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Zwölftes Kapitel.
Tod auf dem Moor

Für einen Augenblick oder zwei stockte mir der Atem, kaum wollte ich meinen Ohren trauen. Dann wurde ich wieder Herr meiner Sinne, und die erdrückende Last der Verantwortung schien mir plötzlich von der Seele genommen. Diese kalte, schneidende, ironische Stimme konnte auf der ganzen Welt nur einem einzigen Mann angehören.

»Holmes!« rief ich – »Holmes!«

»Komm heraus,« sagte er, »und sei vorsichtig mit dem Revolver.«

Ich bückte mich und kroch unter dem roh behauenen Steinblock durch, der quer über der Türöffnung lag. Richtig, da saß Holmes draußen auf einem Stein, und seine grauen Augen leuchteten vor Vergnügen, als sein Blick auf mein erstauntes Gesicht fiel. Er war mager und abgezehrt, dabei aber frisch und gesund, sein scharfgeschnittenes Gesicht war von der Sonne gebräunt und vom Wind gegerbt. Mit seinem Tweedanzug und seiner Stoffmütze sah er wie ein gewöhnlicher Tourist auf dem Moor aus, und dank seiner katzenhaften Reinlichkeit war sein Kinn so glatt rasiert und seine Wäsche so sauber, als wäre er in seiner Wohnung in der Bakerstraße.

»Nie im Leben habe ich beim Anblick eines Menschen eine solche Freude empfunden,« rief ich, als ich ihm die Hand schüttelte.

»Und noch nie solches Erstaunen, he?«

»Ja, das muß ich freilich zugeben.«

»Die Überraschung war durchaus nicht einseitig, das kann ich dir versichern. Ich hatte keine Ahnung, daß du meinen Schlupfwinkel herausgefunden hast und noch viel weniger, daß du in eigener Person darin sitzen würdest, bis ich zwanzig Schritte von meiner Tür entfernt war.«

»Du hast wahrscheinlich meine Fußabdrücke bemerkt?«

»Nein, Watson, so weit geht denn doch meine Beobachtungsgabe nicht, daß ich deine Fußspur unter allen Fußspuren der ganzen Welt herausfinden könnte. Wenn du mich im Ernst in eine Falle locken möchtest, mußt du dir einen anderen Tabakslieferanten anschaffen; denn wenn ich einen Zigarettenstummel finde, worauf die Firma ›Bradley, Oxford Street‹ steht, so weiß ich, daß mein Freund Watson in der Nähe ist. Du kannst den Stummel dort neben dem Fußweg sehen. Ohne Zweifel warfst du ihn im letzten Augenblick weg, als du deinen Angriff auf die leere Hütte machtest.«

»Ganz recht.«

»Das dachte ich mir wohl – und da ich deine bewunderungswürdige Ausdauer kenne, so war ich überzeugt, daß du, mit einer Schußwaffe in Griffweite, im Hinterhalt sitzt und auf die Heimkehr des Hüttenbewohners lauerst. Du glaubtest also wirklich, ich sei der Verbrecher?«

»Ich wußte nicht, wer der Mann war, aber ich war fest entschlossen, das herauszubekommen.«

»Ausgezeichnet, Watson! Und wie hast du meine Wohnstätte gefunden? Sahst du mich vielleicht in jener Nacht, wo du auf der Jagd nach dem Sträfling warst? Ich war damals so unvorsichtig, den Mond hinter mir aufgehen zu lassen.«

»Ja, ich sah dich in jener Nacht.«

»Und hast ohne Zweifel alle Hütten durchsucht, bis du zu dieser hier kamst?«

»Nein, dein Junge ist beobachtet worden, und dadurch bekam ich einen Anhaltspunkt, wo ich zu suchen hätte.«

»Jedenfalls von dem alten Herrn mit dem Fernrohr. Ich konnte erst gar nicht herausbekommen, was es war, als ich die Reflexion des Sonnenlichts von der Linse seines Instruments sah.« Holmes stand auf und warf einen Blick in die Hütte. »Ah, ich sehe, Cartwright hat mir wieder einige Vorräte gebracht. Doch was bedeutet denn dieser Zettel? Du bist also in Coombe Tracey gewesen, richtig?«

»Ja.«

»Und hast Frau Laura Lyons besucht.«

»Ganz recht.«

»Ausgezeichnet. Unsere Nachforschungen haben sich offenbar in paralleler Richtung bewegt, und wenn wir unsere Ergebnisse zusammenführen, so dürften wir eine ziemlich vollständige Kenntnis des ganzen Falles besitzen.«

»Nun, jedenfalls bin ich von Herzen froh, daß du hier bist, denn die Verantwortlichkeit und das Geheimnisvolle der Sache, das beides zusammen, wurde wirklich allmählich zu viel für meine Nerven. Aber warum um alles in der Welt kamst du denn hierher und was hast du hier getrieben? Ich glaubte, du säßest in der Bakerstraße und zerbrächst dir den Kopf über jene Erpressungsgeschichte.«

»Das solltest du auch glauben.«

»Dann benutzt du mich also für deine Zwecke und traust mir doch nicht?« rief ich ziemlich bitter. »Ich glaube, ich habe Besseres um dich verdient, Holmes.«

»Mein lieber Freund, du bist bei diesem wie bei vielen anderen Fällen von unschätzbarem Wert für mich gewesen und ich bitte dich, mir zu verzeihen, wenn ich dir anscheinend einen kleinen Streich gespielt habe. In Wirklichkeit geschah das hauptsächlich in deinem eigenen Interesse, und eben weil ich die Größe der Gefahr kannte, von der du bedroht warst, kam ich her, um den Fall ganz in der Nähe zu beobachten. Wäre ich bei Sir Henry und dir gewesen, so hätte ich augenscheinlich vom selben Standpunkt aus geurteilt wie ihr beide, und meine Anwesenheit würde unsere höchst gefährlichen Gegner gewarnt haben, so daß sie auf der Hut gewesen wären. Indem ich auf eigene Faust handelte, konnte ich mich in einer Weise frei bewegen, wie es nicht möglich gewesen wäre, hätte ich im Schloß gewohnt. So bleibe bei der Entwicklung der Angelegenheit ein unbekannter Faktor, und kann im kritischen Moment mein ganzes Gewicht in die Wagschale werfen.«

»Aber warum hast du mich im Dunkeln gelassen?«

»Hättest du gewußt, daß ich auf dem Moor bin, so konnte uns das nichts nützen, möglicherweise aber zu meiner Entdeckung führen. Du hättest den Wunsch gehabt, mir irgend etwas mitzuteilen oder mir in deiner Gutherzigkeit die eine oder die andere Bequemlichkeit herausgebracht, und das alles wären ganz überflüssige Wagnisse gewesen. Ich habe mir Cartwright mitgenommen – du erinnerst dich wohl: der kleine Bursche von der Expreßgesellschaft – und er hat für meine einfachen Bedürfnisse gesorgt: ein Laib Brot und ein reiner Kragen – was braucht ein Mann mehr? An ihm hatte ich ein zweites Paar Augen und ein Paar sehr flinker Füße, und beides ist für mich von unschätzbarem Wert gewesen.«

»Dann waren also alle meine Berichte zu gar nichts gut?«

Meine Stimme zitterte unwillkürlich, denn ich dachte an die große Mühe, die ich mir gegeben, und an den Stolz, womit ich sie ausgearbeitet hatte.

Holmes zog ein Päckchen Papiere aus der Tasche und sagte:

»Hier sind deine Berichte, mein lieber Freund, und ganz gehörig durchgearbeitet, das kannst du mir glauben. Ich hatte ausgezeichnete Vorkehrungen getroffen, und die Berichte gelangten nur um einen einzigen Tag verspätet in meine Hände. Ich muß dir meine allergrößten Komplimente machen über den Eifer und die Intelligenz, die du bei einem so ungewöhnlich schwierigen Fall bewiesen hast.«

Ich war immer noch etwas empfindlich wegen der Komödie, die Holmes mir gespielt hatte, aber sein warmes Lob verscheuchte doch meinen Ärger. Ich fühlte auch, daß er mit dem, was er sagte, im Grunde genommen völlig recht hatte, und daß es in der Tat für unsere Absichten besser war, daß ich von seiner Anwesenheit auf dem Moor nichts gewußt hatte.

»So ist's besser,« sagte Holmes, als ersah, das meine Miene sich aufhellte. »Und nun erzähl mir, was du mit deinem Besuch bei Frau Laura Lyons ausgerichtet hast – daß du bei ihr warst, konnte ich unschwer erraten, denn sie ist in Coombe Tracey die einzige Person, die in dieser Angelegenheit für uns von Nutzen sein kann. In der Tat, wärst du nicht heute bei ihr gewesen, so wäre ich aller Wahrscheinlichkeit nach morgen selber zu ihr hingegangen.«

Die Sonne war untergegangen, und die Dämmerung senkte sich auf das Moor herab. Die Luft war kühl geworden und daher zogen wir uns in die Hütte zurück, wo es wärmer war. Dort saßen wir im Zwielicht nebeneinander und ich berichtete Holmes von meiner Unterhaltung mit der Dame. Sie interessierte ihn in so sehr, daß ich manche Stellen wiederholen mußte, ehe er zufrieden war.

»Dies ist von höchster Wichtigkeit,« rief er, als ich fertig war. »Eine Lücke in diesem sehr verwickelten Fall, die ich nicht überbrücken konnte, ist jetzt ausgefüllt. Du weißt vielleicht, daß zwischen der Dame und diesem Stapleton eine sehr innige Beziehung besteht?«

»Von enger Vertraulichkeit war mir nichts bekannt.«

»In dieser Beziehung kann kein Zweifel bestehen. Sie kommen zusammen, sie schreiben sich, es herrscht zwischen ihnen ein vollkommenes Einverständnis. Nun, durch deine Unterredung haben wir eine sehr wirksame Waffe in unsere Hände bekommen. Wenn ich diese nur anwenden könnte, um seine Frau von ihm abzubringen ...«

»Seine Frau?«

»Ja, jetzt bekommst du von mir etwas Neues zu hören als Ausgleich für all das, was ich durch dich erfahren habe. Die Dame, die hier für Fräulein Stapleton gilt, ist in Wirklichkeit seine Frau.«

»Um Himmels willen, Holmes! Bist du dir auch sicher, was du da sagst? Wie hätte er Sir Henry erlauben können, sich in sie zu verlieben?«

»Wenn Sir Henry sich in sie verliebte, so konnte das keinem Menschen schaden, als nur dem Baronet selber. Er paßt mit ganz besonderer Sorgfalt darauf auf, daß Sir Henry seine Liebe zu ihr nicht in Handlungen umsetzt; das hast du ja selber bemerkt. Ich wiederhole, die Dame ist seine Frau und nicht seine Schwester.«

»Aber wozu diese umständliche Täuschung?«

»Weil er vorausgesehen hat, daß sie ihm als Unverheiratete von viel größerem Nutzen sein würde.«

Mein vager Verdacht, alle meine unausgesprochenen Empfindungen, nahmen plötzlich feste Gestalt an, und alles sprach gegen den Naturforscher. In diesem farb- und leidenschaftslosen Mann mit seinem Strohhut und dem Schmetterlingsnetz glaubte ich jetzt etwas Furchtbares zu sehen – ein Geschöpf voll unendlicher Geduld und Geschicklichkeit, mit lächelndem Antlitz und einem Mord im Herzen.

»So ist also er unser Feind – er war es, der uns in London nachspürte?«

»Das halte ich für des Rätsels Lösung.«

»Und die Warnung – die muß dann von ihr gekommen sein.«

»Ganz gewiß.«

Ein furchtbares Schurkenwerk, halb gesehen, halb nur geahnt, trat aus der Dunkelheit hervor, die mich so lange umfangen gehalten hatte.

»Aber bist du deiner Sache auch sicher, Holmes? Woher weißt du, daß sie seine Frau ist?«

»Weil er sich so weit vergessen hat, dir beim ersten Zusammentreffen ein Stück seiner wirklichen Lebensgeschichte zu erzählen, und verlaß dich darauf, das hat ihm seither schon manches Mal leid getan. Er hatte wirklich früher eine Schule in Nordengland. Nun kann man über keinen Menschen leichter etwas erfahren als über einen Schullehrer. Es gibt Stellenvermittelungsagenten für Lehrer, durch die man die Identität eines jeden feststellen kann, der einmal diesem Beruf angehört hat. Durch eine kleine Nachforschung erfuhr ich, daß eine Schule unter entsetzlichen Umständen zu Grunde gegangen, und daß ihr Eigentümer – dessen Name anders lautete – mit seiner Frau verschwunden war. Die Personenbeschreibungen passen. Als ich erfuhr, daß der Flüchtling sich ganz besonders für Schmetterlingskunde interessiert, war kein Zweifel mehr möglich.«

Das Dunkel lichtete sich – aber noch immer lag gar vieles im Schatten.

»Wenn die Frau wirklich seine Gattin ist,« fragte ich, »wie kommt dann diese Frau Laura Lyons mit ins Spiel hinein?«

»Das ist einer von den Punkten, die durch deine Nachforschungen aufgehellt worden sind. Dein Gespräch mit der Dame hat die Situation bedeutend geklärt. Ich wußte nicht, daß eine Scheidung von ihrem Mann in Aussicht genommen war. Wenn aber dies der Fall ist, so rechnet sie ohne Zweifel damit, daß Stapleton sie heiraten wird, da sie ihn für einen Junggesellen hält.«

»Und wenn sie über ihre Täuschung aufgeklärt wird?«

»Ja, dann werden wir in der Dame vielleicht ein nützliches Werkzeug für uns finden. Das erste, was wir morgen zu tun haben, ist, sie aufzusuchen – und zwar wir beide zusammen ... Glaubst du nicht, Watson, daß du schon ziemlich lange von deinem Posten fort bist? Dein Platz sollte in Baskerville Hall sein.«

Die letzten roten Streifen waren am westlichen Himmel verblichen, und nächtliches Dunkel hatte sich auf das Moor herniedergesenkt. Ein paar schwache Sternenpünktchen glommen am violetten Himmel auf.

»Noch eine letzte Frage, Holmes,« sagte ich, indem ich aufstand. »Ganz gewiß brauchen wir beide doch keine Geheimnisse voreinander zu haben. Was bedeutet dies alles? Was will er?«

Flüsternd antwortete Holmes mir: »Es ist Mord, Watson – abgefeimter, kaltblütiger, hartherziger Mord! Frage mich nicht nach Einzelheiten. Mein Netz schwebt über ihm, so wie sein Netz über Sir Henry schwebt, und dank deiner Hilfe ist er bereits sozusagen ohne Gnade in meine Hand gegeben. Nur eine Gefahr kann uns noch drohen: daß er seinen Streich ausführt, bevor wir soweit sind. Noch einen Tag, – höchstens zwei – und ich habe mein Material vollständig beisammen – aber bis dahin sei auf deinem Posten und halte so sorgsam Wacht wie eine Mutter bei ihrem kranken Kind. Deine heutige Mission war durch die Umstände berechtigt, und doch möchte ich beinahe wünschen, du wärst ihm nicht von der Seite gewichen – – horch! was ist das?«

Ein furchtbarer Schrei – ein langer gellender Schrei voll Angst und Entsetzen drang aus der Einsamkeit des schweigenden Moores zu uns herüber. So entsetzlich war der Ton, daß das Blut in meinen Adern zu Eis erstarrte.

»O, mein Gott!« stöhnte ich auf. »Was ist das? Was kann das bedeuten?«

Holmes war aufgesprungen, und ich sah die dunklen Umrisse seiner athletischen Gestalt sich in der Öffnung der Hütte abzeichnen. Die Schultern gebeugt, den Kopf vorgeneigt, mit scharfen Augen in die Finsternis hineinspähend – so stand er da.

»Psst!« zischte er. »Psst!«

Der Schrei war laut zu uns herübergedrungen, weil er mit ungeheurer Heftigkeit ausgestoßen wurde, aber als er in einem Stöhnen erstarb, da erkannten wir, daß er in weiter Ferne irgendwo auf der dunklen Ebene erschollen war. Dann drang ein neuer Schrei an unser Ohr – näher, lauter, dringender als der erste.

»Wo ist es?« flüsterte Holmes, und ich erkannte an dem Zittern seiner Stimme, daß er, der Mann von Stahl und Eisen, bis in die Tiefe seiner Seele erschüttert war.

»Wo ist es, Watson?«

»Dort, glaube ich.« Und ich wies in die dunkle Landschaft hinein.

»Nein, dort!«

Wieder durchbrach der Todesschrei die nächtliche Stille – wieder lauter und näher als die vorigen. Und ein neuer Laut mischte sich mit ihm, ein tiefer, grollender Ton, klangvoll und doch drohend, steigend und fallend wie das unablässige tiefe Rauschen des Meeres.

»Der Hund!« schrie Holmes. »Komm, Watson, vorwärts! Großer Gott, wenn wir zu spät kämen!«

Er war hinausgesprungen und rannte schnell über das Moor dahin. Ich folgte ihm unmittelbar auf den Fersen. Aber auf einmal kam irgendwo aus der Wirrnis der unmittelbar vor uns liegenden Schluchten und Klüfte ein letzter, verzweiflungsvoll aufgellender Schrei, und dann ein dumpfer, schwerer Schlag. Wir standen still und lauschten. Aber kein Laut durchbrach mehr das drückende Schweigen der windstillen Nacht.

Ich sah, wie Holmes sich wie ein Wahnsinniger mit der Faust vor die Stirn schlug. Er stampfte mit dem Fuße auf und rief:

»Er hat uns geschlagen, Watson. Wir sind zu spät gekommen.«

»Nein, nein, gewiß nicht!«

»Tor, der ich war, daß ich nicht zuschlug! Und du, Watson, da siehst du die Folgen davon, daß du von deinem Posten gegangen bist! Aber, beim himmlischen Gott, wenn das Schlimmste eingetreten ist, so werden wir ihn rächen.«

Blindlings rannten wir in die Finsternis hinein; wir stießen uns an Granitblöcken, brachen uns durch Ginsterbüsche Bahn, keuchten Hügel hinauf und sprangen mit großen Sätzen in Schluchten hinunter, doch gelang es uns im großen und ganzen die Richtung einzuhalten, aus der die fürchterlichen Schreie gekommen waren. Jedesmal, wenn wir auf einer Höhe waren, warf Holmes einen schnellen Blick um sich, aber die Schatten lagen dick auf dem Moor und nichts bewegte sich auf der öden Fläche.

»Siehst du etwas?«

»Nichts.«

»Aber, horch, was ist das?«

Ein leises Stöhnen war an unser Ohr gedrungen. Und noch einmal – es war zu unserer Linken. Dort lief ein Felsgrat in eine steile Wand aus, die eine mit Steinblöcken besäte Schlucht überragte. Und auf diesem Grund lag etwas Dunkles von eigentümlicher Form. Doch als wir hinzuliefen, nahmen die unbestimmten Linien feste Gestalt an. Es war ein Mann, der, das Gesicht nach unten, auf dem Boden lag; der Kopf stak in einem fürchterlichen Winkel unter dem Leib, die Schultern waren gerundet und der ganze Körper war zusammengezogen, als ob der Mann im Begriff wäre, einen Purzelbaum zu schlagen. So grotesk war die ganze Haltung, daß es mir im ersten Augenblick gar nicht zum Bewußtsein kam, mit jenem letzten Seufzer das Verhauchen seiner Seele gehört zu haben.

Kein Flüstern, kein Röcheln ging mehr von der dunklen Gestalt aus, über die wir uns niederbeugten. Holmes berührte sie mit der Hand und erhob diese sofort wieder mit einem Ausruf des Entsetzens. Er rieb ein Zündholz an; der schwache Schein fiel auf seine blutbedeckten Finger und auf die grausige Blutlache, die langsam dem zerschmetterten Schädel des Opfers entfloß. Und der Blick fiel noch auf etwas anderes, dessen Anblick uns vor Weh krank machte und uns einer Ohnmacht nahe brachte – auf die Leiche von Sir Henry Baskerville.

Keiner von uns beiden konnte einen Augenblick im Zweifel sein; nur zu gut kannten wir den eigentümlich rötlichen, halbwollenen Anzug – denselben, den er an jenem ersten Morgen trug, als wir ihn in der Bakerstraße kennenlernten. Wir konnten nur den einen flüchtigen, aber untrüglichen Blick darauf werfen. Dann flackerte das Zündholz und erlosch – so wie die Hoffnung in unseren Herzen erloschen war. Holmes stöhnte, und ich sah trotz der Finsternis sein Gesicht, weil es ganz weiß geworden war.

»Die Bestie, die Bestie!« rief ich mit geballten Fäusten. »O, Holmes, niemals werde ich's mir verzeihen, daß ich Sir Henry seinem Schicksal schutzlos preisgegeben habe.«

»Ich bin mehr zu tadeln als du, Watson. Um meinen Fall recht schön abgerundet und vollständig vor mir zu haben, vergeudete ich das Leben meines Klienten. Das ist der härteste Schlag, der mich jemals während meiner ganzen Laufbahn getroffen hat. Aber wie konnte ich wissen – wie konnte ich wissen – daß er, allen meinen Warnungen zum Trotz, allein aufs Moor gehen würde, wo er sein Leben riskierte?«

»Ach, und wir hörten seine Schreie – o mein Gott, und was für Schreie – und waren doch nicht imstande, ihn zu retten. Wo ist die Bestie von Hund, die ihn in den Tod hetzte? Vielleicht liegt sie in diesem selben Augenblick zwischen den Felsen hier verborgen. Und Stapleton, wo ist er? Er soll für seine Tat zur Rechenschaft gezogen werden.«

»Das soll er. Dafür will ich sorgen. Onkel und Neffe sind ermordet worden. – Der eine zu Tode geängstigt durch den bloßen Anblick einer Bestie, die er für übernatürlich hielt, der andere in seiner wilden Flucht vor eben demselben Tier ins Verderben gejagt. Aber jetzt haben wir zu beweisen, daß zwischen dem Mann und dem Tier eine Verbindung besteht. Das letztere haben wir allerdings gehört, aber auf seine Existenz können wir vor Gericht nicht einmal schwören, denn Sir Henrys Tod ist augenscheinlich infolge seines Sturzes erfolgt. Aber, bei Gott im Himmel, so schlau der Bursche auch ist – er soll in meiner Gewalt sein, ehe vierundzwanzig Stunden vergangen sind.«

Die Herzen von Bitterkeit erfüllt standen wir zu beiden Seiten des zerschmetterten Leichnams, überwältigt von diesem plötzlichen und nie wieder gut zu machenden Unglück, das all unserer langen und mühseligen Arbeit ein so plötzliches Ende bereitet hatte. Dann, als der Mond aufgegangen war, kletterten wir zum Gipfel des Felsens empor, von dessen Höhe unser armer Freund abgestürzt war; von dort aus spähten wir über das weite Moor, auf dem silbernes Mondlicht und düstere Schatten wechselten. In meilenweiter Ferne, in Richtung des Dorfes Grimpen, leuchtete ein einzelnes gelbes Licht immer an derselben Stelle. Es konnte nur das einsame Wohnhaus der Stapletons sein. Mit einem haßerfüllten Fluch schüttelte ich meine Fäuste nach jener Richtung.

»Warum sollten wir ihn nicht sofort festnehmen?«

»Unsere Beweise sind nicht vollständig. Der Bursche ist über alle Maßen vorsichtig und schlau. Es kommt nicht darauf an, was wir wissen, sondern darauf, was wir beweisen können. Wenn wir einen einzigen falschen Schritt tun, kann der Schurke uns selbst jetzt noch entwischen.«

»Was können wir tun?«

»Morgen werden wir Arbeit in Hülle und Fülle haben. Heute abend können wir nur noch unserem armen Freund die letzten Dienste erweisen.«

Wir stiegen wieder den jähen Abhang hinunter und näherten uns dem Leichnam, der sich als dunkler Fleck scharf von den mondlichtübergossenen Steinen abhob. Beim Anblick dieser im Todeskampf verrenkten Glieder überwältigte mich der Schmerz und heiße Tränen schossen mir in die Augen.

»Wir müssen Hilfe holen, Holmes! Wir können ihn nicht alleine den ganzen Weg bis zum Schloß tragen. Gott im Himmel, bist du wahnsinnig geworden?«

Er hatte einen Schrei ausgestoßen und sich über den Leichnam gebeugt. Auf einmal sprang er im Kreise herum und lachte und schüttelte meine Hand. Konnte dies mein ernster, verschlossener Freund sein? Ja, ja, man kann wohl von verborgenen Feuern reden.

»Ein Bart! Ein Bart! Der Mann hat einen Bart!«

»Einen Bart?«

»Es ist nicht der Baronet – es ist – ja, wahrhaftig, es ist mein Nachbar, der Sträfling!«

In fiebrischer Hast hatten wir den Leichnam auf den Rücken gelegt, und in der Tat starrte ein zottiger Bart zum kalten, klaren Mond empor. Ein Zweifel war nicht möglich – die vorspringende Stirn – die eingesunkenen tierischen Augen – ja, es war dasselbe Antlitz, das mich im Licht der Kerze hinter dem Felsen angestarrt hatte – es war der Verbrecher Selden.

Und in einem Augenblick war mir alles klar. Ich erinnerte mich, daß der Baronet mir erzählt hatte, er hätte Barrymore seine alten Kleider überlassen. Barrymore hatte sie an Selden weitergegeben, um diesem bei seiner Flucht behilflich zu sein. Stiefel, Hemd, Mütze – alles hatte früher Sir Henry gehört. Die Tragödie war immer noch furchtbar genug, aber dieser Mann hatte doch wenigstens nach den Gesetzen des Landes den Tod verdient. Ich setzte Holmes den Zusammenhang auseinander, und mein Herz schlug hoch in Freude und Dankbarkeit.

»Dann sind Sir Henrys Kleider dem armen Kerl zum Verhängnis geworden,« rief Holmes. »Es ist ganz klar, daß der Hund auf irgendeinen von Sir Henry getragenen Gegenstand abgerichtet ist – aller Wahrscheinlichkeit nach auf den im Hotel abhanden gekommenen Schuh; so hat er denn diesen Mann zu Tode gehetzt. Aber da gibt es noch etwas sonderbares: woher wußte Selden in der Dunkelheit, daß der Hund auf seiner Spur war?«

»Er hörte ihn.«

»Wenn ein hartgesottener Verbrecher wie dieser Zuchthäusler einen Hund auf dem Moor hört, so bringt ihn das nicht in einen solchen Paroxysmus des Schreckens, daß er auf die Gefahr hin, wieder ergriffen zu werden, wild um Hilfe schreit. Nach den Schreien zu urteilen, die wir gehört haben, muß er ein weites Stück Weges gerannt sein, nachdem er gemerkt hat, daß das Tier ihn verfolgt. Woher wußte er es?«

»Für mich ist es ein größeres Geheimnis, warum dieser Hund – vorausgesetzt, alle unsere Mutmaßungen seien richtig –«

»Ich setze nichts voraus.«

»Nun ... also, warum dieser Hund nachts frei auf dem Moor herumläuft. Ich vermute, daß er nicht beständig losgelassen wird. Stapleton würde die Bestie nicht freilassen, wenn er nicht Grund zu der Annahme hätte, daß Sir Henry sich auf dem Moor befindet.«

»Von diesen Schwierigkeiten ist die meinige bei weitem die furchtbarere – denn die deine wird sich, glaube ich, sehr bald aufklären, die meinige dagegen bleibt vielleicht für ewig ein Geheimnis ... Die Frage ist jetzt: Was sollen wir nun mit dem Leichnam dieses armen Burschen anfangen? Wir können ihn nicht hier liegen lassen als Fraß für Füchse und Krähen.«

»Ich schlage vor, wir schaffen ihn in eine der Steinhütten, bis wir die Polizei benachrichtigen können.«

»Sehr gut. Ich bezweifle nicht, daß wir beide zusammen ihn ganz gut so weit tragen können ... Hallo, Watson, was ist das? Das ist unser Mann selbst ... Das nenne ich wahrhaftig eine geradezu großartige Frechheit! kein Wort über Deinen Verdacht – kein Wort, sonst brechen all meine Pläne in sich zusammen.«

Eine Gestalt kam über das Moor her auf uns zu, und ich sah das düsterrote Glühen einer Cigarre. Das Mondlicht fiel auf ihn und ich konnte die schmächtige Gestalt und den flinken Schritt des Naturforschers erkennen. Als er uns sah, blieb er stehen; dann kam er auf uns zu und rief:

»Wahrhaftig – Doktor Watson – das können Sie doch nicht sein! Sie sind der letzte, den ich um diese Nachtzeit draußen auf dem Moor zu sehen erwartet hätte. Aber ... mein Gott, was ist denn das? Jemand verunglückt? Doch nicht ... um Gottes willen, sagen Sie mir nicht, daß es Sir Henry ist!«

Er sprang an mir vorbei und beugte sich über den Toten. Ich hörte, wie er einen gepreßten Atemzug tat, und die Cigarre entfiel seiner Hand.

»Wer – wer ist das?« stammelte er.

»Es ist Selden, der Zuchthäusler, der von Princetown entsprungen war.«

Stapleton wandte sich uns zu, sein Antlitz war totenbleich, aber mit einer gewaltigen Willensanstrengung hatte er seine Bestürzung und Enttäuschung niedergekämpft. Er sah mit einem scharfen Blick erst Holmes und dann mich an und sagte endlich:

»Donnerwetter! Das ist ja eine ganz fürchterliche Geschichte. Wie kam er zu Tode?«

»Er scheint das Genick gebrochen zu haben, indem er von dem Felsen da abstürzte. Mein Freund und ich schlenderten über das Moor, als wir einen Schrei hörten.«

»Ich hörte ebenfalls einen Schrei und ging deshalb aus. Ich war in Besorgnis wegen Sir Henry.«

»Warum denn gerade wegen Sir Henry?« fragte ich unwillkürlich.

»Weil ich ihm vorgeschlagen hatte, zu uns herüberzukommen. Als er nicht kam, war ich überrascht, und natürlich hatte ich seinetwegen Angst, als ich Schreie auf dem Moor hörte. Übrigens« – und damit wanderten seine stechenden Augen wieder von meinem Gesicht zu Holmes' – »hörten Sie nichts außer einem Schrei?«

»Nein,« antwortete Holmes. »Hörten Sie was?«

»Nein.«

»Was soll Ihre Frage dann bedeuten?«

»O, wissen Sie, das Landvolk erzählt sich allerlei Geschichten von einem Geisterhund und so weiter. Er soll sich nachts auf dem Moor hören lassen. Ich frage mich, ob wohl heute nacht so etwas zu sehen oder zu hören gewesen war.«

»Wir hörten nichts Derartiges,« antwortete ich.

»Und welcher Ansicht sind Sie in bezug auf den Tod dieses armen Kerls?«

»Ich bezweifle nicht, daß Angst und Gefahr ihn um seinen Verstand gebracht haben. Er ist in einem Anfall von Verfolgungswahn über das Moor gerannt, ist schließlich hier abgestürzt und hat sich das Genick gebrochen.«

»Das scheint die einleuchtendste Erklärung,« sagte Stapleton mit einem Seufzer, der nach meiner Ansicht ein Seufzer der Erleichterung war. »Was ist Ihre Ansicht darüber, Herr Sherlock Holmes?«

»Ich sehe, Sie sind schnell im Erkennen.« sagte mein Freund mit einer Verbeugung.

»Wir haben Sie seit Doktor Watsons Ankunft erwartet. Sie kommen gerade recht, um Zeuge einer Tragödie zu werden.«

»Ja, da haben Sie recht. Ich bezweifle nicht, daß sich die Erklärung meines Freundes mit den Tatsachen deckt. Ich werde morgen eine unangenehme Erinnerung mit mir nach London zurücknehmen.«

»O, Sie fahren morgen zurück?«

»Das ist meine Absicht.«

»Ich hoffe, Ihr Besuch hat einiges Licht in die Begebenheiten hineingebracht, deren Rätselhaftigkeit uns so sehr in Sorge versetzt hat.«

Holmes zuckte die Achseln und erwiderte:

»Man kann nicht jedesmal den erhofften Erfolg haben. Für eine Ermittlung braucht man Tatsachen und nicht Märchen oder Gerüchte. Der Fall hat sich nicht als zufriedenstellend erwiesen.«

Mein Freund sprach in seiner offensten und freimütigsten Miene. Stapleton sah ihn mit einem scharfen Blick an; dann wandte er sich zu mir:

»Ich hätte Ihnen vorgeschlagen, den armen Mann zu meinem Haus schaffen, aber das würde meine Schwester so in Angst setzen, daß ich mich nicht dazu berechtigt fühle. Ich glaube, wenn wir ihm etwas über sein Gesicht decken, wird er bis morgen unversehrt liegen bleiben.«

Dieser Vorschlag wurde ausgeführt. Stapletons gastliche Einladung in sein Haus lehnten wir ab, und Holmes und ich machten uns auf den Weg nach Baskerville Hall, während der Naturforscher allein zu seinem Haus zurückging. Als wir uns umwandten, sahen wir seine Gestalt langsam über das weite Moor hingehen, und hinter ihm auf dem mondhellen Abhang lag der schwarze Fleck – die Todesstätte des Mannes, der ein so grausiges Ende gefunden.


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