zu hören.

Sie hörte mit dem lebhaftesten Interesse zu und ließ sich die Thatsachen und Vermuthungen in Betreff Lydgate's genau wiederholen. An der Kirchhofspforte stand sie still und sagte nach einer kurzen Pause mit energischem Ausdruck zu Farebrother:

»Sie glauben doch nicht, daß Lydgate sich irgend eine niedrige Handlung hat zu Schulden kommen lassen? Ich will es nicht glauben; lassen Sie uns die Wahrheit herausfinden und ihn von jedem Verdachte reinigen!«



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