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Zweiter Abschnitt: Unfrei ist der Bursch.

[Später entfallen: Die Norderhafener Vettern reisten zusammen zur Universität – zusammen, obgleich der Hardesvogt seinem Sohn die väterliche Mahnung eingeschärft hatte, nur standesgemäßen Umgang zu suchen, obgleich Monika ihren Amatus gewarnt hatte, sich nicht vom Vetter ins Schlepptau nehmen zu lassen.]

[Später ergänzt: Viggo Evers hatte sein erstes Semester in Berlin und die Ferien bei seiner Tante in Norderhafen verlebt. Auf allerhöchsten Befehl seines Vaters, welcher erkannte, daß die Luft der Großstadt dem etwas lustigen Sohne nicht zuträglich sei, sollte er jetzt die kleinere Universität, nicht des Amüsements, sondern ernstlich der Arbeit halber besuchen. Um dem leichten Vogel die Flügel zu stutzen, hatte der alte, einsichtige Het den Wechsel des Sohnes um 300 Mark beschnitten. Doch Viggo hatte der guten Tante klar gemacht, daß er als Mediziner, wofern er etwas Gründliches lernen wolle, die rasend teuren ärztlichen Instrumente für 600 Mark sich anschaffen müsse, und die Leichtgläubige, die von der Lüge und List des jungen Studentenfuchses sich übertölpeln ließ, holte seufzend den eisernen Kasten hervor und zählte zitternd 400 Mark auf den Tisch, mit der ökonomischen Bemerkung: Was an der Summe noch fehle, werde er beim Einkauf der rasend teuren Instrumente abhandeln können.

Viggo selbst renommierte mit seinem Spitzbubenstreich, als er mit Junker nach der Universitätsstadt fuhr. »Die Alte glaubt, daß ein Student im zweiten Semester schon die schwierigsten Bauchoperationen machen muß.« – Und er hielt sich den Bauch vor Lachen.]

Auf dem großen Kreuzungspunkt der Eisenbahn trafen sie im Wartesaal Willhelm Reder, der von der Universität kam.

»Du bist in den Ferien nicht in Norderhafen gewesen?«

Nein, er hatte seine Eltern nicht besucht. Das sagte viel.

»Und wohin willst du jetzt?«

»Ich will nicht … ich muß … drüben in der Marsch eine Stelle als Hauslehrer annehmen, um mir so viel zu verdienen, daß ich meine Studien fortsetzen kann.«

Berg [später anders: Amatus] lachte. »Lange Aussichten, mein Lieber … sagte Johann Mantros – da warf er den Anker in hundert Faden Wasser aus … du, lebt deine Schwester Klarissa noch in der Verbannung?«

»Nein, sie ist leider zu Hause.« Das Wort »leider« sagte mehr als viel.

Amatus dachte nach langer Zeit an Klarissa [ später entfallen: . Sein Vetter verzog spöttelnd den Mund] und fragte weiter: »Wilhelm! Deine Karoline ist ja aus Norderhafen verschwunden … hast du sie in der Universitätsstadt untergebracht?«

Reder wurde von Röte übergossen und ging mit langen Schritten aus dem Wartesaale, unwillig hinter sich rufend: »Sie hat sich selbst eine Stellung in der Mittelgasse bei einem Fräulein Lüdemann [später: Lindemann] verschafft.«

Junker fuhr [später entfallen: aus seinem Nachdenken] empor. »Was? Bei meiner Holztante?« [– – –]

[Später entfallen: Die Vettern stiegen in ihren Zug. Berg zündete eine Zigarre an, blies den Rauch von sich und blickte von der Seite empor. »So weit wirst du auch noch kommen, daß du hauslehrern mußt … warum läßt du dich nicht von den Verwandten z.B. von dem Fräulein Lüdemann ins Haus aufnehmen? Die ersparten Gelder könnten in Lustbarkeitsaktien angelegt werden.«

»Nein, frei ist der Bursch … ich will nicht unter Aufsicht stehen.«

»Ach so, du fürchtest, die Hausschlüsselfreiheit könnte dir beschnitten werden.« – – –

Amatus Junker führte seinen Vetter bei der Verwandtschaft ein, obwohl an der Schwelle der amtsrichterlichen Wohnung ein instinktives Gefühl in ihm sich dagegen sträubte. Berg trug den Gehrock und Glacés, auf dem Haupte einen Zylinder und an den Füßen Gummigaloschen, weil es geregnet hatte.

Die Familie Lüdemann kam dem Sohne des Hardesvogts mit ungemeiner Zuvorkommenheit entgegen; sogar der Amtsrichter hatte nicht die krause, gleichsam gekitzelte Nase der gemachten Liebenswürdigkeit, sondern lächelte wirklich. Er gab dem jungen Juristen gewiegte Ratschläge für sein Studium und lud ihn nach Verlauf von fünf Minuten zum Mittagessen am Sonntag ein.

Der Vetter Berg war nicht Freitischler, sondern geladener Gast!

Als die Besucher sich entfernt hatten und auf der Straße standen, vermißte Asmus seine Handschuhe und ging wieder die Treppe hinauf, um sie zu holen. Die Korridortür war nicht ins Schloß gefallen. Auf den unhörbaren Galoschen trat er in den Flur, nahm vom Toilettentisch die Handschuhe und blieb eine Minute lang horchend stehen: Im Boudoir, dessen Tür anlehnte, unterhielten sich Mutter und Tochter.

»Sylvia, wie gefällt dir der neue Vetter? Er hat etwas weltmännisch Gewandtes, das der Junker nicht besitzt.«

»Ja, Mutter … aber das runde rotgelbe Reinettenapfelgesicht … der andre ist viel hübscher, Mama, und zum Verlieben.«

»Du dumme Gans, die Männer sind nicht zum Verlieben, sondern zum Heiraten da.«

Lautlos entfernten sich die Galoschen. Das Reinettengesicht war noch gelblicher geworden.

Als die Studenten eine Strecke gewandert waren, meinte Amatus: »Du sagst ja nichts … hat Sylvia es dir angetan?«

»Ich bitte dich, der eckig magere Backfisch!«

Amatus lächelte vor sich hin und schien es dem Vetter nicht übel zu nehmen, daß dieser die Angebetete seines Herzens verkleinerte und verlästerte.

Dennoch hatte Asmus Berg an dem eckig mageren Backfisch Wohlgefallen gefunden. Bei dem Sonntagsessen, das dem Gast zu Ehren ein förmliches Diner war, saß er neben Sylvia, und seine Lust an ihr wuchs zur Leidenschaft. Wenn das Phlegma erst Feuer fängt! Seine Affekte brennen verborgen und tiefgründig unter äußerlicher Ruhe. – – –]

Klarissa Reder war »leider« zu Hause bei dem Vater und der Mutter, die in ganz Norderhafen nicht Frau Zollinspektor, sondern nur die lange Stine hieß.

Wenig Freuden hatte Klarissa, aber sogenannte Vergnügungen wurden ihr in Überzahl und zum Überdruß geboten. Sie mochte gerne tanzen, nur nicht auf den Bällen und Soireen des Bürgervereins, wo sie es mußte. Klarissa liebte Musik und Menschen und sehnte sich, wie ein Blümlein im Märzschnee, nach heitrer Luft und hellem Sonnenschein, aber wenn sie zu den musikalischen Gesellschaften ging, hatte sie ein Gefühl, als wenn sie geschleppt würde. Allen besser gestellten Herren Norderhafens, die ein heiratsfähiges Einkommen hatten, war sie vorgestellt worden.

Auf den Heimwegen wiegte die Mutter den Kopf. »Rissa! Du bist zu spröde und kriegst nie einen Mann.«

»Ich will auch keinen kriegen«, lautete die Antwort.

Frau Reder hatte nämlich einen Mann in Aussicht. Der Weinhändler Erichsen, ein wohlgestellter und wohlbeleibter Herr, der sich Witwer nannte, obgleich sein Weib nicht gestorben war, wurde oft von Zollinspektors zum Abendessen eingeladen und machte nach zwei Tagen seine Dankvisite, um von neuem invitiert zu werden.

Erichsen, der zwei Knaben hatte und von seiner Frau, die in der Irrenanstalt unheilbar dahinsiechte, durch richterlichen Spruch geschieden worden, war ein jovialer, phlegmatischer und tüchtiger Mann, der sein Geschäft besorgte, nichts Böses tat, keinem das Wasser trübte und nur den allzu starken Wein verschnitt und wässerte, damit er nicht gesundheitsschädlich werde [später: wirke].

Klarissa hegte gegen den Harmlosen und allgemein Beliebten einen Groll im Herzen. Nach ihren Grundsätzen nämlich war die Ehe nur durch den Tod und nicht durch Krankheit lösbar.

Galant glänzte sein fettig[-]rötliches Gesicht. »Mein Fräulein, wissen Sie, wann ich zum ersten Male Sie recht angesehen habe? Bei Ihrer Konfirmation, als Sie im langen Kleide zart und schmuck den Gang hinaustraten … ja ich habe Sie schon lange beobachtet …«

»So!« machte Fräulein Reder, »ich erinnere mich deutlich des Tages … Sie gingen mit Ihrer Frau zum Abendmahl … o, die war damals noch so rasch und jung und schön.«

Das breite Gesicht des Weinhändlers wurde sehr lang, während die Stiefmutter spitzig blickte und das enfant terrible mit den Augen spießte.

Trotzdem erschien der Witwer am nächsten Vormittage in hohem Zylinder und mit einer dicken Mappe unter dem Arm und begann nach längerem Geräusper geschäftsmäßig: »Ich habe meine beiden Hauptbücher mitgebracht … möchten Sie durch Einsichtnahme sich von dem Stand meiner Aktiva und Passiva überzeugen?«

Der Zollinspektor schob die Bücher fort. »Tut nicht nötig, mein lieber Herr Erichsen, ich weiß, daß Ihre Firma gut fundiert ist und gewissenhaft verzollt.«

Aber seine Frau meinte: »Du könntest doch dem Herrn, der die Bücher mitgebracht hat, die Freude machen und einen Blick hineinwerfen.«

Reder blätterte, fand bald die Bilanz und nickte befriedigt.

Seine Frau, die das Nicken sah, wollte dem schwerfälligen Werber, der die Backen blies, als wenn er den Mund übervoll habe, die Sache nicht erschweren und seufzte: »Ach, ein Hausstand ohne Hausfrau und zwei Kinder ohne Mutter!«

Das war der Zünder, vom dem die voll geladenen Backen platzten. »Jawohl, eine liebevolle Frau und Mutter … Sie verstehen … ich meine Ihre Tochter.«

»Ja, wir verstehen und sind einverstanden.« Über den Tisch reckte sie den langen Arm und schüttelte dem Weinhändler die Hand, holte aus dem Buffet die Weinflasche, stutzte aber auf dem halben Wege, kehrte um und groß vier Gläser voll, in kluger Geistesgegenwart die Etikette, welche nicht Erichsens Firmenstempel trug, mit der Hand verdeckend.

Um auf das Brautpaar anzustoßen, mußte die Tochter geholt werden [später ans Satzende gestellt], welche für die weitere Handlung unentbehrlich war.

[Später ohne Absatz:] Klarissa, die in der Küche stand, sagte rundweg nein.

»Du Ungeratene!«

Ja, sie stampfte mit dem Fuße und retirierte auf den Flur. »Und wenn man mich mit Wagen und Gewalt in die Kirche bringt, schreie ich noch vor dem Altare nein.«

Frau Reder [später ergänzt: er]schnappte die Hutnadel und lief damit, wie mit einem Dolchlein, der Fliehenden nach. »Du bleibst hier!«

Aber die Tochter war flink und stürzte auf die Straße, den Hut schief auf dem Kopfe, weil ihr die Nadel fehlte.

Von da an wurde ihr das Elternhaus zur Hölle.

Obgleich sie die geringste Dienstmädchenarbeit tat, mäkelte und schmälte die Stiefmutter ohne Ursache und ohne Aufhör. »Du Närrin meinst wohl, daß wir doch versorgen und zuletzt im Stift einkaufen können?«

Nein, das war nicht Klarissas Meinung, die ohne Wissen der Eltern in der großen Zeitung, die in der Universitätsstadt erschien, unter den Stellengesuchen eine Annonce einrücken ließ. Sie hatte ohne Sillys Rat gehandelt und sich darüber keine Rechenschaft abgelegt, warum sie unter sehr vielen [später ergänzt: just] diese Zeitung gewählt.

In allem Unglück war es ein Glück, daß die erste Annonce Erfolg hatte.

Am Tage vor ihrer Abreise machte Klarissa einen Spaziergang, um von allen Stätten [später ergänzt: der Heimat] Abschied zu nehmen. Gedrückt kehrte sie durch das Pappeltal zurück. Dort erging sich Friedline nach täglicher Gewohnheit auf dem genau bekannten Wege, ohne einer führenden Hand zu bedürfen. Aber der Platzregen der Nacht hatte die Böschung unterwaschen, die Blinde trat in das Loch und stürzte mit einem Aufschrei der Länge nach hin.

Klarissa lief sofort herbei, hob Friedline auf und bürstete den Schmutz vom Kleide. Auch Monika, die den Schrei vernommen hatte, war schon auf der Straße.

Sie sah Fräulein Reder ins Gesicht. »Sind Sie krank, Fräulein?«

»Nein, mir fehlt nichts … ich verlasse morgen Norderhafen … und … und kann Ihnen Lebewohl sagen, Frau Junker, und Ihnen, Friedline.«

»Wohin geht die Reise?«

Klarissa nannte die Stadt.

»Dort studiert ja mein Sohn … wenn Sie ihn sehen, grüßen Sie ihn von seiner Mutter!«

»Und von seiner Schwester«, fügte die Blinde hinzu.

Ja, Fräulein Reder wollte [später ergänzt: gern] den Gruß bestellen, wenn sie den Sohn träfe, und schritt tiefsinnig durch das Pappeltal. Am Ende desselben kehrte sie sich um und blickte lange nach der Wohnung des Gerichtsdieners, deren Fenster von der schräg darauf fallenden Abendsonne goldig glänzten. Ihre braunen, trüben Augen bekamen einen blanken Schein, denn ein seltsames Traumgefühl trug sie in ferne Zukunftstage, und ein leises Glücksgefühl beschlich sie, als wenn alles Böse gut geworden und das Elend ihres Lebens von einer leuchtenden Spätsonne vergoldet sei. – – –

Fräulein Lüdemann [später: Lindemann], die in ihren Kreisen »die Wohltätige« genannt wurde, verdiente den Ehrennamen. Trotzdem sie einen Anfall von Migräne gehabt und ihn nur durch fortgesetztes Medizinieren, durch den innerlichen Gebrauch von Zuckerstücken, auf die dreißig Tropfen Rum gegossen waren, gemildet hatte, nähte sie schon am Morgen für die äußere Mission. Ein Ballen Ramschwatte türmte sich auf ihrem Tische, und sie steppte eine dicke, warme Decke für die armen Eskimos, die als neu gewonnene Mitglieder der Brüdergemeinde mit Seehundsspeck ihre Liebesmahle und mit scheußlichem Tran ihre Teeabende feiern.

Aber die Wohltätige wurde in ihrer Missionsarbeit gestört und von Bittstellern überlaufen. Ein neunjähriger, zerlumpter Knabe, der eine eigentümliche Schädelbildung hatte und den Blick nicht aufrichtete, sagte in heulendem Ton seinen auswendig gelernten Singsang her: »Min Mutter hett en lütt Swester kregen und is so krank, so krank … und so hungrig.«

Fräulein Lüdemann [später: Lindemann] reichte ihm mitleidig ein Fünfgroschenstück. Dabei fiel ihr Blick auf die auffallende Schädelform des Knaben, den sie erkannte. »Jung … vor drei Monaten hast du von mir eine Reichsmark erbettelt, weil deine Mutter ein Schwesterlein bekommen … und jetzt wieder?«

»Ja–a, bi uns kummt de Storch alle dre Monate wedder.«

Ein Griff nach den kurz geschornen Haaren des Verbrecherschädels mißlang. Der kleine Gauner schlüpfte unter den Fingern hinweg und grinste auf der Straße, sein Fünfgroschenstück betrachtend.

Nachdem Fräulein Lüdemann [später Lindemann] zur Beruhigung des berechtigten Zorns eine Dosis ihrer Migränemedizin eingenommen hatte, stach sie emsig mit der langen Nadel weiter. Und wieder klang die störende Klingel. Einer von jenen Gelegenheitsarbeitern, welche am Hafen lungern und Bollwerksbrüder heißen, bat um eine kleine Gabe und versicherte weinerlich, daß er krank sei und nicht mehr trinke.

Sie kannte ihn und wies auf seine Brust, die von den verschütteten Getränken ein [später ergänzt: einziger,] glänzender Fettfleck war. »Woher rührt denn das?«

»Das … das ist nicht, was ich getrunken, sondern was ich verschüttet habe.« Er schielte darauf nieder, als wenn das Umgekommene ihm leid täte. »Gnädiges Fräulein, ich möchte zu den Wasserleuten gehören und die Verpflichtung unterschreiben.«

Das Gesicht der alten Jungfer erhellte sich. »Wollen Sie auf einen Monat sich verpflichten?«

»Nein, auf drei Monate.«

Sie holte sogleich ihre gedruckten Enthaltsamkeitsformulare herbei und ließ ihn unterschreiben. Weil sie eine genaue Statistik der Geretteten führte, wurde der neue Name als Nummer 43 ins Buch eingetragen. Mit einer langen Ermahnung und einer kleinen Gabe schloß Fräulein Lüdemann [später: Lindemann] die feierliche Aufnahme.

[Später entfallen: Gegen Mittag kam Asmus Berg und kneipte auf dem Flure in der Freude des Wiedersehens Karolines Hängebacke. Er wurde von Fräulein Lüdemann überaus herzlich empfangen, die, gleich den meisten alten und auch jungen Jungfern, einen regen Forschungstrieb besaß und ihn auszufragen begann. Ob sein Vetter ein fleißiger Mensch sei? Ob er sich an studentischen Kneipereien beteilige?

Asmus lobte den Abwesenden und machte der Anwesenden sein Kompliment. »Ihre Güte verschaffte ihm Freitische, sonst könnte mein Vetter, der nur ein Stipendium von 240 Mark bezieht, überhaupt nicht existieren … für Zimmermiete allein muß er 144 Mark bezahlen … Sie wissen nicht irgendwo eine Kammer, die ihm billig überlassen werden könnte?«

Die Tante wiegte sinnend den Kopf. »Nein … ja … ja, ich habe ein Gastzimmer, ein sehr kleines …«

»O, er ist äußerst bescheiden und anspruchslos …«

»Hm, wer zween Röcke hat, gebe dem, der keinen hat«, murmelte sie und erhob sich in einem plötzlichen, heroischen Entschluß. »Ich will dem armen Menschen das Zimmerchen überlassen, auch morgens Kaffee und Brötchen ihm geben.«

Nachdem Asmus Berg dieses gute Werk ausgerichtet hatte, drückte er der Tante die magere Hand und draußen im Vorbeigehen dem Dienstmädchen Karoline den runden Arm. –]

[Später ergänzt und anders: Die alte Dame meinte es redlich mit ihrem Christentum und ihrer schrullenhaften Philanthropie. Sobald sie allein war, faltete sie die Hände, um in einem stillen Gebet den Herrn zu fragen, ob sie heute nichts zum geistigen oder leiblichen Heile eines Mitmenschen unterlassen habe. Ihr graues Haupt wiegte hin und her, bis sie sich vor die Stirn schlug. »Ich habe dem Studenten Junker acht Freitische verschafft, aber selbst habe ich nichts, nichts für ihn getan! O, ich Elende, ich Ungetreue! Habe ich nicht das Fremdenzimmer, das ich ihm als Freistübchen überlassen könnte, überlassen muß? Wer da weiß, Gutes zu tun, und tut es nicht, dem ist es Sünde.« – In einem heroischen Entschluß erhob sich die alte, wunderliche, aber redliche Person. »Ich will dem armen Menschen die Kammer umsonst überlassen.« – – –]

Es war der Freitag, an dem Junker zweimal zu Mittag aß. Bei Amtsrichters [später: Justizrats] fand er einen neuen Freitischgast vor, der ihm als Herr Evers und als Mediziner in höheren Semestern [später: Kandidat der Medizin] vorgestellt wurde. [Später ergänzt: Junker schnitt ein spaßiges, spöttisches Gesicht und sagte süßsauer, daß er diesen Herrn – Kandidaten schon lange gekannt habe. Wie war der Gnadenfelder nach ein paar Semestern zum Kandidaten avanziert? Und wie in das Haus, wo Sylvia webte und schwebte, hineingekommen? Evers] [später entfallen: Derselbe] war [später entfallen: von rundlicher Gestalt und sehr] modisch gekleidet und machte einen [später entfallen: eigentümlich] [später ergänzt: glatten,] geleckten Eindruck, weil er das Blondhaar [später: sein Haar] mit Pomade geklebt hatte und ihm der Scheitel sauber und schnurgerade von vorn nach hinten lief. Von dem Anblick des Pomadisierten in seinen burschikosen Gefühlen verletzt, strich Amatus seine starken Haare steil in die Höhe. Der Mensch war ihm mehr als [später: sehr] unsympathisch.

Und der saß neben Sylvia und reichte ihr verbindlich mit den schön gepflegten Händen, die krallenlange Nägel hatten, die Schüsseln. Sie warf Junker einen lächelnden Trostblick zu und sagte: »Sie essen ja nichts.«

Nein, er hatte wenig Eßlust und mußte an das Wort eines Kommilitonen denken, der die Hände erhoben und ausgerufen hatte: »Himmel! Acht Freitische hast du Unglücksseliger … acht Freitische sind acht Heiratsvermittler.«

Gegen Schluß des Mahles sah der Amtsrichter [später: Justizrat] über sein Glas, als wenn er Amatus aufs Korn nehme, und der Schuß fiel. »Äh, mein lieber Junker, in Erwägung Ihrer Lage hat meine Schwester beschlossen, Ihnen ein kleines Freizimmer in ihrem Hause zu geben.«

Junker war ärgerlich, daß hier [später ergänzt: laut] vor dem protzenhaften Mediziner seine Armut, um die es nicht so schlimm stand, ausposaunt wurde. Aber sein verlegenes Gestammel wurde als dankbare Rührung aufgefaßt.

[Später ergänzt: Sobald die Tafel vom Hausherrn aufgehoben war, empfahl sich der Freitischler, der es wie eine persönliche Kränkung fühlte, daß der geladene Gast blieb und bleiben durfte. Aus gelegentlichen Äußerungen war zu entnehmen, daß Viggo Evers mit einer Empfehlung des Hardesvogts Berg sich bei Justizrats eingeführt habe.

Amatus machte eine Verbeugung, die stolz sein wollte und sehr steif wurde, und niemand bat ihn, länger zu verweilen. Ha! Das war der Unterschied zwischen dem geladenen und dem geduldeten Tischgast! Und der Onkel Hardesvogt hatte ihm, dem leiblichen Neffen, keine Rekommandation mitgegeben! Da flog dem Dahineilenden ein Funke ins Herz, ein Funke von jenem wilden, glühenden, fressenden Haß, der die Enterbten verzehrt. Wie gütig man gegen ihn war – sogar ein Freizimmer wollte man ihm gewähren! Wie mußte er bis oben hin von Dankbarkeit und Demut erfüllt sein, ja überlaufen!

Es lief auch etwas, nämlich die Galle, in ihm über.]

So hielt Amatus [später: Amatus hielt] mit der schwarz angestrichenen Schiffskiste seinen Einzug in die Mittelgasse 34. Kurz und enge war die Kammer, und der Gang, der sich hindurch zog, war so schmal, daß Karoline nicht mit der vollen Breitseite ihres Körpers sich darin bewegen konnte. Schräg hindurch sich luvend, half sie ihm beim Auspacken und legte eine Decke auf die Schiffskiste, damit sie etwaigen Besuchern als Sofa diene.

Als er der treuen Magd dankte, holte sie aus der Brust einen tiefen Seufzer: »Ach, undankbar sind die Menschen.«

Er mißverstand das Seufzen und griff in die Tasche. »Ja, viel Gold und Silber habe ich nicht.«

Sie wehrte ab. »Nein, Wilhelm Reder ist undankbar … seit einem Monat hat er mir nicht geschrieben.«

»Ah, Sie korrespondieren mit ihm?«

»Ich hatte dem armen Menschen halbjährlich zehn Taler von meinem Lohn angeboten, zum Weiterstudieren … das hat er patzig abgelehnt und antwortet mir auf meinen letzten Brief nicht mehr.«

Karoline weinte ihren Kummer in die weiße Schürze aus, während Amatus in die blaue Luft blickte. –

Zwei Wochen lang verhandelte der neue Bewohner der Mittelgasse 34 mit dem Fräulein Lüdemann [später: Lindemann] hin und her, bis er ihr begreiflich machen konnte, daß ein Hausschlüssel zu den Bürgerrechten eines akademischen Bürgers gehört.

Alle Samstagabend wanderte er nach dem »Blutigen Knochen« und war ein treues Mitglied seiner »Blase«. Weil sein Budget sich um die ersparte Zimmermiete erhöht hatte, nahm er auch an dem sonntäglichen Frühschoppen teil, aber erst nach dem Gottesdienste, denn die Kirche durfte er nicht versäumen, weil die Tante sein Erscheinen beobachtete. So wurde er beides, ein regelmäßiger Kirchgänger, aber auch ein regelmäßiger Frühschoppenbesucher.

Trotzdem die gute Karoline ihm oft den Hausschlüssel mit Öl einschmierte und er möglichst leise sein Lager aufsuchte, hatte die Tante einen noch leiseren Schlaf.

Einmal, als er beim Morgenkaffee die Semmelbissen im Munde drehte, fragte sie malitiös: »Schmeckt's?« Und dann: »Wann kamen Sie nach Hause?«

»Es war gewiß nach zehn …«

»Ja, ganz gewiß … junger Mann, wollen Sie ein christlicher Theologe sein?« Sie sagte nichts weiter, sondern gab ihm einige Hefte, von dem Pfarrer Blumhardt in Bad Boll herausgegeben, die sie höher als irgend eines Theologen Schriften schätzte.

Die reumütige Anwandlung [später: Diese Erfahrung] hinderte ihn nicht, auch in Zukunft sich an der Kneipe und dem Katerfrühstück der Norderhafener zu beteiligen.

Weniger regelmäßig war sein Besuch der Vorlesungen. Fern hielt er sich von dem Kolleg jenes Professors Hegelein, der über Logik las und einmal mit verblüffender Ruhe den Satz aussprach: »Von allen Philosophen der Welt ist Aristoteles der größte, der zweite ist Hegel der Große, den dritten verbietet mir meine Bescheidenheit zu nennen.« Die Zuhörer hatten einen stupiden Gesichtsausdruck, als sie den Ausspruch hörten, welcher einzig von allen Philosophemen des Mannes eine heitere Unsterblichkeit erlangt hat.

An der Universität stand ein alttestamentlicher Professor, der in seinem Anschlag über die ersten vierzig Kapitel des Jesaias zu lesen versprochen hatte, aber gegen Schluß des Semesters noch am zwölften Kapitel herumdeutelte und -distelte und mit Überstürzung zwei Verse in einer Stunde erklärte. Nicht viel anders machten es die andern Professoren. Kaum einer brachte das in Aussicht gestellte Pensum zum Abschluß.

Mithin kam der Studiosus Junker bald zu der [später entfallen: Einsicht und] Erkenntnis, daß alle seine Kollegienhefte schwanzlose Fragmente bleiben würden, wurde lässiger im Besuche und ließ auch hier und da ein Mittelstück fehlen.

Aber weil er keine phlegmatisch träge Natur war, studierte er fleißig in seinem Vademecum. In den schönen, sehnsuchtsvollen Dämmerstunden, wenn die gute Tante in irgend einem Frauenverein tagte und mit Worten tatete, suchte sein Gemüt sich mitzuteilen. Nachdem er Karoline aus der Küche geholt und ins Sofa genötigt hatte, schritt er in der besten Stube des Fräuleins deklamierend auf und ab. Das Dienstmädchen war sehr aufmerksam, und ihr rund-rotes Gesicht leuchtete wie ein Bühnenmond durch die Dämmerung.

Mit Schauer sprach er die Worte: »O, ewig möcht' ich trunken sein und ewig ganz versunken sein in deinen weißen Armen …«

»Sie kicherte: »Meinen Sie mir?«

»Nein, bei meiner Zuleikha!« antwortete er, die Hand erhebend.

Karoline fing an zu grunzen: »Öh … ich weiß wohl, Sie meinen die Lüdemannsche [später: Lindemannsche] … das impertinente Ding!«

Er spießte zornig nach ihrem Gesicht. »Was unterstehen Sie sich zu sagen?«

»Ich wage zu sagen, daß sie eine ausverschämte Person ist … neulich kommt sie angetrippelt und streckt den Fuß aus: Ziehen Sie mir die Gummischuhe aus! … das verlangt nicht einmal mein Fräulein von mir.« Karoline rauschte in die Küche hinaus.

Weil aber die Vorlesungen aus Mirza Schaffy ihrem poetischen Gemüt zusagten, bat sie ihn in der nächsten Schummerstunde, mit dem schönen Buch ins Wohnzimmer zu kommen.

Als der Bühnenmond am hellsten leuchtete, blieb er [später: der Deklamator] mitten in der Dichterpose stehen, aus dem Fenster starrend und verstummend. Sylvia trippelte mit kleinen, künstlichen Schritten über die Straße und auf die Mittelgasse 34 zu! Wie Erleuchtung schlug es ihn, daß jetzt sein Schicksal sich entscheiden müsse. Darum grapste er Karolines Arm und zerrte sie vom Sofa empor. »Um alles in der Welt! Gehen Sie hinaus! Meines Herzens Sein oder Nichtsein hängt von dieser Stunde ab.«

Das diskrete Dienstmädchen verschwand lächelnd, ging aber aus der Küche in die Schlafstube, um an der Tür zu lauschen. Ihr lang gehegter Wunsch, eine wirkliche Liebeserklärung, [später ergänzt: aber] nicht eine von den künstlich gemachten der Theaterstücke, mit eignen Ohren anzuhören, sollte sich erfüllen.

Sylvia schlug die Lider wie einen Schleier über die Augen. »Wenn meine Tante nicht zu Hause ist, darf ich nicht bleiben.«

Dennoch blieb sie, und er zog sie an den Händen, nicht ins Sofa, welches noch von Karolines Körperwärme warm war, sondern in den Ohrsessel, welcher der Tante Leibstuhl war. Zu ihren Füßen niedergerissen, lag er auf dem reinen, unentweihten Schemel und stammelte: »Sylvia, können Sie mich ein wenig lieben?«

Der Backfisch zupfte an dem kurzen Rocke und dem langen Zopfe und wurde rot und schelmisch. »Ja, ich liebe Sie … ein wenig … sehr viel … gar nicht …«

Aber sie ließ es geschehen, daß er sie in die Arme nahm und vernahm mit Wohlgefallen den neuen Namen Waldfee, und wie er ihre Schönheit und Unschuld pries.

Karoline hatte gehört, wie ihr Zukünftiger es machen müsse.

Immer stürmischer preßte der Student das Mägdlein an die Brust. »Sylvia, du bist meine Braut … ich möchte mein Glück in alle Welt hinausschreien.«

»Um Gottes willen!« Ein Schreck befiel sie. »Kein Mensch und am allerwenigsten meine Eltern dürfen etwas merken.«

»O, ich will arbeiten und streben und ringen, um dich heimzuführen.«

»Ach, Amatus … Heiraten ist so gewöhnlich … meine Mutter hat meinen Vater genommen, und sie lieben und küssen sich doch gar nicht mehr … wir wollen uns nur lieben.«

Er machte ein bedenklich verliebtes Gesicht und küßte sie.

Karoline, der die kosenden Laute zuletzt langweilig wurden, klopfte plötzlich an die Zimmertür. Darüber erschrak Sylvia so heftig, daß sie schnellen Abschied nahm. Obgleich Amatus ihr nachlief, [später entfallen: winkte sie ihm ab und] trippelte mit den kleinen, künstlichen Schritten von dannen.

Amatus' Augen waren [später ergänzt: feierlich und] groß, als er Karoline fragte: »Haben Sie gehört?«

Die Magd verschluckte ein Gekicher. »Ja … das soll man wohl hören … die hat ein gehörig großes Küßzeug.«

»Pfui!« sprach er. Die Anspielung auf Sylvias zu volle Lippen war ihm Blasphemie in dieser Stunde. – – – –

Der Studiosus Junker hatte seinen ersten Freitagstisch bei einer Doktorwitwe, die nicht weniger als sieben Theologiestudierende mittags »abfütterte«, wie es in der akademischen Sprache hieß. Doch erhoben sich nur die Schweigsamen gesättigt vom Tische. Die Doktorin nämlich unterhielt ihre Gäste mit einer solchen Lebhaftigkeit, daß diejenigen, welche sich ins Gespräch ziehen ließen, wenig zum Essen kamen. Wenn aber alle Gabeln und Messer fortgelegt und stille wurde, fiel es ihr plötzlich ein, daß sie noch nichts genossen habe, und sie füllte sich den Teller bis zum Rande.

Junker konnte sich [später ergänzt: dafür] an seinem zweiten Tische satt essen und fand Gelegenheit, Sylvia die Bitte um ein Stelldichein zuzuraunen, das ihm auch ohne Zimpern und Zögern am Sonntagnachmittage um fünf Uhr im Kronsberger Gehölz [später ergänzt: huldvoll] gewährt wurde.

Sonntags um dreieinhalb hatte er seinen Tisch weit draußen bei einer verwitweten Frau Hauptmann Reinhard, einer alten, allzu wohlwollenden Dame, die ihn fortwährend nötigte und nach der süßen Speise nicht gehen ließ, sondern oft stundenlang durch Konversation festhielt. Die Hauptmännin war nämlich eine große Politikerin, die vier Tageszeitungen las.

An dem betroffenen Sonntage zog er oft die Uhr und rückte unruhig und unglücklich auf dem Stuhle. »Verzeihen Sie, gnädige Frau …«

»Nein, Sie stören mich durchaus nicht.« Sanft drückte sie ihn in den Sessel zurück und rollte lang und breit die türkische Frage auf [später: , um lang und breit die türkische Frage aufzurollen].

Wieder zitterte die Uhr in seiner Hand, und er hob den Oberkörper. Zehn Minuten vor fünf!

Doch die gütige Dame hielt ihn am Rockknopfe fest. »Was halten Sie von der Zukunft Bulgariens?«

Er hielt es nicht länger aus, sondern riß sich los und schnappte nach seinem Hute. »Entschuldigen Sie, gnädige Frau, ich muß gehen.«

Die Hauptmännin blickte ihm bestürzt nach und sagte mit einem bedauernden, von einem gewissen Lächeln begleiteten Gesichtsausdruck zu ihrem Fräulein: »Der arme Mensch … weiß vielleicht gar nicht … wo er hier hingehen soll.«

Amatus Junker wußte sehr wohl, wohin er seine Schritte lenkte, und rannte wie ein Dauerläufer durch die ganze Länge der Stadt und nach dem Kronsberger Gehölz, das er außer Atem ein Viertel nach fünf erreichte.

Fräulein Lüdemann [später: Lindemann] kam ihm keinen Schritt entgegen, sondern grüßte schnippisch: »Eine Dame läßt man nicht warten.«

Er erschrak vor dem neuen, nie gesehenen, essigsauren Ausdruck ihres Gesichts, und der erste Zweifel flog wie ein kühler Luftzug gegen sein Gemüt. »Sylvia, keine Viertelstunde kannst du warten … wirst du vier oder fünf Jahre in Treue ausharren können?«

»O, du prosaischer Rechenmeister! Ich habe nie rechnen können.« Sie streichelte begütigend sein Kinn. »Laßt uns leben und lieben, singen und selig sein!«

Das Pärchen aber sang wohlweislich nicht, sondern wanderte auf den verstecktesten Waldpfaden und [später: um] trieb [später als Verb ans Satzende gestellt: zu treiben] mäuschenstill und menschenscheu die törichten Dinge der Jugend.

Der Studiosus Junker war nur in seinen Freistunden ein verliebter Träumer, aber [später nachgestellt] tagsüber ein äußerst fleißiger Arbeiter. Mit der Feder in der Hand in die theologischen Bücher vertieft, füllte er die Lücken der fragmentarischen Kollegienhefte aus und brachte so alle unvollendeten Vorlesungen seiner Professoren zu einem bündigen und befriedigenden Abschluß.

Auch seinem Lieblingsstudium, der Geschichte der Philosophie, widmete er täglich eine Stunde. Alle Systeme von Heraklit dem Dunklen bis zu Hegel dem Allerdunkelsten durchforschend, suchte er in den Werken der Weltweisen nach dem letzten Grund des Seins. Sie alle wollten ihn gefunden haben, aber in den grundverschiedensten Dingen, in Feuer und Wasser, in Molekülen, Materie und Geist und sogar in der toten Zahl. Je weiter er in die mit schweren, undenkbaren Begriffen verbarrikadierte Wissenschaft und ihre labyrinthischen Gedankengänge hineindrang, desto enttäuschter merkte sein gewöhnlicher, aber gesunder Menschenverstand, daß diese Klugen und Ausklügler sämtlich zu einem letzten Urgrund kamen, daß eben dieser Urgrund aber von ihnen selbst gesetzt und sozusagen durch menschlichen Machtanspruch geschaffen worden war und darum eine unbewiesene Voraussetzung blieb.

Über solche Fragen grübelte der Philosoph Junker, als der Vetter [später anders: ein Kommilitone] ihn besuchte und ausrief: »Was? Du ochst? Mensch, Mensch!« Er wollte den Ochsenden an sein Menschentum erinnern.

Amatus klappte sein Buch zu. »Ja, mir wird oft ochsdumm bei dieser Philosophie, die ewig neue Ausgeburten ihrer Vernunft erzeugt und gleichwie Kronos ihre eignen Kinder auffrißt. Sobald ein neues System geboren ist, stürzt es sich mit einem kannibalischen Haß auf seine älteren Brüder und sucht sie alle zu verschlingen.«

Asmus [später anders: Der andre] lächelte überlegen. »Natürlich … die Philosophie hat immer die Welt nach ihrem Bilde, d.h. nach ihrer Einbildung geschaffen, und ihre Geschichte ist nichts als eine Reihe widerlegter Systeme … hast du auch die Glocken der neuen [später: modernen] Erkenntnis [später entfallen: und der neuen Zarathustra-Religion] läuten hören?«

»Nein, bei mir kommt die alte Theologie zu neuen Ehren, und ich gründe eine Philosophie, deren Grund einfach heißt: Gott ist! Warum so viel der Arbeit und des Aufhebens und des gelehrten Geschreis? Wenn doch der Gelehrteste nicht weiter kommt, als daß er einen festen und ewigen Punkt ins Universum hineinpflanzt und dieses unbekannte riesengroße X als Idee oder Monade oder mit allen möglichen Namen benennt. Warum nicht lieber, da doch das Ende aller Menschenweisheit eine unbeweisbare Voraussetzung bleibt, mit der Gottesgelehrtheit einfach und einfältig den Grund aller Dinge mit den zwei Worten setzen: Gott ist? Aus den schlichten Satz entwickelt sich eine Welt und Weltordnung, leichter, logischer und lieblicher [später entfallen: und nicht so langweilig öde] als aus den begrifflichen Deduktionen der Denker, die irgendwie und -wo ein Luftfundament bilden und darauf ihren schwerfälligen und spitzfindigen Gedankenbau aufrichten. Hegel der Allerdunkelste aber baute das allerhöchste Wolkenkuckucksheim, auf welches Professor Hegelein noch einen Turm mit blinden Fenstern im Schweiße seines Geistes zu setzen sich bemüht.«

Vetter Berg [später anders: Der moderne Studiosus] roch mit der gerümpften Nase über den Tisch. »Hier ist theologische Stiftsluft … Leichengeruch der Vernunft, die sich selbst gemordet …«

Der andre [später: Amatus] fuhr auf. »Gibst du nicht selber zu, daß die Weltweisheit nur ein fortwährender Brudermord ihrer eigenen Geistesgeburten ist? Olet … das muß erst recht stinken.«

Asmus kniff das eine Auge zu [später anders: Jener sprach hochmütig]. »Ich habe das System aller Systeme, welches eben kein System ist. Mein lieber und gelehrter Theologus, nun tue deine Ohren auf und höre und ärgere dich an mir! Das Christentum ist die Religion der Menschenschwächung, denn seine Liebkinder sind die geistig Armen und die großen Sünder, und es hat immer die Jämmerlichsten der Menschengattung als die Seinen auserwählt. Welche vernunftwidrige Zuchtwahl ist das! Durch seine schonende Fürsorge für den leidenden Typus Mensch hat das Christentum die Schwächlinge der Gattung gehätschelt und erhalten. O, über die törichte Mitleidsmoral, die Jahrhunderte lang Geisteskrüppel und Sklavenmenschen künstlich gezüchtet und die kleinlichen, kränklichen und mittelmäßigen Christenmenschen unsrer Zeit hervorgebracht hat!«

Amatus fiel ihm entsetzt in die Rede: »Du! Kein Mitleid ist der Mord aller Moral.«

Der Vetter Berg lachte laut [später anders: Eine Lache war die Antwort]. »Haha, es ist eben eine Umwertung aller Werte. Das Ego, das Ich, das dir nach deinem Katechismus zu kreuzigen und zu töten befohlen ist, soll auf den Thron gehoben werden und herrschen. Das Ich, das sich nach allen Seiten ausleben und seine Ziele erzwingen muß, das Ego mit seinem ewigen Willen zur Macht war und ist und wird das Prinzip der Welt sein. Dreist und gottlos singe ich dem Egoismus einen Lobpsalm, denn nur der Egoismus hat die herrlichsten Dinge und Ereignisse der Erde ausgerichtet, und alle großen Männer der Geschichte waren gewaltige, hinreißende, rücksichtslose Herrenmenschen, die jenen krassen, egoistischen Willen zur Macht besaßen und durchzusetzen verstanden. Wenige an Zahl, kaum einer in jedem Jahrhundert, stürmen sie über die Erde und machen alles sich untertan. Aber alle, von Alexander bis Fridericus Rex, vom gigantischen Korsen bis zum größten Staatsmann unsrer Tage, sind solche egoistische Herrenmenschen gewesen, die ohne Gnade zertraten, was und wer ihnen und ihren Zielen in die Quere kam.«

[Später ergänzt: Junker wurde nachdenklich, denn den Satz, daß die Großen der Geschichte krasse Herrenmenschen gewesen seien, konnte er nicht widerlegen. – – – – – –]

[Später entfallen: Junker fing an satirisch zu schmunzeln. »Ah … du willst zum Staatsmann des nächsten, des zwanzigsten Jahrhunderts dich entwickeln?«

»Für uns gewöhnliche Herdenmenschen, die wir zu einer etwas höheren Gattung uns erheben möchten, ist die Moral von der Geschicht, ist die Moral der Weltgeschichte: Nur die selbstischen, selbstbewußten und willensstarken Menschen leben ihr Leben und erreichen ihre Ziele.«

Amatus erhob energisch Einspruch: »Das sieht der Unmoral verteufelt ähnlich, die schwarz zu weiß und böse zu gut macht.«

Asmus Berg blies den Rauch der Zigarre von sich. »Pah … wenn gut und böse Ammenbegriffe wären! – Ich sehe … mir und meinem Zarathustra sind noch nicht Ohren gewachsen.« Von der Höhe der philosophischen Betrachtung machte er einen plötzlichen Sprung in die triviale Tiefe des Lebens. »Du! Ich bin abgebrannt und muß mir Geld verschaffen.«

Der Vetter Amatus, der einen Wink heraushörte, kraute sich. »Schlag doch mit deiner Herrenmoral [Erg. d. Hg.: im Interesse der Werktreue im Original wieder gegeben] einen reichen Juden tot … ich darf ja nach deiner Lehre kein Mitleid haben und könnte dir nur sechs Mark borgen.«

»Sechzig müßten es mindestens sein, die ich irgend einer Krämerseele mit Gewalt und List abnehmen will … hm, deine Wohltätige könnte auch einmal mir zur Wohltäterin werden.«

Berg ging dreist in Fräulein Lüdemanns Wohnung und sagte höflich zu der alten Dame, die einen großen Haufen kleiner Münzen sortierte, daß sie sich im Dienste ihrer Mitmenschen aufreibe. Ja, sie habe in diesen Tagen eigenhändig eine Hauskollekte für das Waisenhaus gesammelt.

»Fällt es Ihnen nicht schwer, die Leute um Geld und Gaben anzusprechen?« Die Frage war ein Fühler.

»Nein, für andre zu bitten, macht der Herr unendlich leicht.«

Bei diesen Worten wurde dem abgebrannten Studenten leicht und keck ums Herz. »Mein Vetter, von dem ich komme, war in großer Verlegenheit und hatte nur sechs Mark … leider konnte ich ihm nicht unter die Arme greifen, da ich selbst gegen Schluß des Semesters …«

Sie verstand, was er verschluckte, und lächelte. »Sagen Sie nur, wie viel! Eine Fürbitte für andre wird immer erhört.«

Das Fräulein trippelte in die Schlafstube, holte unter dem Bett einen eisenbeschlagenen Kasten hervor und kniete vor der Mammonskiste.

Die Hand, die ihm drei Goldstücke hinlegte, küßte der Dankbare und flüsterte vertraulich und vorsichtshalber: »Ich möchte nicht, um das Zartgefühl meines Vetters zu schonen, daß er etwas von dieser Sache erführe.«

Nein, die Wohltätige ließ ihre linke Hand nicht wissen, was die rechte tat, und schaute dem Hinausschreitenden mit dem Blick der Überzeugung nach, daß ihr Halbneffe Berg ein guter Mensch sei.

Der gute Mensch ging in die schmale Freikammer seines Vetters und sagte großmütig: »Komm, heute wollen wir uns fix amüsieren, und ich halte dich frei.«

Durch mancherlei Wirtschaft wanderten sie selbander und wurden immer lustiger. Es war eine von Junkers Eigentümlichkeiten, die der Vetter kannte, nämlich daß er nach dem dritten Glase nicht mehr gut nein sagen konnte, wenn er mit der nötigen Freundlichkeit genötigt wurde.

Sehr spät standen die Studenten vor dem hell erleuchteten Lokal, das die Lotosblume hieß, und aus dem kreischender Singsang auf die Straße hinaus scholl. Der Verführer sagte ermunternd: »Schöne Heben kredenzen die schäumenden Gläser.«

»Schäumend? Ja gewiß, denn fünf Zehntel sind Schaum … aber zehn Pferde ziehen mich da nicht hinein.« Hier vermochte Amatus, eingedenk des Worts, das er vor langer Zeit der Mutter gegeben, energisch nein zu sagen.

Vor der Lotosblume trennten sich die Wege der Vettern in der fix veramüsierten Nacht. – – – – –]

Hans Gerichtsdiener trottete in den großen, geschmierten Stiefeln auf dem holprigen Pflaster Norderhafens seine Beamtengänge ab und schwatzte gern mit den Leuten. Weil die stereotype Redewendung »Mein Sohn, Sie wissen ja, der Student« in seinen Gesprächen oft wiederkehrte, gaben die boshaften Schreiber, mit denen er kein Glas mehr trank, dem alternden Gerichtsboten den Spitznamen »Hans Student«.

Es war in diesem Sommer, wo die neuen Enthaltsamkeitsapostel, die sogenannten Goodtemplars, die dänische Grenze überschritten und in Nordschleswig einen Kreuzzug wider den Alkohol predigten. Sie warben viele Anhänger und erregten großes Aufsehen in der Stadt, weil sie manchen Trunkenbold aus der Gasse hoben und zum nüchternen Menschen machten.

Aber Hans ging nicht zu den Goodtemplars, sondern warf sich etwas prahlerisch in die Brust und erklärte jedem, der es hören wollte, daß er mit sich selbst den ersten Enthaltsamkeitsorden in Nordschleswig gegründet habe und der allererste Temperenzler Norderhafens gewesen sei.

Zu seines Weibes herzlicher Freude blieb er strikt enthaltsam. Sogar der Hardesvogt mußte einmal sagen: »Alle Achtung, Schwager! Du bist ein Fester!« Da hatte er, beim Sonntagbesuche, im Nebenzimmer zwei Gläser Wein eingeschenkt und das eine stillschweigend vor Hans Junker hingeschoben. Es war ebenso stillschweigend denselben Weg zurückgeschoben worden.

»Was? Darfst du auch keinen Wein trinken, Hans? Dabei habe ich mir wirklich nichts gedacht [später: Das habe ich nicht gewußt].«

Auf dem Heimwege gab der Gerichtsdiener seiner Ehehälfte einen vertraulichen Puff und plierte pfiffig. »Dein Bruder legt Fallen, in die nur eine dumme Maus hineingeht.«

Monika flüsterte, seinen Arm ergreifend: »Hans, es ist wie vor fünfundzwanzig Jahren und unsre Ehe wieder friedsam und gut und glücklich geworden.«

Worauf er jugendleicht die Beine warf. »Mutter, wenn man einen Sohn hat, der Pastor wird, paßt sich das nicht mehr … ich trinke keinen Spiritus … außer beim Abendmahl, versteht sich.« –

Eines Morgens [später anders: An dem Abend] hatten Mutter und Tochter eine rechte Weile still beieinander gesessen, und jene fragte: »Woran hast du gedacht, Friedline?«

»Ich habe für den Bruder gebetet … und du, Muttchen?«

»Ich habe auch für ihn gebetet, denn eine Ahnung unruht mich, als wenn er in Widerwärtigkeiten wäre … es sollte doch nicht das Geld ihm ausgegangen sein?«

»Nimm zwanzig Mark von meinem Gelde und sende es ihm!« Friedline, die vor kurzem ein Blindenlegat von sechzig Mark jährlich bekommen hatte, lief zum Schränkchen, das ihr gehörte.

Lange hat Frau Junker sich und ihren Gott und ihr Gewissen gefragt, ob es recht sein würde, und ist schließlich doch zur Post gegangen.

Amatus war nicht in finanzieller Bedrängnis, aber in Herzensunruhe und Seelennot. Die wetterwendische Waldfee, die zuweilen durch ihr Zuspätkommen ihn gequält hatte, war zum letzten Stelldichein im Kronsberger Walde nicht gekommen. Zwei Stunden ging er harrend auf und ab, bis die ersten Lichter in der Stadt angezündet wurden und die letzte Hoffnung erlosch.

An dem Freitischfreitag, den er seinen Foltertag nannte, hatte er seinen Kummer und seine Vorwürfe in einem Brieflein ausgesprochen, das er, um es schnell bei der Hand zu haben, in der Westentasche barg. Auf dem dämmrigen Flure meinte Junker das Parfüm des pomadisierten Evers, für das er eine scharfe Witterung hatte, zu riechen, und schaute sich stutzend um. Dort stand das untersetzte Herrlein [später: ja der Stutzer] breit vor dem Spiegel, bürstete sich die Haare glatt und zwirbelte den allzu kurzen Schnurrbart.

Vor der Tür des Eßzimmers verbeugte sich der Theologe vor dem Mediziner in höheren Semestern [später: seinem Kameraden], aber mit einem malitiösen [später: maliziösen] Lächeln. »Bitte, Herr [später ergänzt: Kandidat] Evers, Sie sind [später: du bist] der Ältere!«

Selbstverständlich nahm [später entfallen: Herr] Evers die Ehre des Vortritts an, klopfte und drückte die Klinke auf. In dem Augenblick fuhr der Teufel der Bosheit in Amatus, und hinterrücks die Hand über dem Haupte des Ahnungslosen erhebend, strich er mit allen fünf gespreizten Fingern durch das geklebte Haar, so daß die fettigen Strähnen hoch und wirr und wild nach allen Seiten standen.

Der übel Frisierte konnte nicht mehr zurück und stand mitten im Zimmer, ungelenk sich verbeugend und mit den nervösen Händen das gesträubte Haar herunterstriegelnd.

»Ich muß an den Struvelpeter auf meinem alten Bilderbogen denken.« Kindlich kicherte Sylvia [später: Sylvia wälzte sich im Stuhle] und lachte den Mediziner aus.

Das Lachen der Waldfee machte dem Theologen einen guten Mut, so daß er trotz seiner Übeltat unverzagt ein- und auftrat. Doch seine Keckheit bekam einen Dämpfer [später entfallen: , als er den Vetter als Mittagsgast vorfand]. Nachdem ein paar geräusperte Ansätze, die er machte, um sich an dem lauten Tischgespräch der andren zu beteiligen, verloren gegangen waren, schwieg er in der stillen Einsicht, daß er hier nicht als Gast sitze, mit der Pflicht zu konversieren, sondern als Freitischler, um sich tüchtig satt zu essen. Solches tat er darum mit einer [später entfallen: gewissen] grimmigen Gründlichkeit, und er aß mechanisch und fast unmäßig von der guten, gebratenen Leber, ohne recht zu wissen, was und wie viel er aß.

Nach Tisch, als Sylvia den Kaffee reichte, griff Amatus in die Westentasche und schob ihr geschwind das Brieflein zu. Ihre Finger, die flink zum Greifen und zum Begreifen waren, hielten es fest; und die Hebe ging harmlos und ohne Erröten weiter.

[Später entfallen: Nur Asmus, der überall und unbemerkt die kleinen Augen laufen lassen konnte, hatte den Vorfall beobachtet.]

Gleichzeitig empfahlen sich die drei [später anders: beiden] Studenten. Auf der Straße trat der Mediziner dicht an den Theologen heran und schrie mit näselndem Geschnaube: »Herrrr! Sie … Sie sind ein Unverschämter.« [Später anders: »Du–u! Das war Perfidie, eine Insultation … du dummer Junge hast mich radikal gemacht … ich werde … ich werde …]

[Später entfallen: Sofort trat Asmus Berg für seinen Vetter in die Bresche. »Herr Evers, das ist eine Insultation!«

Worauf der Mediziner in kläglich hohen Tönen krähte: »Er hat mich insultiert und lächerlich gemacht … ich werde … ich würde ihn auf Pistolen fordern … wenn ich nicht ins Examen ginge.«

Berg sagte ruhig-energisch: »Mein Vetter wird die Beleidigung nicht einstecken.«

Aber Evers begann zu stottern: »Jetzt … jetzt kann ich nicht, des Examens wegen … aber später … später können Sie Satisfaktion bekommen.« Er sprach's und war mit einer höflichen Schwenkung des Hutes verschwunden.

Zwischen den beiden Freitischlern des amtsrichterlichen Hauses ist es trotz der redlichen Bemühung des Sekundanten zu keinem Duell gekommen.

Der Kandidat der Medizin haßte Kugeln und Geknalle und liebte das Leben. Und der Theologe Junker hatte so viel Ehrbegriff und Selbsterkenntnis, daß er das Scheltwort auf seinem Schilde sitzen ließ, weil er sich bewußt war, unverschämt gehandelt zu haben. – – –

Sylvia eilte zu dem Waldstelldichein und in die weit ausgestreckten Arme ihres langen und schmucken Liebhabers. Doch lugte sie scheu durch alle Büsche und schien zu Gewissensbedenken und dem Bewußtsein gekommen zu sein, daß sie auf verbotenen Wegen wandle.

»Weißt du, was ich dir opfre? Amatus, versprich mir, daß du vorsichtig sein und auch nicht deinem besten Freunde etwas von unsrer Liebe anvertrauen willst!«

Mit einem kurzen Ja gab er das Versprechen, das er mit langen Küssen besiegelte.

Der braunäugige Backfisch, der immer üppiger reifte und nur den Zopf der kindlichen Unschuld behalten hatte, war der Reichtum und das Glück des armen Freitischstudenten. Doch es war ein unruhiges und oft aufgeregtes Glück, dem der eigentliche Inbegriff alles Wohlbefindens, der Friede, fehlte. –

Seit jenem Freitage, wo Junkers Brief von Sylvias Fingern festgehalten wurde, war Asmus Berg noch viel liebenswürdiger gegen seinen Vetter geworden und lud ihn zu einem Ausfluge nach dem waldreichen und wunderlichen Seengebiet des Landes ein. »Ich halte dich natürlich frei, und es wird am Essen nicht mangeln, noch auch am Trinken.«

Die Einladung war mit Dank angenommen worden.

Sie betraten ein sonnenschimmerndes Land, in dem allüberall klare Seen wie Blauaugen durch Waldesgrün blicken. Über den Strohdächern stand der Rauchstreif in der windlosen Luft. Durch die Sonntagsstille und den tiefen Morgenfrieden klang plötzlich das Geläut der nahen Dorfkirche.

Amatus hemmte den Schritt und horchte: »Wie friedsam und feierlich!«

Der andre aber lachte blasiert und rief blasphemisch: »Wenn wir an einem Sonntagmorgen die alten Glocken brummen hören, da fragen wir uns: Ist es nur möglich! Dies gilt einem vor zweitausend Jahren gekreuzigten Juden!«

Amatus trat entrüstet zurück. »Du! Das ist abscheulich gesprochen und roh!«

»Nicht ich habe es gesprochen, sondern so sagt mein Zarathustra, welcher als Sohn eines Predigers das Christentum aus erster Hand kannte.«

Auf der Landstraße, während die Kirchenglocken klangen, wurde Junker heftig. »Ich lasse mir nicht Christum zum gekreuzigten Juden und bloßen Menschenmärtyrer erniedrigen. Auch wird kein Philosophist mir die Gewißheit nehmen, daß Gott über aller Welt waltet.«

Wider die Hitze setzte Asmus kühlen Gleichmut. »Du liebst, wie die große Menge, das Unbegreifliche statt des Begriffenen. Was über unsre Welt hinaus ist, können und werden wir nie und nimmer wissen. Das eben ist die Torheit der Wolkensegler, daß sie es wissen wollten und über Anfang und Ende der Dinge, über Jenseits und Ewigkeit phantasiert haben. Solches ist alles vages, eitles, inhaltloses Menschenmutmaßen und geht über die Denkbarkeit hinaus. Die neue Lehre aber schreitet stolz und ruhig an dem Undenkbaren, als an einem ewig unergründlichen Abgrunde, vorüber und will innerhalb der Grenzen der Denkbarkeit und auf der Erde bleiben, deren Entwicklung wir begreifen können.«

Junker war stiller geworden und blickte nachdenklich. »Freilich, das Undenkbare hat mir viel Not gemacht … wenn ich in schlaflosen Nachtstunden über den Begriff ›ewig‹, über das, was keinen Anfang und kein Ende und keine Dimensionen hat, nachdachte, schwindelte meinem Geiste, denn es war hüben und drüben eine entsetzliche und ungeheure Tiefe, in der er versank.«

Asmus Berg lachte: »Nur die Dummheit tut nutzlose Sisyphusarbeit und sucht Undenkbares zu denken, die Weisheit geht mit einem kalten Lächeln daran vorüber … was ich nicht kann fassen, das muß ich lassen.«

Amatus antwortete ernst: »Mit einem Lächeln komme ich an diesem Abgrund des grübelnden Geistes nicht vorüber … ich suche nach einem Halt und Ruheort im kreisenden Wechsel und Wirbel.«

»Hast du den festen Punkt im Universum entdeckt?« fragte der andere, und seine Lippen waren spöttisch.

»Ja, der Glaube ist es … wissen können wir nicht, was über unsere enge Welt hinaus ist … aber kann nicht Gott es einem Menschen gesagt und dieser Gottmensch es verkündet haben? Wo die Denkbarkeit aufhört, ist der Glaube mir und den vielen ein Halt über der Tiefe des unerforschlichen Seins, vor der doch deine kluge Weisheit nur furchtsam-feige die Augen verschließen will.«

Asmus blies den Rauch der Zigarre von sich. »Dein Glaube ist nichts weiter, als der zweitausendjährige Greis des alten und abgelegten Christentums, an den du dich klammerst. Semper idem, immer dasselbe muß ich predigen! Sieh doch um dich mit deinen Sinnen! Während in der Natur das Schwache dem Starken geopfert und so ausgemerzt wird, sucht das Christentum das Große dem Schwächlichen zu opfern. Gleicht es darum nicht dem unsinnigen Gärtner, der die absterbenden Zweige künstlich erhält, ja, um ihnen Luft und Licht zu verschaffen, die gesunden rücksichtslos beschneidet?«

»Nein, es ist gleich dem guten Gärtner, der das kränkelnde Blümlein aus dem Schatten nimmt und ihm Wasser und Sonnenschein gibt, damit es zum starken Gewächs werde und blühe und Frucht trage. Asmus! Wir werden uns niemals einigen, aber noch eins will ich sagen. Dein Zarathustra, der ein schlechthin Neues predigen will, ist alles andre als ein neuer Denker … er hat mit englischen Kälbern gepflügt und Darwins Naturlehre von der Selbstvervollkommnung der Arten, die im Kampf des Daseins durch Ausscheidung des Minderwertigen geschieht, auf das sittliche Gebiet übertragen.«

Der Vetter schmunzelte satirisch. »Lieber! Laß mir das letzte Wort! Du liebst die reine Selbstlosigkeit der gesunden Pflanze, die der kranken und kümmerlichen Platz und Sonne läßt, ich aber predige die krasse Selbstsucht und den Mord des Mitleids, nicht wahr? Aber nun höre und siehe, wenn du sehen kannst! Der, welcher Mitleid fordert, will von andern gefüttert und geschont und gehätschelt werden … ist das nicht die schmutzigste Schmarotzerselbstsucht? Ergo, wer ein Freund des Mitleids, ist ein Förderer des unsaubersten Egoismus. Du Selbstloser! Gehe hin und durchdenke diese Immoralität in deinen schlaflosen Nächten!«

Amatus Junker mußte dem Vetter das letzte Wort lassen, weil sie gerade Einkehr hielten, um ihren hungrigen und durstigen Leib zu stärken.

Die philosophischen Peripatetiker wurden praktische Epikuräer, welche die Genüsse der Tafel, die Schönheit des Tages und die Lust der Jugend mit vollen Zügen genossen.

In der lieblich wasserreichen Landschaft standen viele Wirtshäuser mit weit offenen, schattigen Veranden. Oft ließen sich die Wanderer zu kurzer Rast einladen, und es wurde sehr viel Bier getrunken in der schönen, wasserreichen Gegend. Der gute Vetter schien um so mehr Freude an der Sonntagsfahrt zu haben, je aufgeräumter Amatus scherzte.

Gegen Westen sank die Sonne, deren Strahlen durch das Laub sich zwängten und auf dem blanken, völlig unbewegten Spiegel des Sees zauberhaft spielten. Zwischen hohen, dunkelgrünen Buchenhügeln tief, rätselhaft schön und sagenumwoben liegt der See.

Man machte eine Bootfahrt, wie die vielen andern. Vom Ruderschlage gestört, regte sich das schlafende Gewässer und gurgelte, gleich dem müdeleisen Seufzer eines Schlummernden. Langsam trieb der Kahn. Silbertropfen stäubten von den Rudern. Schwärzliche Wildenten tauchten, ein armes Fischlein jagend, während schwarzköpfig weiße Möwen die Böte umkreisten, um die geworfenen Brosamen zu erhaschen, denn im Schilfneste lagen ihre ewig hungrigen Jungen mit offnen, schreienden, unersättlichen Schnäbeln.

Schon neigte sich der Tag zu seiner Ruh und seinem Frieden.]

[Neuer Anschluss an den Streit zwischen Evers und Amatus Junker: (…du dummer Junge hast mich radikal gemacht … ich werde … ich werde…«)

»Was wirst du?«

»Dir eine Watsche herunterhauen.«

»Dann würde ich dich auf Säbel oder Pistolen fordern.«

Amatus nahm die Sache nicht tragisch und lenkte ein. »Ein perfides Gelüst fuhr mir in die Finger, als ich deine pompöse Frisur sah … es war ein böser Possen … sei mir nicht böse, Viggo! Ich lasse den dummen Jungen auf meinem Ehrenschild sitzen, und du verzeihst den schlimmen Streich und Strich.«

Der Mediziner, der ein Duellgegner, ein Feind von Kugeln und Geknalle war, ging schnell auf den Vergleich ein. Amatus streckte zur ehrlichen Versöhnung die Hand aus, die der andre ergriff. Aber in dem Blicke Viggos lag ein Hinterhalt, und er sagte mit einer harten Lache: »Warte nur, ich revanchiere mich doch.«

»Wie willst du dich revanchieren?«

»Durch ein Glas Bier, durch einen Versöhnungsschoppen, den wir in der ›Palme‹ trinken.« – Dieser Mensch kannte die Achillesferse des wackren Amatus und den schwachen Punkt, wo Monikas Sohn leicht zu fassen und leicht zu fällen war.

»Es ist ein lustiger Ort, ein Tempel Epikurs, wo man nach der Lebensweisheit dieses Weisesten von allen Philosophen lebt und lustig ist.«

Jeder Anhänger einer Lehre ist bestrebt, Proselyten zu machen; und Viggo hielt nicht mit seiner billigen Weisheit hinter dem Berge. Amatus hatte schon einmal seinen Deismus, seine einzige Voraussetzung »Gott ist« gegen die Philosophie eines Studenten, der die Zarathustra-Glocken hatte läuten hören, verteidigt. Hier begegnete er einem andern Philosophen, der sich einen Schüler Epikurs nannte. Der einstige Herrnhuter hatte sein Christentum gründlich über Bord geworfen, predigte den krassen Materialismus und die Kunst, das Leben mit Raffinement zu genießen.

»Als Mediziner, der in der Anatomie ein paar Dutzend Leichen seziert hat …«

»Heiliger Nepomuk! Zwei Dutzend! Wo kommen die – da wir rund 200 Medizinstudierende haben – die 4800 Leichen her?«

Viggo ließ sich durch solche Rechenexempel nicht beirren. »Als Mediziner weiß ich, daß es keine Seele gibt … mit dem feinsten Mikroskop ist kein Seelenatom im Kadaver zu finden. Gibt's aber keine Seele, so gibt's auch keine Seligkeit! Macht hier das Leben gut und schön, kein Jenseits gibt's, kein Wiedersehen.«

»Pfui, das ist häßlich«, sprach der Theologe indigniert.

»Nein, das ist gut und schön! Keinen Schreck vor Schrecknissen des Jenseits, keine Angst vor eingebildeten Fegfeuerqualen, Höllenteufeln und Pfaffenspuk! Der Mensch hat nur die süße Lust des Lebens zu schlürfen, solange er lebt, hat nur den Becher zu leeren, aber langsam, mit Maß und Verstand. Das ist die ganze Lebenskunst: Lust und Unlust richtig gegeneinander abwägen! Oft muß man eine kleine Unlust auf sich nehmen, um eine größere Lust sich zu erkaufen, oft muß man auf ein kleineres Vergnügen verzichten, um ein größeres Pläsier zu haben, z. B. wenn ich alle Tage Austern essen kann und ich esse sie, so schmecken sie bald fade; wenn ich aber drei Tage darauf verzichte, so munden sie mir am vierten wie Götterspeise.«

»Mir munden die Austern überhaupt nicht, so wenig wie deine Austern-Moral«, sagte Amatus.

Aber er ließ sich hineinführen in den Tempel Epikurs, in die »Palme«, wo kurzröckige, kurzmiedrige Heben Aktienbräu und Wein kredenzten. Detaillierte Vorschriften des ethisch veranlagten Wirts regelten das Verhalten der Heben den Gästen gegenüber, und der erste Paragraph des Kellnerinnen-Kodex besagte: »Jede Kellnerin hat eines bescheidenen und gesitteten Betragens sich zu befleißigen und darf nur mit dem Gaste, der einen Schoppen Bier für sie bezahlt, eine kurze, anständige Unterhaltung führen.« Die weiteren Paragraphen lauteten: »Wer aber eine Limonade oder ein andres Getränk zum Preise von fünfzig Pfennigen für sie ausgibt, zu dem darf die Kellnerin zehn Minuten lang sich setzen. Die besseren Gäste, die eine Flasche Wein bestellen und bezahlen, haben nach freier Auswahl ein Mädchen zur ausschließlichen Bedienung und Unterhaltung, jedoch mit der Maßgabe, daß nach Verlauf einer Stunde eine neue Flasche gefordert wird.«

Der letzte Paragraph des Sittenkodex sagte: »Wer mit Sekt sich und seine Bedienung traktiert, hat ein separates Kabinett und eine separate Bedienung zu beanspruchen.«

Evers trat nonchalant auf und wählte eine Flasche Wein und die Kellnerin Franziska, die er das schöne Fränzel nannte. Amatus hatte kein Auge für die Reize der geschminkten Schönen, Viggo aber um so mehr. Dieser machte nach einer halben Stunde dem schönen Fränzel eine Liebeserklärung – und er verschwand plötzlich mit der Kellnerin, die einen Champagnerkübel trug, in einem separaten Kabinette.

Amatus glotzte ihm nach und richtete seine Augen und Sinne auf die Flasche, die er langsam leerte. Das süße Wohlgefühl des Alkohols prickelte in seinen Adern, die Misere des armen Freitischstudenten lag weit hinter ihm, er wurde mit jedem Glase glücklicher und daseinsfroher.

Wo blieb Viggo solange? Längs der Wand lagen die kleinen, mysteriösen Geheimgemächer, die wie schmale Beichtstühle anzusehen waren. Fränzel holte eine neue Flasche Schaumwein, Viggo beichtete sehr lange. Aber dem Studiosus Junker, dessen Flasche leer war, wurde die süße Sündenbeichte langweilig, so daß er alleine und ungebeichtet gehen wollte.

Da erschien der Gnadenfelder Epikuräer, der merkwürdig schnell die Palme verließ. Warum wohl?

Lau und linde war der Sommerabend und die Sonne zur Ruhe gegangen hinter dem Purpurvorhange. Viele Böte schwammen auf der Föhrde; vom Ruderschlag gestört, gurgelte das schlafende Gewässer, gleich dem müdeleisen Seufzer eines Schlummernden.]

In einem Boote [später: Kahne] drüben sang ein Weib, eine helle und hohe Stimme, und man unterschied die Töne.

»Mein Liebchen, wir saßen beisammen
Traulich im leichten Kahn,
Die Nacht war still, und wir schwammen
Auf weiter Wasserbahn.«

Amatus Junker [später entfallen: hielt das Ruder hoch und] starrte hinüber und horchte. Ergreifend ist schöner Gesang über den Wassern zur Zeit des Abends, wenn der Tag schon zur Erinnerung wird. Aber auch ein andres strich mächtig über sein Gemüt, und gedämpfte Worte entglitten seinen Lippen: »Das ist Klarissa Reders Stimme, ich würde unter vielen, vielen sie erkennen.«

»Ja, ein hübscher Alt!« antwortete Asmus [später anders: Viggo], »und sie mag es sein, denn ich hörte, daß Fräulein Reder in der Universitätsstadt eine Stellung als höheres Haus- und Küchenwesen inne hat.«

Junker lauschte den letzten, lang erklingenden Tönen des Liedes, und ihm war, als wenn dort über den Wassern seine erste Jugend mit ihrem Licht und ihrer Liebe emporstiege und ihm winke. Obgleich Klarissa Reders Züge durch neue Eindrücke verwischt und ihm fremd geworden waren, träumte noch ihre trauliche Stimme in seiner Seele, ihm unbewußt, wie alles Traumhafte.

[Später entfallen: Der phlegmatisch unpoetische Vetter steuerte pfeifend dem Lande zu. »Wir müssen uns beeilen, wenn wir den Zug noch erreichen und vorher noch den ewig letzten Schoppen trinken wollen.«

Die Heimkehr in die Universitätsstadt war sehr heiter, und sie tranken viele von den letzten und allerletzten. Asmus konnte infolge der täglichen Übung ein Fäßlein trinken und vertragen; zuweilen streifte sein Blick den überlustigen Theologen und leuchtete fröhlich auf. Er schien den Feind zu kennen, der den Vetter zu fällen vermochte.]

[Stattdessen später: Evers, der einen Stiefel vertragen konnte, ging an keiner Schenke vorüber, bestellte immer wieder den allerletzten. Zuweilen streifte sein lauernden, leuchtender Blick den überlustigen Theologen. Er sah auf den brennenden Wangen den Feind, der den guten Amatus zu fällen vermochte. Den andern betrunken zu machen, war seine Freude und seine Revanche.]

Nach einer neuen Runde hob er das Glas: »Vivat Klarissa Reder, deine erste und deine letzte Liebe!«

»Meine letzte?« Die Frage sagte viel.

Bergs biederes Gesicht wurde noch biederer. [Später anders: Viggo machte ein biederes Gesicht.] »Nun … die Sylvia ist ein spröder Racker, bei dem niemand sich einer Gunst rühmen kann.«

»Meinst du?« Amatus warf sich in die Brust.

[Später entfallen: Die biedere Miene des Vetters wurde Vertrauen erweckend.] »Wie weit bist du mir ihr gekommen?«

»Haha! Weiter als der geölte Mediziner [später anders: du mit deiner geölten Frisur]!«

In vino veritas! Im Wein und auch im Biere ist die Wahrheit.

Berg sah eine Weile stumm in den Nebel des Zigarrenrauchs, der die Schenkstube durchwogte, und sein Gesicht [später anders: Viggo zog die Lippen schmal und] wechselte die Farbe. Doch war er bald wieder der lustige Gesell, der des Zutrinkens kein Ende und vor zwei Uhr keinen Schluß des frohen Tages finden konnte.

Arm in Arm zogen die Vettern [später anders: Zecher], und Amatus summte: »Frei ist der Bursch, frei ist der Bursch.« Er ließ aber keinen lauten Gesang erschallen und wollte Nachtigallenunfug nicht treiben.

Vor der Nummer 34 der Mittelgasse blieb er stehen. »Psttt! Möglichst still, damit die Alte nicht aufwacht!« Nachdem er mit dem Schlüssel vergebens gezielt hatte, öffnete Asmus [später anders: Viggo] und führte ihn durch den Flur und in sein Zimmer. »Pstttt!« Amatus hielt sich stramm und ging wie auf Socken; aber der Führer stolperte fürchterlich auf der Treppe, so daß es im ganzen Hause widerhallte. [Später entfallen: Sobald der Heimgelotste im Bette lag, wünschte Asmus ihm mit einem unangenehmen Lachen eine angenehme Ruhe.]

Fräulein Lüdemann [später: Lindemann] war durch den nächtlichen Lärm geweckt und erschreckt worden. In der Angst, daß Diebe am Einbrechen wären, riß sie den alten Säbel, der nachts neben ihrem Bette stand, aus der Scheide und sprang empor. Hinter der Glasscheibe des Korridors stand sie in Nachtjacke und Nachtmütze mit dem Lichte in der Hand [später entfallen: und klopfte tapfer an die Scheibe, als sie den heraustretenden Berg erkannte.

Er verbeugte sich vor der weißen Nachtfee, welche die Tür halb öffnete und vor ihm stand, mit dem Säbel in der Rechten und dem Lichte in der Linken.

»Was machen Sie für einen Höllenlärm? Soll ich aus dem Fenster nach dem Nachtwächter schreien?«

Er erkannte, daß er sich und seinen Ruf rücksichtslos retten müsse. »Entschuldigen Sie gütigst! Ich fand meinen Vetter in einem etwas animierten Zustande und begleitete ihn nach Hause.«

»Mein Gott!« Wie kann der Mensch, der völlig unbemittelt und auf Freitische angewiesen ist, in einen solchen Zustand geraten?«

»Ich vermute … durch reichlichen Biergenuß. Verzeihen Sie ihm und mir die Störung!«

Nachdem sie den Säbel gegen die Wand gestellt, schlug sie energisch mit der Hand aus. »Ich kann in meinem Hause keinen Trinker dulden! Bin ich doch im Verein gegen den Mißbrauch geistiger Getränke und auch im Vorstand der Kaffeeschenke am Hafen … ich darf es nicht dulden!«

Berg verneigte sich. »Verehrtestes Fräulein, Sie wissen besser als ich, wie oft ein Mensch sich gedulden und vergeben muß …«

Voll Liebe schaute Fräulein Lüdemann ihm in das übernächtigte Gesicht. »Ja, ich habe mich vom Jähzorn hinreißen lassen und danke Ihnen, mein lieber Herr Neffe, daß Sie mich an meine Pflicht als Christin erinnert haben … ich werde vergeben … gute Nacht!« – – –]

[Später ergänzt im Anschluss an … stand sie in Nachtjacke und Nachtmütze mit dem Lichte in der Hand,: und sie fragte sich entsetzt, wie ein Mensch, der völlig unbemittelt und auf Freitische angewiesen sei, in einen solchen Zustand geraten könne. – ]

Spät morgens kroch Amatus aus dem Bette. Sein Körper war schlaff, sein Kopf ein hämmerndes Pochwerk, sein Gemüt Ekel und sein Gewissen Angst. Vor seinen Ohren summte die unerträgliche Melodie, die er nicht los werden konnte und zur Hölle verfluchte: »Frei ist der Bursch«.

Unfrei, unfrei war der Bursch! Diese Trinkerei war nicht mehr frohe, hohe Burschenlust, sondern tiefer Fall und häßliches Laster. Wie oft hatte er sich gelobt, nie mehr als drei oder vier Glas zu trinken – und ebenso oft das Aufhören im rechten Augenblick vergessen.

Tat er, was er nicht wollte? War er nicht Herr und Herrscher seines Tuns?

Oder handelte er nach den Instinkten und Trieben eine unheimlichen Macht, der sein Wille unterlag? Gibt es denn in der Menschenbrust noch ärgere Abgründe als die, welche der Verstand und die Dankbarkeit der sogenannten Philosophen nicht überbrücken?

Bald raffte er sich entschlossen auf, um Fräulein Lüdemann [später: Lindemann] unter die Augen zu treten. Ein böses Omen war es, daß die Brille auf der Nasenspitze saß. Etwas kleinlaut drückte er sich in die Fensterecke, als die rotgeränderten Augen ihn ansahen. Sie folgten aber und standen fest durchbohrend vor ihm.

Endlich öffnete das graue Medusenhaupt den Mund: »Sie haben, Gott sei Dank, noch Scham und senken den Blick … darum will ich diesmal verzeihen.« Die Brille rückte von der Nasenspitze auf die Nasenwurzel. »Nehmen Sie dort Platz und hören Sie aufmerksam zu! Die Betrachtung, die im gestrigen Blatte stand, ist für Sie geschrieben.«

Fräulein Lüdemann [später: Lindemann] las ihm eine acht Seiten lange Predigt des Pfarrers Blumhardt in Bad Boll vor. Er vernahm, daß das Gebet als das einzige Heilmittel der Seele und als Hauptwaffe wider die Anfechtung des Bösen gepriesen wurde. Während des Lesens dachte er an seine Mutter, die eine Beterin war, und faßte den Entschluß, mit dem Gebet es zu versuchen.

Tante Lüdemann [später: Lindemann] schob die Brille nach unten und schaute ihn an. »Wollen Sie die Verpflichtung der völligen Enthaltsamkeit für einen Monat unterschreiben?«

Weil seine Reue echt war, sprang er empor und holte selbst die Feder.

Sie nahm lächelnd das Formular und klopfte versöhnt ihm die Schulter. »Mein lieber Amatus, um Ihrer Schwachheit beizustehen, haben Sie den Hausschlüssel abzuliefern und werden keinen wieder bekommen … er ist Ihnen ein Fallstrick gewesen. Wenn Sie einmal in Zukunft nach zehn Uhr sich verspäten, was ich nicht hoffen will, so müssen Sie das Dienstmädchen herausklingeln.«

Junker trennte sich ohne Abschiedsschmerz von dem Hausschlüssel. Seine Reue war aufrichtig, und die guten Vorsätze überdauerten den bösen Jammer. Einen vollen Monat hielt er sein Gelübde und lebte nach dem Spruche: »Ora et labora«.

Aber den Vorsätzen des Theologen ging es wie seinen Gebeten. Sie hörten nicht mit einem Male auf, sondern wurden von der gleichmäßigen Gewöhnung der Tage in Schlummer gewiegt und schläferten allmählich ein.

Sobald die Zeit seiner Enthaltsamkeit um war, hörte er auf das Verlachen und Verlocken der Kommilitonen und betrat wieder den »Blutigen Knochen«.

An einem Sonnabend kam er spät heim und ohne Hausschlüssel in das Haus, und die Tante hörte kein nächtliches Klingeln. Mit der guten Karoline auf einem vertrauten Fuße stehend, kletterte er über den Zaun des Hofes und klopfte leise an ihr Fenster.

Sie huschte auf geräuschlosen Strümpfen hinunter und öffnete die Hintertür, und er ging dankbaren Herzens und mit einem sittsamen Gruß an der notdürftig bekleideten Küchenfee vorüber.

[Später ergänzt: Seiner Waldfee war er treu. Der braunäugige Backfisch, der immer üppiger reifte und nur den Zopf der kindlichen Unschuld behalten hatte, war der Reichtum und das Glück des armen Freitischstudenten. Doch es war ein unruhiges und oft aufgeregtes Glück, dem der Friede fehlte.]


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