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Moderne Literatur und Jungarbeiterschaft

Die Septembertage des Jahres 1896 sind bedeutungsvoll für die geistige Entwicklung Fritz Eberts geworden. In Gotha auf dem sozialdemokratischen Parteitag erlebte er eine Kunstdebatte, die ihn mit dem neuen naturalistischen Deutschland in unmittelbarste Berührung brachte. Hier eröffnete ihm die geistvolle Rede Edgar Steigers, des nachmaligen Mitarbeiters des »Simplicissimus«, tiefste Einblicke in das neue Wesen und die neuen Ausdrucksmittel der aufstrebenden naturalistischen Richtung. Dem Erkünstelten, Konstruierten in den Schöpfungen der alten Kunst, ihrer unwahren, auf Stelzen einhergehenden Diktion stellte Steiger die naturwahre Milieuschilderung Zolas, die feine psychologische Analyse Dostojewskis und die aus dem inneren und äußeren Leben selbst herausgeborene Sprache des jungen realistischen Deutschlands gegenüber. Blind waren die Augen der alten Arbeiterführergeneration noch für die den wirklichen Charakter eines Gegenstandes widerspiegelnden naturalistischen Details. Ein konventioneller »Idealismus« hatte kein Ohr für die elementaren, derb-leidenschaftlichen Äußerungen der Liebe gehabt. Unendlich viel Schillersche Deklamation und falsche romantische Empfindelei waren in die seelischen Vorgänge einfacher Menschen hineingelegt worden. Die Nachfahren Schillers »bildeten« nicht, sie redeten.

Die älteren deutschen Arbeiterführer verstanden nicht, daß in der modernen Literatur die kämpfenden Arbeiter nicht in dem gewöhnlichen heroischen Kostüm der Bühne herumgeführt wurden, daß die Leidenschaften der Arbeiter stark triebhaft waren und daß sie nicht die erhabene Sprache der Schillerschen Dramen, sondern die der robusten Straße redeten. Sind die menschlichen, allzu menschlichen Gestalten der Hauptmannschen Weber noch Helden? so fragten sich diese Arbeiterführer. Und aus ihrem Herzen heraus kanzelte Wilhelm Liebknecht in Gotha den großen Bahnbrecher des deutschen Naturalismus öffentlich ab. Hauptmann ist, so betonte er auf dem Parteitage, nicht der große Mann, als der er hingestellt wird, es ist sehr viel Plattes, Geschmackloses, Häßliches in seinen Schriften, und vor allem ist nichts Revolutionäres darin, nein, Spießbürgerlich-Reaktionäres zum größten Teil. Diesen Ausspruch tat der »Alte« in einem Augenblick, als Hunderttausende deutscher Arbeiter von dem revolutionären Sturmwind, der durch die Hauptmannschen Weber brauste, erfaßt wurden.

Für die Art, die menschlichen Dinge zu sehen, wie sie vom jüngsten Deutschland erschaut wurden, fehlte dem ›Alten‹ jedes Verständnis, Dieses literarische Deutschland war ihm einfach ein Produkt der Dekadence, der Fäulnis der kapitalistischen Welt. Es war nach seiner Meinung von einer krankhaften, entarteten Leidenschaft besessen, von einer prickelnden Lust, alle sexuellen Dinge auszumalen. Die »Mutter Berta« Wilhelm Hegelers, die in der sozialdemokratischen »Neuen Welt« abgedruckt war, zählte er fast zur pornographischen Literatur. Bissig erklärte er in Gotha: »Die Schweinerei gehört nicht in die ›Neue Welt‹ hinein.«

Die junge Generation um Ebert wollte die Welt nicht mehr in künstlicher Theaterbeleuchtung sehen, sondern in dem hellen, scharfen Licht des Tages. Ebert hat von den »Jungen« der sozialdemokratischen Bewegung literarisch manche wegweisende Anregung erhalten, die »Jungen« aber waren erklärte Parteigänger des emporgekommenen Naturalismus. Die Wortführer der »Jungen« in Berlin, Wilhelm Werner, Karl Wildberger, Richard und Max Baginski, haben vielfach auf dem Duzfuß mit den streitbaren Geistern des Realismus gestanden. Die Führerin der Berliner Arbeiterinnen, die intelligente Hanna Jagert, wurde die Heldin eines Hartlebenschen Dramas; Typen aus der Welt der sozialdemokratischen Intellektuellen gingen in die Hauptmannschen Tragödien über. Mit dem früheren Schuster und späteren Redakteur Max Baginski suchte Gerhart Hauptmann die verfallenen Hausweberhütten von Steinseifersdorf auf und sah mit leibhaftigen Augen dort die Gestalten seiner »Weber«: die Baumann, Ansorge usw. Als sein Reisegefährte Baginski die herben Lebensschicksale dieser Ärmsten der Armen mit ihm besprach, da äußerte er sich eingehend über sein geplantes großes Drama: die Weber.

In dem Theatersaal, in der Volksversammlung, in ernster Diskussion und beim harmlosen Kegelspiel tummelten sich in schönster Harmonie die Männer der Kopf- und Handarbeit des jungen »sozialistischen Deutschlands«, Die »Freie Bühne« Wilhelm Bölsches vertrug sich in der Rocktasche Karl Wildbergers vorzüglich mit dem »Vorwärts« des alten Liebknecht. Die Kampffelder der Politik und der Ästhetik rückten in den Köpfen der jungen Arbeiter und jungen Schriftsteller eng aneinander. Der philosophische Schuster Richard Baginski sprach über die westpreußischen Arbeitertypen im »Eisgang« Max Halbes mit ebenso großer Sachkenntnis wie Otto Erich Hartleben über die kleinen und allerkleinsten Geschichten des sozialdemokratischen Olymps: Bei der Begründung des revolutionären »Sozialist« war Otto Erich Hartleben der Sprecher einer Arbeitergruppe in einer verschwiegenen Versammlung des Ostens von Berlin, und er erhielt ob dieser seiner geheimnisvollen, an die Zeiten des Sozialistengesetzes erinnernden Verschwörertätigkeit den Namen »Corpora-Erich« von dem spottlustigen Friedrichshagen angehängt.

Die von den »Jungen« verbreitete »Berliner Volkstribüne« suchte den Sozialismus unter der weitsichtigen Leitung Max Schippels nicht als eine Frage von Nurproletariern, sondern von modernen Kulturmenschen herauszuarbeiten. Tief ergreifende Gedichte Richard Dehmels, einige Grundrisse zur Familie Selicke von Holz und Schlaf, die begeisterungsvollen Besprechungen moderner Dichtungen in diesem Blatt bewiesen den mit voller Klarheit und mit ganzem Nachdruck angestrebten Anschluß Max Schippels an die realistisch-naturalistische Literaturbewegung. Die Milieuschilderungen Zolas, die Seelenanalyse Dostojewskis, die ethisch-religiöse Kunst Tolstois und die Problemdichtung Ibsens vollbrachten an den Arbeitern der jungen Generation ein ästhetisches Erziehungswerk von geradezu umwälzender Bedeutung.

Die »Berliner Volkstribüne« mit ihrer begeisterten Parteinahme für den jungen Naturalismus kam auch nach Hannover und Bremen, nach all den Orten, in denen der temperamentvolle Fritz Ebert Kampfgenossen für den Sozialismus warb. Die junge Generation nahm mit starker Leidenschaft die Streitrufe des Naturalismus auf. Holz und Schlaf, Hauptmann und Dehmel, Bölsche und Wille, die Gebrüder Hart und Hartleben drangen mit ihren Schöpfungen in weite deutsche Arbeiterkreise durch die »Berliner Volkstribüne« ein. Die »Amselrufe« von Karl Henckell weckten zu einem neuen revolutionären Frühling.

Eine Weltwende war eingetreten. Bis in die letzten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts hinein galt es noch als eine Erniedrigung der Kunst, wenn sie das Arbeiterleben mit seinen tiefgründigen Konflikten behandelte. Die »Unterklassen«, so dozierte Gustav Freytag, der für seine Zeit die ästhetischen Gesetzestafeln des Bürgertums verfaßte, seien nicht »dramenfähig«, da sie außerstande seien, »Gedanken und Empfindungen schöpferisch in Rede umzusetzen«. An anderer Stelle sprach er direkt von einer Herabwürdigung der Kunst, wenn sie soziale Verbildungen des wirklichen Lebens, die Tyrannei der Reichen, die gequälte Lage der Gedrückten, die Stellung der Armen polemisch oder tendenzvoll zu den Szenen eines Dramas verwerten würde. »Die Sorge um Besserung der armen, gedrückten Klasse soll«, so betonte er, »ein wichtiger Teil unserer Interessen im Leben sein, die Muse der Kunst ist keine barmherzige Schwester.«

Die Zeiten hatten sich nun wirklich von Grund auf geändert, die gedrückten Klassen bedurften wahrlich keiner barmherzigen Schwester mehr, sie hatten sich selbst geholfen und betraten festen Schrittes, wagemutig und ihr Recht heischend, die politische Bühne! Die Idee des Arbeiterstandes sollte lebendig werden.

Die sozialen Klagen und Beschwerden der Arbeiterklasse erschienen jetzt nicht mehr als die wehleidigen Äußerungen »armer Leute«. In ihnen offenbarte sich etwas Neues, Aufrüttelndes, sie flossen aus dem starken Herzen einer Klasse, die ihr soziales Elend als ein zur Überwindung dieses Elends aufreizendes Moment empfindet. Das junge sozialistische Proletariat faßte die soziale Not als Kettensprengerin auf. Keine tränensüchtige kleinbürgerliche Sentimentalität sprach aus den »Beklemmungen« dieser Klasse. Etwas Kraftvolles, Herbes, Echtes lag im Gefühlswesen dieser Klasse. Ihre Psyche forderte eine neue, naturwahre Dichtung. Der Arbeiter, der 1890 in der Gründungsversammlung der »Freien Volksbühne« in Berlin das Wort stockend, aber doch fest in die Masse warf: »Die Arbeiter wollen Wahrheit, sie wollen keine Lüge, keinen blauen Dunst«, sprach Millionen seiner Klassengenossen aus dem Herzen.

Der alte Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst schrieb am 14. Dezember 1893 in sein Tagebuch: »Heute abend in ›Hannele‹. Ein gräßliches Machwerk, sozialdemokratisch-realistisch, dabei von krankhafter, sentimentaler Mystik, nervenangreifend, überhaupt scheußlich. Wir gingen nachher zu Borchard, um uns durch Champagner und Kaviar wieder in eine menschliche Stimmung zu versetzen.« Mit dem Worte »sozialdemokratisch-realistisch« deckte der alte Herr einen tiefen Zusammenhang zwischen den sozialdemokratischen Bestrebungen und der sieghaft durchbrechenden realistisch-naturalistischen Kunstrichtung auf.

Der demokratisch-sozialistische Marxismus, der sich das Herz und den Kopf des jungen Ebert erobert hatte, strebte eine klare Erfassung der Wirklichkeit und eine wurzeltiefe Überwindung der bürgerlichen Illusionen an, die über die bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Einrichtungen verbreitet waren.

Der Marxismus ist in der Tat ein konsequenter Naturalismus auf ökonomisch-sozialem Gebiet. Mit dramatischer Kraft stellt er naturwahr das revolutionäre Werden unserer modernen Wirtschaft dar. Das in den Menschenschicksalen Tragische ersteht in so gesammelter, in so kollektiver Form bei Marx wieder, daß seiner Darstellung eine den ganzen Menschen ergreifende Kraft entströmt.

Die neue, von der gigantischen Maschinenindustrie geschaffene Wirklichkeit drängte ungestüm nach Form und Gestalt, und sie fand sie in der marxistisch-sozialistischen Bewegung und in der naturalistischen Kunstrichtung.

Fritz Ebert war durch Marx zum unbestechlichen Erschauer und Erforscher der nackten Wahrheit erzogen worden. Er sah in eine kampferfüllte Welt voll erschütternder Katastrophen hinein. Er sah die einzelnen Gesellschaftstypen in ihrer ganzen Realität, und die Ereignisse der Zeit lagen vor ihm im hellen Sonnenlicht. Kein Wunder, er wollte die erschaute und erfühlte Wahrheit auch auf der Bühne sehen. Daß sich der realistische Sozialismus und der Naturalismus zusammenfanden, war eine geschichtliche Notwendigkeit. Nach der ersten Aufführung der »Freien Volksbühne« in Berlin sprach Otto Erich Kartleben von einem folgenschweren Bund der modernen Kunst mit dem modernen Proletariat: »Neu und revolutionär wie der Sozialismus auf wirtschaftlichem Gebiet,« so führte er aus, »ist der Naturalismus auf dem Gebiete der Kunst. Er bricht mit einer vor Alter ehrwürdigen Konvention, verachtet und verwirft jegliche Tradition und schreibt Natur und Wahrheit auf seine Fahne.«

Natur und Wahrheit sprachen zu Ebert in ergreifendster Sprache, als er in Bremen die Hauptmannschen Weber in einer Privatvorstellung über die Bühne gehen sah.

Die Ängste und Nöte des Proletariats schrien in den Hauptmannschen Schöpfungen herzerschütternd auf, die sozialen Typen unserer Tage, in Fleisch und Blut geschaffen, wanderten durch die Dramen des großen schlesischen Dichters.

In Hauptmanns Werken lebt die Seele unserer Zeit.

Was der Arbeiter Ebert empfand, als ihn die sozialen Dramen Hauptmanns mächtig ergriffen, das hat der Reichspräsident Ebert am 12. August 1922 in Breslau bei der Eröffnung der Hauptmannschen Festspiele offen ausgesprochen: »Keiner hat so wie er (Hauptmann) in tiefem Mitleiden und in wahrer Erlösungssehnsucht die sozialen Nöte der Massen und das tragische Schicksal einzelner aus ihnen erfaßt und ihnen Gestalt und eine Sprache gegeben, die zum deutschen Herzen dringt. So ist sein dichterisches Schaffen immer Dienst am deutschen Volke gewesen.« Höchstes Ziel Hauptmanns sei eine wahre Volksgemeinschaft und das Streben nach Versöhnung der Nationen gewesen. Nicht eine kleine Kunstgemeinde, ein ganzes Volk wolle heute den Dichter ehren. Die intensive Pflege der Kunst und Wissenschaft faßte Ebert als eine Hauptaufgabe des neuen Staates auf, den er als einen wirklichen Organismus ansprach.

Zum sechzigsten Geburtstage Hauptmanns, am 15. November 1922, ließ Ebert dem Dichter einen in Bronze geprägten Adler, das Symbol des Reiches, als Ehrengeschenk übergeben. In einem Schreiben an Hauptmann bemerkte der Reichspräsident: »In einer Zeit der Unrast steht Ihr Bild leuchtend vor unseren Augen. An der Wurzel unserer Gegenwart geboren, haben Sie ihre Kämpfe und Wirrnisse vorausschauend empfunden, und es vermocht, die ringenden Kämpfe unserer Zeit und unseres Volkes zu unvergänglicher Gestalt zu erheben.«

Durch Hauptmann gewann in der Dichtung das neue Deutschland mit seinen neuen sozialen Klassen ein volles, warmblütiges Leben. Tatkräftig bemühte sich die Arbeiterpresse, die Massen durch die Einführung in die moderne realistische Literatur ästhetisch zu erziehen. Wenn wir uns vergegenwärtigen, welche unglaubliche Geschmacksverwilderung des Volkes durch eine verrohende, das wollüstige Grausamkeitsgefühl systematisch steigernde Kolportageliteratur angerichtet war, so müssen wir diese Erziehung als eine Kulturtat ersten Ranges buchen.


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