Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Joseph Zembrods Töchter

.Schwestern, die zusammen gehen, sind immer etwas Besonderes. Man sieht da ein beinahe geheimnisvoll fesselndes Spiel der Ergänzung, das vermehrt reizvoll wird, wenn die Mädchen schön sind; und wie es scheint, gehen wirklich auch nur schöne Schwestern gern zusammen, wohl in einem natürlichen Gefühl, daß in jenem Spiel ihrer jede vom Reiz der anderen gewinnt.

Die drei Schwestern dieser Geschichte aber waren in der kleinen, hellen Provinzstadt, in der sie mit ihrem Vater lebten, geradezu etwas auffallend Besonderes. Man sah auch sie beinahe nur miteinander; und war man gleich an ihren Auftritt gewöhnt, als gehörte es notwendig in den heimischen Bürgerbetrieb hinein, so empfand man ihn doch jedesmal wieder wie eine Erscheinung.

Damals war Babette, die Jüngste, neunzehn, Irene zweiundzwanzig und Luise vierundzwanzig Jahre alt, doch schienen sie herwandelnd wenig unterschieden und waren gleich groß und gleich schön; nahezu über Frauenmaß groß und fremdartig schön mit altklassisch geschnittenen, gelblich anschimmernden Gesichtern, dunklen, feucht glänzenden Augen und reichen dunklen Haaren, die sie entgegen der damaligen Tracht hinten in einem großen lockeren Knoten hielten. Wenn hier ein helfender Vergleich sich schickte, würde der Erzähler an Frauenbilder Anselm Feuerbachs erinnern. Etwas außer der Mode trugen sich die Gleichgekleideten auch sonst; doch nicht übereilig, sondern in einem gerade ihnen anstehenden Trotz eher gestrig und vorgestrig. Irgendeine Falte, eine Rüsche, ein Band, ein Schmuck war dabei wie aus Mutters oder Großmutters Schrank, oder wie von weither aus Spanien oder Griechenland.

Und sie kamen immer in gleichem Gang aus ihrer Gasse den weiten gepflasterten Marktplatz herunter. Wehend und wiegend, wie wenn sie zusammen vorn auf einem unsichtbaren Schiff stünden, das durch gelinde Wellen geht.

Auch das war hübsch, wenn man sie in der Gasse aus ihrer Haustüre treten sah. Es war eins der Häuser, wie sie in süddeutschen Duodezresidenzen der Barockzeit noch verstreut zu finden sind und damals den Räten und Honoratioren des Hofes als Wohnung dienten: Bescheiden und leicht ornamentiert, mit feingeschweiften Fensterstürzen, im Erdgeschoß mit bauchigen schmiedeisernen Fenstergittern, hellbrauner messingbeschlagener Haustür und Steinstaffeln davor. Aus diesem nicht großen Haus, das unter den gröberen Nachbarhäusern etwas leis Verschollenes an sich hatte, traten sie nacheinander heraus, als brächten sie etwas von seiner inneren Luft mit sich in den Tag.

Auch der Vater dieser drei Schwestern, Joseph Zembrod, war eine bemerkenswerte Figur. Er war der Musiker der Stadt, professioneller Kirchen- und Leichensänger. Sein Baß galt als der staunenswerteste an Fülle und Tiefe, und unter den ernsten stimmlichen Äußerungen seines Organs schütterten ein gewichtiges graues Haupt und ein breiter weißer Bart mit.

In Begleitung dieser respektablen Naturanlage spielte er auch unter den von ihm wohl beherrschten Instrumenten vorzugsweise die Baßgeige, die bei Kirchenkonzerten vertraut an seiner umfänglichen schwarzen Weste lag. In Schwarz ging er natürlich allezeit.

Ein ganz außerordentliches Ereignis war es ihm, wenn er bei seltenen Anlässen wieder einmal als Dirigent mit seiner Stadtkapelle aus dem Dunkel hervortreten konnte, in dem diese vormals bedeutende Körperschaft unter der Konkurrenz einer Militärkapelle eingeschlafen schien.

Auch als Musiklehrer hatte er gegen unterrichtende Eindringlinge schweren Stand, aber eingesessene Bürger schickten doch noch zu ihm ihre Mädchen und Buben, denen er ein freundlich umständlicher, aber vertrauenswürdiger Führer wurde; nicht ohne gerechtes Selbstbewußtsein konnte er von dem und jenem seiner Schüler sagen, er habe ihn mit der Kunst der großen, alten Meister vertraut gemacht.

Joseph Zembrod hatte es demnach nicht ganz leicht, und man wußte, daß er daheim keine Kuponschere im Sekretär hängen habe. Darum regte sich auch die öffentliche Meinung um ihn mit der Frage, ob er nicht besser daran täte, seinen drei Töchtern Staat und Wesen um einen ordentlichen Saum zu beschneiden. Aber er tat das Gegenteil und deckte deren Wandel mit all seiner verfügbaren Würde. Expreß begleitete er etwa die Mädchen am Sonntagmorgen zur Kirche und ging am Sonntagnachmittag mit ihnen in den Biergarten. Dabei legte er einen vornehmen Stolz um sich, als möchte er mit keinem der Gerechten ringsum tauschen.

In der Stadt war indessen auch Franz Schinacher, der Sohn eines ehrsamen kleinen Handwerkers, bis zu neunzehn Lebensjahren heraufgewachsen. Der hatte jetzt endlich seinen karg erwerbenden Vater so weit gebracht, daß er bei Joseph Zembrod Geige spielen lernen durfte. Der Vater hatte schließlich einen Freundschaftspreis ausgemacht für den Unterricht, und so stellte sich der Primaner mit seiner grünen Mütze und seinem grünen Tuchbeutel, der die in der Familie ererbte Violine barg, in dem Haus des Musikers ein.

Und eigentlich mit einer nicht bequemen Lüge im Gewissen. Denn nicht allein und nicht zuerst der Drang nach dem Geigenspiel hatte ihn hergebracht, sondern seine gereifte Jünglingsphantasie hatte es schon lang mit den drei schönen Mädchen zu tun und kreiste um deren Zauber her, wie die Motte ums Licht.

Da hatte es nichts geholfen, an den Ecken ihrer zu warten und dem aufgewehten Duft ihres Vorbeigangs in den Weg zu laufen. Auch nicht von einem Fenster des eigenen Hauses das Ereignis mit dem Fernrohr heranzuziehen und deutlich zu fassen.

Jetzt stand er am Ziel. Oben in einer hellen Stube vor dem schwarzen Leibgewölbe Joseph Zembrods, der ihm die Hand gab und in seinem geräumigen Grundbaß ihn begrüßte: »So, bist du da, Franz Schinacher! Das ist recht, daß du, wenn auch schon nimmer ganz jung und in der elften Stunde, zu unserer edlen Kunst kommst.«

Auf den etwas breit gelagerten Redesatz, dünkte dem neuen Schüler, brauche er nicht zu antworten; und richtig, in der Fensterecke standen auch gleich die drei Töchter beieinander und zogen ein weißes Stück Wäsche aus. Das legten sie in einen Korb ab, kamen herzu, gaben ihm auch mit vorgestrecktem Arm energisch die Hand und sagten: »Grüß Gott, Herr Schinacher.«

Zuerst Babette, dann Irene, dann Luise. Irene hielt seine Hand länger als Babette und Luise länger als Irene. Das fiel ihm auf und blieb auch in ihm liegen, als er gleich darauf in der nächsten Stube neben dem Lehrer stand, der seiner Aufmerksamkeit mit einer Handbewegung ein stummes, aber zur Bewunderung einladendes »Hier!« darbot.

Der Raum hing und stand ringsum voll allerhand Instrumenten, Violinen, Cellos, Bässen, Flöten, Gitarren, neuen und alten; und er glich einem kleinen Musikmuseum, in das sein Besitzer seit vielen Jahren stolz verliebt sein mußte. In der einen Ecke stand sogar eine vergoldete Harfe und an der einen Wand ein Spinett; an der anderen Wand aber war ein schwarzer Stutzflügel zum Spiel bereit aufgeschlagen.

Franz Schinacher geriet wirklich in feierliches Staunen, als hinge die Stube mit den Instrumenten auch voll geheimer Klänge. Er fühlte in diesem Augenblick die Gestalt Joseph Zembrods ehrwürdig neben sich stehen, und beinahe hätte er zu ihm sagen mögen: »Meister.«

Dann begann die erste Stunde. Der Lehrer ließ sich seine Geige zeigen, probierte sie mit ein paar Strichen und begutachtete sie befriedigt: »Ein gutes, altes Stück.«

Der Schüler wurde einigermaßen in sich verlegen, als er bemerkte, daß beim Hereingehen die Türe halb offen stehen geblieben war und die drei Schwestern wieder draußen in der Helle des Fensters weiße Wäsche auszogen. Doch fand er im Hinterhalt einen Trost darin, sich nicht mehr als blöder Anfänger vor den Zuhörerinnen bloßstellen zu müssen, dieweil er schon daheim aus eigenem sich glücklich versucht hatte und nun gleich zur Probe mit einer nicht ganz kunstlosen Phantasie beginnen konnte.

Aus schüchternem Anfang zu fröhlicher Kühnheit wachsend geriet das Paradestück so wacker, daß der Lehrer, davon überrascht, ihm mit einem kräftigen Lobspruch die Hand auf die Achsel legte. Auch draußen hatte man gern zugehört; das spürte er und fing mit einem Blick durch die Türe das Bild dreier ihm zunickender Mädchenköpfe auf.

Trotzdem ging der Unterricht dann noch einmal des gründlichen Aufbaus halber vorn beim Abc an und ließ keinen Raum mehr, sich mit besonderen Gaben zu zeigen. Aber nach der Stunde hatte Franz Schinacher mit dem Lehrer doch das gesunde Gefühl, etwas Hoffnungsvolles geleistet zu haben.

Der Abschied vollzog sich wieder durch das andere Zimmer hin. Der Händedruck der drei Schwestern lag ihm noch auf dem Heimweg feinwirkend in seiner Hand, und der Geruch von Blumensträußen, der in dem lichten, ziervollen Raum wehte, wich nicht um ihn weg.

 

Bald war der glücklich Eingeführte nicht nur dem Meister Joseph Zembrod sein bevorzugter Schüler, sondern auch den drei Töchtern ein wohlgelittener Hauskavalier. Der Lehrer hatte ihm schon an Stelle des grünen Tuchbeutels einen Geigenkasten geschenkt, und nach den Stunden war aus dem kurzen Abschied Weile um Weile ein längerer Aufenthalt geworden, dann ein Kaffeesitz, ein Spiel, eine Vorlesung, eine gemeinsame Arbeit, als da sind Wollwickeln und Notenschreiben.

Derart erging es ihm nach Wunsch. Der frische, auf der Sonnenseite gediehene Jüngling gefiel den Mädchen so wohl, daß bald jene leicht verliebte Luft mit in der Stube war, die schon heimliche Verwegenheit in sich trägt.

Zunächst war ihm das ein schmeichelhaft ausgeglichener Zustand, und er labte sich an der allgemeinen Wonne, die ihn aus den drei weiblichen Gefühlsquellen umfloß. Auch er von einer Seite liebte die schöne Dreifaltigkeit in einem ungeteilten, schmiegsamen Zug.

Aber mit der Zeit schieden sich aus dem schwebenden Nebel dahin und dorthin eine besondere Beobachtung, ein Vergleich, die Entdeckung, daß auch in jedem dieser sich scheinbar wie ein Ei dem anderen gleichenden Mädchen und wie in eine Melodie gestimmten Frauentemperamente ein eigenes Wesen Herberge hatte.

Auch waren sie, wenn man länger mit ihnen umging, wirklich nicht mehr eines Alters.

Er stellte so allmählich fest, wie sich bei Luise, der Vierundzwanzigjährigen, schon leise Falten unter den etwas übergroßen Augen und am Mund hinzogen, und wie sich eine erblaßte Müdigkeit über sie legte. Verborgen müde und scherzhaft gab sich auch ihre Art, und es schien, als sei sie schon von einem Erlebnis zurückgelassen worden.

Irene, die Zweiundzwanzigjährige, war ein ruhig und in sich gefaßtes Edelmädchen, von hoher, aus innerer Würde gehobener Schönheit. So stand sie auch wie eine ausgleichende Mittelfigur zwischen der ins Schmelzen geratenen Älteren und Babette, der Neunzehnjährigen.

Das war die Jüngste auch im Schlag. Ein gern vergnügter, feinrassiger Zierfink, der aber doch immer wieder am reizvollsten sich darstellte, wenn er für Stunden und Tage in jenen der ganzen Schwesternschaft eigenen verschleierten Zustand der Traumhaftigkeit verfiel.

Auch seine Beziehungen zu den dreien verfielen so nach und nach einer Spaltung, wenngleich diese sich anfangs nur hin- und herspielend äußerte. Im weiteren Verlauf jedoch fächerten sich ihm die Neigungen ziemlich deutlich so auseinander, daß er Luise eine seelische Sympathie, Irene seine bewundernde Freundschaft zuwandte; an Babette aber hatte sich seine Mannbarkeit verfangen.

Damit waren freilich auch schon die Keime zu allerhand bittersüßen Mischungen und der Anstoß zu einer ernsthaften Wendung der Dinge in die ungetrübte Gemeinschaft zerstreut. Zumal von den Mädchen her, wie es ja oft geschieht, die Wechselwirkungen anders eintrafen, als die Strahlungen von ihm ausgingen.

Nur auf der Mittellinie, in dem Verhältnis zu Irene, liefen sie wohlverglichen zusammen, indem sich die gegenseitigen Ansprüche in einem etwa schöngeistig zu nennenden Austausch der hüben und drüben erworbenen Lebensschätze erfüllten und also von vornherein auf die pulverfreie Seite überlegten. Dabei fand sich der gescheite und rundsichtige junge Mann persönlich auf die ehrenvolle Stufe einer klaren Freundschaft gestellt und der Partnerin vornehm verbunden.

Luise von der älteren Seite her bemutterte ihn und hieß ihn ihren Buben. Er traf sich überall von ihrer gefühlvollen Sorge umtan, möglichst in ihre körperliche Nähe gerückt und unter schwärmerisch teilnehmende Blicke gestellt. Sie streichelte ihm die zufällig daliegende Hand in sanft wiederholten Strichen und legte einmal in einer ganz weichen Anwandlung still ihren Kopf darauf. Diese schmiegsamen Zärtlichkeiten wirkten auch in das Blut des Jünglings. In der Versenkung solcher Viertelstunden vergaß er, daß die an dem hingebenden Frauenherzen genährten Regungen nachher und nur ungezähmter um Babettes Bild herflatterten.

Bei dieser Jüngsten aber gelang es ihm nicht, über den Rang eines manchmal willkommenen, manchmal unwillkommenen Spielkameraden vorzurücken. Auch wenn er sich zum Knecht machte, wurde er zum Dank dafür doch nur mit Scherzen beworfen. Er spürte in heimlich brennender Eifersucht, daß die Geliebte mit irgend etwas anderem angefüllt sei und daß ihre Seele in fremden Tänzen kreise. Nur da und dort fiel an deren Rand die überschüssige Flocke einer Laune für ihn ab, die ihn dann bloß ungenügsam beglückte, weil er nicht über das Gefühl hinauskam, als Ersatzmann eines Unbekannten zu figurieren.

Manchmal indes sprang ihn doch aus ihr das Weibchen in einer natürlichen Lockung an. Wenn er mit einem Schwall frischer Luft in die Stube kam, witterte sie nach ihm und reizte ihn zu einer derb greifenden Rauferei, in der sie sich besiegen ließ und, schwach geworden, auch einer heißeren Liebkosung nicht entgehen konnte. Ein andermal streckte sie eine Nichtigkeit, die sie ihm versprach, hoch empor, daß ihr der Ärmel des Hauskleides weit zurückfiel. Der Preis des Ringens war dann nicht nur das eroberte Ding, sondern für eine schwüle, schmeichlerische Minute der heruntergezogene flaumbehauchte, runde Arm. Oder sie bot ihm eine gestielte Kirsche von ihren Lippen zu beißen. Setzte es dabei einen saftigen Kuß ab, hielt sie ein paar Augenblicke genießerisch daran fest: »Das schmeckt gut!«

Aber dann war's gleich wieder, wie wenn in ihre moussierende Erregung etwas hinunterfiele, und halb noch seufzend, halb schon gleichgültig besann sie sich: »Ach, wenn du nicht so gar jung wärst …«

So wurde er immer wieder jäh und nüchtern seiner versuchsweisen Liebhaberrolle entsetzt und sah das gefährliche Mädchen wieder ganz in den Garten abgewendeter Phantasien entschwinden.

 

Inzwischen reifte der geigende Schüler rasch zu einer ansehnlichen Höhe eigener Künstlerschaft. Joseph Zembrod selber war von diesem, wie er sagte, in seinem vieljährigen Unterricht noch nicht dagewesenen Aufstieg froh mitgetragen und öffnete alle Kräfte seiner reichen Meisterseele dem liebgewordenen Jünger. Diesen hob jedoch noch eine andere Macht so schön empor, denn die Musik wurde ihm zur Huldigung an die drei Schwestern, und im Lauf der hier erzählten Dinge wob sie der Schmerz um das Vergebliche zu ergreifenden Werbungen vor der verschlossenen Liebeskammer der Jüngsten.

Aber auch da erfuhr er, wie das Echo nicht von der erhofften Seite zurückkam. Wohl fiel ihm nach der Stunde manchmal ein frisches Lob aus Babettes Mund zu, und hin und wieder setzte sich das geliebte Mädchen zu einem freien Nachspiel ans Klavier. Doch was da herauskam, war nicht dem Drang seines beschwerten Wesens entsprechend; er wurde von der Mitspielerin beinahe immer auf die heitere Seite von Walzern und sonstigem leichten Schaum hinübergezogen, von wo aus ihm dann um so gewisser der nicht einzufangende Sinn des Mädchens wieder entflügelte.

An dessen Statt sah er während der Stunde um so öfter durch die Türe des Musikzimmers draußen in dem hochlehnigen, mit weißen Nägeln umsäumten Wachstuchsofa, unter dem Ölbild der Mutter Zembrod Luise sitzen. Ganz im Horchen versunken und immer wieder mit weitem Wimperaufschlag daraus auftauchend.

Und in Irene fand er für seine fünf großen Tondichter eine ebenbürtige ernste Genossin, in deren Gemeinschaft er sich dann und wann aus der Verworrenheit seines Gemütszustandes überlegen zu erheben vermochte.

Jede der Schwestern besaß unter ihren schon im ganzen eigenartigen und sorglich gepflegten Habseligkeiten je eine kleine Holztruhe, aus der Biedermeierzeit und kunstreich eingelegt, in denen sie ihre besonderen Raritäten verwahrten.

So hegte Luise empfindsame Andenken an ihre schöne Mutter, deren Papilloten, auch eine goldgefaßte, dünngeflochtene Haarkette, Spitzentüchlein, Riechfläschchen, dann ein Stammbuch, dessen Blätter einzeln in einem flachen, blumenbemalten Pappkästchen aufeinander lagen, dann aus ihrer eigenen Mädchenschaft in farbigen Seidenbändern gehaltene Briefpakete und verdorrte Blumen.

Irenes Schätze erwiesen eine Vorliebe für Silhouetten, Miniaturen, Daguerreotypen, Almanache und Handschriften von Dichtern.

Wenn dagegen Babette in ihre Truhe griff, klirrte es von Metall und Glas und Stein. Sie erfreute sich an reichem Schmuck, dessen phantastisches Gewürfel sie gern vor dem Spiegel an sich selber spielen ließ.

Das waren auch für ihn geheim verführerische Schaustellungen, die ihm dann die Grenzen seiner Nebenrolle um so schmerzlicher zum Bewußtsein brachten. Daran änderte sich im Grund nichts, als er dieser Leidenschaft des Mädchens zu Diensten daheim zum Gauner wurde und eine seiner Mutter entwendete goldgefaßte schöne, große Mosaikbrosche ihr schenkte, um dafür eine der flüchtig aufreizenden Gunstbezeugungen einzutauschen.

Eines Tages hatte Babette in ihrer Truhe einen neuen Ring mit einer schönen Perle in mattem Gold. Sie zeigte ihm den Reif unter halber koketter Lüftung eines geheimnisvollen Glücksgefühls, probierte ihn wohlgefällig am Finger und drückte das Kleinod, ehe sie es wieder barg, an die Lippen.

Er wußte, daß er nur etwas Ungeschicktes vorbringe, aber er sagte es doch: »Perlen bedeuten Tränen.«

Sie aber warf sich halb übermütig, halb ergeben dagegen auf: »Vielleicht; aber auch Tränen sind schön.«

Schon am anderen Tag wurde ihm die aufgewühlte Unruhe durch eine entscheidende Offenbarung getroffen.

Als er im Dunkel nach dem Abendessen den Schwestern noch einen Besuch machen wollte und gerade die Steinstaffel hinaufging, kam aus der Haustüre ein Leutnant heraus.

Er fühlte kühl, wie dieser an der Begegnung in Verlegenheit geriet und um so straffer gerafft die Steinstaffel hinunterging. Als er selber unwillkürlich geräuschloser als sonst in die Haustüre getreten war, sah er im Schimmer eines Flurlämpchens Babette oben um die Biegung der Stiege entschwinden. Sie hatte ihn offenbar nicht bemerkt.

Mit jäh gefrorenem Blut stand er in dem trüben Schatten des Flures und mußte sich gelähmt an die kalte Wand lehnen. Aller Kraft und Sinne entleert ergab er sich willenlos dem Zusammenbruch seiner Gedanken.

Erst allmählich und dämmernd kam ihm die Beobachtung, daß ihm gerade gegenüber die braune Türe war zu einem als Gastzimmer ausgestatteten, sonst unbenutzten Parterregemach; und er bemerkte weiter an einem schmalen Spalt, daß die Türe beim letzten Zumachen nicht ganz ins Schloß geklappt war. Mechanisch von der Beobachtung gereizt und überlegend, daß drinnen hinter der Türe ein Sofa stand, ging er hinein und setzte sich dort in der durch die geschlossenen Läden verdichteten Finsternis schwer ab.

Als die erstarrten Empfindungen wieder aufquollen, da war es zuerst nicht der Gedanke an den selber erlittenen Schlag, sondern ungemeine Angst vor einer Katastrophe, die Babette bedrohte. In der kleinen Stadt konnte kein Bürgermädchen sich mit einem Leutnant einlassen, ohne in Verruf zu geraten. Erst jüngst war wieder die Geschichte einer Wirtstochter in anrüchigen Umlauf gekommen, die, aus einer solchen Liebschaft mit einem schweren Pfand beladen, hatte verschwinden müssen.

Trotz des hin- und herflatternden und manchmal kühnen Spieles der Sinne war ihm das geliebte Wesen doch ein hohes, unantastbares Idol geblieben, das er jetzt durch einen fremden, kalten Verführer in die Gefahr gebracht sah, befleckt und geschändet zu werden. Ein ritterlicher Trieb stellte sich in ihm auf, als gälte es den Schutz einer Schwester, und ein bitter selbstbewußter Entschluß appellierte an eine Abwehr außerordentlicher Art. Der Leutnant konnte ihm die Rechenschaft nicht verweigern.

Vielleicht aber war das Arge schon geschehen? Jener Ring, und die offene Türe, und das finstere Zimmer, und das Sofa … Auch ein kaum vernehmlicher Duft war noch nicht ganz verweht in dem Raum, es war der Wohlgeruch Babettes. Und er griff neben sich ein kleines zerknülltes Batisttüchlein, das den Duft von sich gab …

Seine Einbildung stürzte in schwarze Schrecken, er knickte zusammen und weinte uferlos in das weiche Gewebe.

Da stand auf einmal, ein Kerzenlicht in der Hand tragend, eine Frauengestalt vor ihm. Er war nicht überrascht und empfand die Gekommene zuerst nur leicht und unverkörpert wie eine tröstliche Erscheinung.

Dann sah er deutlicher, es war Luise.

»Was machst du da, Franz? Wie siehst du aus!«

»Ja, ich bin's, erschrick nicht.«

»Ich wollte das Haus schließen und hörte etwas herinnen … Du hast geweint, Franz?«

Da brachen in ihm wieder die schluchzenden Stöße auf. Er fiel vor Babettes Schwester in die Knie, warf seine Arme um ihr weiches Abendkleid und drückte sein Gesicht hinein.

Luise beugte sich schweigend über ihn herab und legte ihre freie Hand auf seinen Kopf, bis er still wurde. Dann hob sie den dankbar Willenlosen auf, führte ihn in die Sofaecke, in der er gesessen war, löschte die Kerze aus und setzte sich zu ihm hin. Wieder nahm sie seinen Kopf streichelnd in den Schoß und sagte manchmal leis und barmherzig: »Mein armer Bub!«

Von dem Geschehenen fiel kein Wort. Luise wußte das Unausgesprochene. Nur sagte sie immer wieder: »Mein armer Bub!«

Ihre zarte Güte löste allmählich seinen Schmerz in ein mild eingewiegtes, geborgenes Gefühl auf.

»Luise, wie tust du mir wohl!«

In der Dunkelheit wirkte schließlich auch der warme atmende Mädchenkörper auf den daran hingeschmiegten Jüngling, ohne dessen Vorstellung zu einer Trennung des traumhaften Zustandes und der Wirklichkeit zu bringen.

Plötzlich rankte er sich an ihr empor und überfiel ihren Mund mit Küssen; und unbeherrscht küßte er ihr Gesicht, ihren Hals, ihre Arme, den Ausschnitt der Brust, und bedrängte sie mit dem Ungestüm seines ausgebrochenen Liebesstroms. Und das Mädchen ließ sich von seinem Durst auftrinken und schmeichelnd aus ihrer eigenen Trunkenheit wieder hervorlocken.

Draußen ging die Haustüre.

»Der Vater!«

Der Baß Joseph Zembrods brummte etwas wie in einem Ärger über »vergeßliche Frauenzimmer«. Dann wurde die Haustüre energisch zugeschlossen und die schweren Schritte des Mannes hallten den Flur hin und knarrten auf der Stiege.

»Jetzt mußt du gehen, Bub!«

Das Mädchen war plötzlich wach und ernst geworden, und atmete auf, als ob die Störung eine Rettung gewesen wäre. Sie faßte den Abschied in ein paar still gegebene Liebkosungen und aufrichtende Worte zusammen, schloß die Haustüre wieder auf und entließ ihn.

Da sie das Licht nicht wieder angezündet hatte, sah er nicht einmal mehr ihr Gesicht.

 

Das so im Dunkel vorgegangene Erlebnis hing dem Fortgeschickten unverebbt und schwül in Seele und Leib, und da es eigentlich ein kaum zum Bewußtsein gekommenes Tauschspiel war, blieb am Ende des inneren Austrags gegen die hingegebene Luise nicht viel mehr als eine leicht schmerzhafte Dankbarkeit übrig, während das davon hochangefüllte Verlangen nur inbrünstiger nach dem Besitz der für immer entwichenen Babette rief. Es war, als sprängen immer wieder heiße Quellen in ihm auf, die gegen das Mädchen hinspülten und ihn selber mittrugen.

Es war auf der anderen Seite aller Mut und alle Spannkraft aus ihm genommen, als wäre der Antrieb aus seinem Leben gebrochen und das Mark aus seinem Gebein geronnen. Er dachte, so zerfließend, auch nicht mehr daran, dem Leutnant in den Weg zu treten, und gab seine Vorstellung ungehemmt der Pein preis, wie sich an dem verfallenen Mädchenopfer das Schicksal erfülle.

Manchmal sah er als lichte, klare Helferin Irenes Gestalt vor sich. Es war auffallend, er dachte öfter als früher an sie und wartete darauf, ob nicht sie ihn irgendwie rufe und das ungeheure Wirrsal schlichte.

Er von sich aus brachte es nicht mehr fertig, hinzugehen, und unter tief aus dem Herzen geholten Dankbezeugungen schrieb er an seinen Lehrer einen Brief, in dem er sich mit der notwendigen Vorbereitung auf die fürs Frühjahr angesetzte Maturitätsprüfung zeitweilig entschuldigte. Feig trug er den Brief einen Tag in der Tasche herum, dann warf er ihn in den Postkasten.

In dieser Niederung dämmerte sein Gemüt schon wochenlang hin, und was ihm an äußerem Zusammenhang mit den drei Schwestern noch blieb, war die alte, jetzt wieder aufgenommene Gewohnheit, aus seiner Kammer mit dem Fernrohr ihren Kirchgang zu betrachten. Manchmal, wenn er sie von ferne kommen sah, nahm er auch sein Instrument ans Kinn und schickte den unten Vorüberwandelnden einen Gruß zu, dessen Wirkungen nachzufühlen ihn in wogende Unruhe versetzte. Auch hütete er noch von jenem Abend her das Batisttüchlein Babettes, das seinen Duft inzwischen ganz verloren hatte und ein kaum mehr weißer krümeliger Fleck geworden war.

Es war von einem nassen Spätherbst, der ihm zu Ehren sich melancholisch über die Erde hineinhängte, über Nacht harter Winter geworden mit Frost und Schnee. Diese plötzliche Wetterwende, sagten die Leute, werde wieder den einen und anderen putzen.

Und eines klirrend kalten Morgens brachte Vater Schinacher vom ersten Ausguck unter der Haustüre die Nachricht zum Kaffeetisch herein, daß Joseph Zembrod nächtens gestorben sei. Vom Stadtkirchenturm läutete auch schon das dünne Schiedglöcklein, und betäubten Sinnes stand Franz mit den anderen auf und betete das Totenvaterunser: »Herr, gib ihm die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihm. Herr, laß ihn ruhen in Frieden! Amen.«

Dann aber lief er plötzlich wie unter einer feierlichen Erleuchtung aus der Stube hinauf in seine Kammer und kam mit der Geige zurück. Darauf spielte er vor der stumm ergriffenen Familie aus der Matthäuspassion von Sebastian Bach.

»Das hatte er gern«, sagte der Spieler, als er sich wieder selber stumm ergriffen unter den anderen befand. Dann ging er, um in keinen Auftrieb weiterer Unterhaltung zu geraten, mit der Geige in seine Kammer zurück.

Die zwei Tage bis zur Beerdigung drückten steinschwer. In hundert Vorstellungen wandelten die eingebildeten Vorgänge in dem Totenhaus durch ihn hin; die Tränen jagte es ihm in die Augen, wenn er die verwaisten Schwestern in ihrer Stube zu sehen glaubte; und als er hinten herum erfuhr, die Leiche sei schön und unverstellt in dem Musikzimmer aufgebahrt, hob ihn ein pathetischer Schmerz empor, als müßte er für die dort um den Meister gesammelten Instrumente eine Totensymphonie dichten.

Es zog ihn gewaltig, hinzugehen, dagegen zog es ihn nur auch wieder verzagter zurück. Er blieb weg. Aus dem ganzen Inhalt seiner Sparkasse aber bestellte er beim Gärtner einen ansehnlichen Lorbeerkranz und ließ ihn ohne Angabe des Absenders hintragen. Auf die veilchenblaue Schleife ließ er in goldenen Buchstaben die Widmung drucken: »Von einem dankbaren Schüler.«

So kam die Stunde, daß Vater Schinacher und Sohn schwarz angezogen zusammen unter dem Auflauf der trauernden Stadtgemeinde in der Gasse vor dem schmerzlich vertrauten Hause des toten Lehrers standen, das jetzt merkwürdig unter seinem verschneiten Mansardendach noch leichter und zierlicher dastand als sonst.

Es gibt einen Grad des Schmerzes, da dessen Gewicht gleichsam zu schwer geworden und in der Seele untergesunken ist. Diese ist nun von einer ungewohnten kühlen Leichtigkeit und flügelt entlastet und seltsam deutlich beobachtend über die traurigen Geschehnisse hin.

So sah er das Haus und die Menschen. Er sah, wie der Pfarrer, der Mesner und die Ministranten kamen und hineingingen, ein paar Wolken Weihrauch der Kälte draußen überlassend.

Der Sarg schwankte hinter den wiederkehrenden Klerikern aus der Haustüre, und oben mitten darauf lag sein Lorbeerkranz, den er an der Schleife erkannte. Andere, selbst größere Kränze hingen wie minderen Ranges um den Sarg her.

Wer hatte das so angeordnet?

Die Frage rührte ihn doch wieder stark, und da kamen hinter dem Sarg auch die drei Schwestern in schwarzen Gewändern und verschleiert. Sie gingen leicht gebeugt und doch hoch und vornehm gefaßt, als wollten sie in dieser letzten Stunde der würdevollen Lebensart des gestorbenen Vaters vor der Welt noch einen Ehrengang tun.

Ehe der Zug sich in Bewegung setzte, schwenkte vorne hinter dem Kreuzträger die Stadtkapelle ein. Es waren nur noch sieben Mann, darunter über die Hälfte schon wackelige Altbürger. Aber sie fingen an, den einen Beethovenschen Trauermarsch zu spielen, mit dessen majestätischem Pomp sie in besseren Tagen unter Joseph Zembrods Führung manchen Notabeln der Stadt hinausgeleitet hatten. Jetzt hatten sie für den toten Direktor noch einmal ihre verkrümelte Gloria aufgeboten und bliesen in rührender Anstrengung an dem Tonwerk, dessen gewaltige Schönheit dennoch nie so tief ergreifend zum Ausdruck kam, als hier, wo sie in brüchigen Stücken ins Ohr fiel, während das Glockengeläute gedämpft und wie eingewickelt über die verschneiten Dächer herkam und sich in die Musik mischte.

Zwischenhinein huben die Leichensänger mit lateinischen Liturgien an. Aber auch unter ihrer Kunst hatte die Verwaisung einen Schaden angerichtet. Wohl war jetzt für den fehlenden vierten Mann Ersatz da, aber nur um der Trauergemeinde nahezuführen, welche Kraft mit dem Baß Joseph Zembrods verloren war. Der Choral schnitt hoch und dünn in die Luft, als wären seinem Schifflein die tragenden Wellen entzogen.

Auch der Gottesacker auf der Höhe war in Schnee gehüllt, und das Grab war ganz oben geschaufelt, von wo aus man das weiße Hügelgelände und die Stadt überschaute.

Franz Schinacher kam in der Männerschaft, selber ungesehen, gerade den drei Schwestern gegenüber zu stehen. Sie hielten sich hoch und vornehm wie beim Leichenzug, doch als der schwere Sarg an den rasselnden Seilen in die Erde gelassen wurde, beugten sich von rechts und links Luise und Babette, bitterlich weinend, gegen Irene hin, die allein gefaßt und aufgerichtet blieb und den gebrochenen zwei Mädchen die Arme um die Schultern legte.

Der große Anblick griff die ganze Trauergemeinde an, und des Priesters Gebetsworte wurden tiefer bewegt als sonst. Als schließlich die Stadtkapelle und die Leichensänger dem abgeschiedenen Genossen noch gerührt und rührend das letzte Ständchen brachten, fühlte sich auch der unseligste unter den Zuschauern für einen erhabenen Augenblick aus seiner Zerrüttung gelöst.

Als Letzter ging Franz Schinacher vom Grab seines Meisters. Er warf seinen eigenen Kranz, der unter den anderen nebenan auf dem Erdhügel lag, als den einzigen auf den Sarg hinunter und wartete, bis der grüne Lorbeer unter den Schollen der Totengräberschaufel verschwunden war.

Seltsam und fast als Unrecht empfand er auf dem Heimweg seine verworfenen Gefühle sich vollends klären, sein ungleiches Gefühl entmischte sich und blieb leicht. Immerzu sah er die drei schwarzen Schwestern, wie sie zusammen auf der Höhe des Gottesackers gestanden waren, und es wurde ihm schon beinahe ein aller Erdennot entrücktes Bild daraus.

Am anderen Tag war er so weit in sich gediehen, daß er die Trauernden besuchen wollte. Es war nur mehr eine schamhafte Verlegenheit aus der eigenen wochenlangen Schwäche, wenn er auf halbem Wege wieder umkehrte.

Am dritten Tag bekam er eine schwarzgeränderte gedruckte Danksagungskarte, von Irenes Hand adressiert.

Nach weiteren vierzehn Tagen hieß es, ein Bruder sei aus Amerika gekommen und nehme die Schwestern mit hinüber über den Ozean.

Solch eine Nachricht war zu jener Zeit in einer süddeutschen Kleinstadt eine aufsehenerregende Sache. Amerika war damals noch in der Phantasie der Bürgerschaften das dunkle, abenteuerliche Land der Auswanderer.

Als Franz Schinacher davon hörte, war es ihm deutlich, als ob sich ihm selber etwas unbestimmbar Feines und Zärtliches verflüchtige und in seinem Gefühl sich etwas Weites und Fernes auseinanderrücke, das nicht mehr zu schließen sein werde.

Nachmittags bot der Ortsscheller schon den »Verkauf des Hauses und des Hausrats aus dem Nachlaß des verstorbenen Musikdirektors Joseph Zembrod« auf der Gasse aus. Da kam ihm, als er die lange Auktionsliste laut und dröhnend vom Marktplatz herauf in seine Kammer rufen hörte, wieder das Weinen um sein armseliges Unvermögen, die vertrauten Kostbarkeiten vor der Preisgabe an grobe Hände zu bewahren.

Als der Auszug stattfand, hielt ihn die Schule; sonst wäre er gewiß noch in einem letzten Herzensdrang an die Bahn gelaufen. Er wußte indes einen still gefaßten Brief in den Händen der Schwestern, und als er heimkam, lag eine Antwort da, unterschrieben von Luise, Irene und Babette, die ihren liebsten Freund baten, ihnen und dem Vater ein gutes, ungetrübtes Andenken zu bewahren.

Auch das Haus in der Gasse war verkauft, die schönen, bauchigen Fenstergitter und steingerahmten Fenster wurden ausgebrochen. Dafür wurden große viereckige Schaufenster eingesetzt. Ein Spezereihändler richtete sich dahinter ein.

Von den drei Töchtern Joseph Zembrods erhielt Franz Schinacher noch einen kurzen Gruß aus Neuyork. Dann hörte er nichts mehr.

Er konnte sich auch nie eine Vorstellung davon machen, was aus ihnen geworden und wo sie lebten.

Irgendwo in – – – Amerika.


 << zurück weiter >>