Franz Dingelstedt
Die neuen Argonauten
Franz Dingelstedt

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Thalia

Kein Unglück ist so groß, daß es nicht in gewissem Sinne zum Glück heranblühen müßte. Trenttelfuß sah dies ein, als er am frühen Morgen von seinem Lehrling geweckt wurde. Nicht nur, daß er vortrefflich geruht hatte in den bekannten und bequemen Umgebungen und daß er zum zweiten Male das Vergnügen und die milden Rührungen einer neuen Abreise empfinden konnte, wie ein Schriftsteller bei einer wiederholten Auflage seines Werkes zum zweiten Mal seinen Vor- und Lobredner machen darf: nicht nur dies waren die Früchte seines weisen Entschlusses der Heimkehr, sondern ein weit Größeres. Als er nämlich aufstand, sah er seinen Bräutigamsanzug, den er wohl eingepackt im Seehundkoffer wähnte, erstaunt in Lebensgröße vor dem Bette liegen. Seinen Augen kaum trauend rief er Margarethen, und Margaretha gestand stammelnd, sogar mit einzelnen Tränen, sie habe ihn vorgestern Abend beim Einpacken vergessen und gestern abend erst wiedergefunden gehabt. Herr Trenttelfuß geriet in majestätischen Zorn. »Frauenzimmer!« sagte er, und dieses Wortes bediente er sich nur im höchsten Affekte, »wenn ich nun nicht umgekehrt, sondern nach Kesselstadt gelangt wäre? Und wenn ich nun in meiner ganzen Blöße, d. h. ohne den neuen schwarzen Anzug vor meiner Zukünftigen gestanden hätte, gleichsam ein zweiter Adam im Paradiese, mich schamhaft mit dem Schönfahrsegler als Feigenblatt bedeckend? Würdest du nicht alle Schuld tragen müssen, hier und jenseits?«

Es galt aber kein langes Besinnen, da Eusebius wußte, wie pünktlich die über Nacht getaufte »Hoffnung« abzustoßen pflegte. Schnell ward deshalb, damit er noch zur rechten Zeit an Bord anlange, um mit seinen Gefährten warten zu können, der Bräutigamsfrack samt Modesten in denselben Mantelsack gepackt, den Eusebius seliger Erzeuger in seinen Blütetagen als Commis voyageur für seinen Erzeuger hinter sich geführt hatte. Und weil der Marktmeister doch unmöglich sein eigenes Kamel sein konnte, mietete er, in der Eigenschaft als Vieh- und Fleischbeschauer mit der gesamten Metzgerzunft wohl bekannt, in aller Frühe den Stechschimmel, worauf der Metzgermeister Daue seine Kälber heimzuführen pflegt.

Auf diesem Tiere, den sorgfältig aufgepackten Mantelsack hinter sich, verließ Eusebius um fünf Uhr morgens die gute Stadt Gersfeld. Allein heute begegnete er weder dem blasenden Kuhhirten, noch dem Armenschullehrer; nur der Rentereigehilfe sah bereits aus dem Fenster heraus und nickte hämisch, indem er die Pfeife ausklopfte, und fragte, ob der Herr Marktmeister schon wieder verreisen wolle und wie es ihm in Kesselstadt gefallen habe? Eusebius verachtete ihn und schwieg. Ihm selber däuchte es seltsam, daß er auf dreierlei Weise, zu Fuß, zu Schiff, zu Roß seine Heimat verlassen müsse; allein er freute sich dessen.

Daues Stechschimmel teilte die Lust zum Stehenbleiben mit dem Bock des Schiffers, allein größeren Aufenthalt verursachte dem Reiter das alte und mürbe Geschirr, das, von Margarethen in Hast und Unwissenheit aufgelegt, alle Augenblicke zerriß oder in Verwirrung geriet. Deswegen sah sich Eusebius genötigt, oft abzusteigen und seinen eigenen Stallmeister zu machen, den Steigbügel zu verkürzen, den Schwanzriemen zusammenzunesteln oder gar die Motten aus dem Pelzwerke der aufgelegten Pistolenhalfter herauszuklopfen. Unter solchen Beschäftigungen war es etwa halb sieben Uhr geworden, bis der Reiter, um eine Ecke der vielfach gekrümmten Straße biegend, das Ziel seines gestrigen Leidens, Rastlos nämlich, vor sich liegen sah. Ja, Rastlos lag wohl, allein der Bock – war verschwunden. Bestürzt hielt Eusebius – oder der Kälberschimmel selbst? – stille. Die Dulfe zog gemachsam durch die kahlen und gemütlich anschwellenden Sandhügel zu beiden Seiten hin, sich kurz hinter Rastlos in einem zierlichen Bogen verlierend, aber auf ihrem ganzen Laufe war Martins Bock nicht zu erblicken. Sich schnell zu fassen, war unseres Helden erste Tugend, herrlich bewährt am gestrigen Abend durch die gewagte Heimkehr. Auch im jetzigen kritischen Moment entschloß er sich bald, seinen Renner – noch stand er – beizuhalten und das Schiff, meinetwegen erst in Rautenburg, wenn nicht früher einzuholen. Es ist schon hieraus ersichtlich, wie des Helden Liebhaberei durch die Irrfahrt am gestrigen Tage bedeutend geschwächt worden war, allein wer verdächte es ihm, wenn er die Tugenden des Bockes und des Schimmels unparteiisch vergliche? Bei seinem Einfluß auf den Metzgermeister kam es zudem nicht darauf an, wann der Schimmel in seines Herrn Stall zurückkehrte, ob von Rastlos aus, wie Eusebius verheißen, oder erst abends von Rautenburg.

Straße und Strom trennen sich in Rastlos. Dieser sucht die ebenen Stellen und schleicht behutsam durch die Berge hinab gen Kesselstadt. Jene, als Kunstwerk sich höhere Ziele setzend, schlägt sich im kühnsten Bogen über jede mögliche Anhöhe unterwegs und nimmt alle rechts und links liegen bleibenden Dörflein, Hüttenwerke und Chausseehäuser liebend an die Hand. Es liegt darin nicht nur eine großartige Belebung der Straßenbaukunst, daß man stets die schwierigeren Wege wählt, sondern auch eine gewisse Humanität gegen die Ortwohner, denen man durch Gelegenheit zum Vorspannen selbst einen Vorspann leistet. Nur Unverständige können Absichten derart verkennen.

Eusebius brachte mühsam seinen Gaul in den gewöhnlichen Kälberpaßgang und ritt durch Rastlos. Ein Vorübergehender sagte ihm, das Schiff sei eben abgegangen, und er müsse es bald einholen; worauf Eusebius dieses nicht nur einholte, sondern überholte, so stark und so ungescheut trieb er mit den Fersen seiner freilich spornlosen Füße den Schimmel an. Seiner Rechnung nach mußte er mittags gegen drei Uhr in Rautenburg sein, wo er als dann die »Hoffnung« – er kannte sie bis jetzt freilich nur als Bock – abwarten und mit ihr seinen Weg fortsetzen wollte. Einen unerwarteten Verzug machte ihm aber die Mittagsrast seines Tieres, aus der dieses erst nach vieler Mühe und mit einer dem weichen Herzen Eusebius innerlichst widerstrebenden Härte aufgeschüttelt werden konnte. Dadurch war es fünf geworden, als Eusebius vom letzten Hügel herab die Residenzstadt Rautenburg am Dulfe-Ufer liegen sah. Auf dieser, der Dulfe nämlich, war zur Zeit von dem Schiffe noch nichts zu erblicken.

Seelenvergnügt stieß der Schimmel, der eine immer täuschendere Ähnlichkeit mit dem Bocke im Laufe näherer Bekanntschaft entwickelt hatte, die steinige Straße hinab. Eusebius merkte schon an allerlei Zeichen die handgreifliche Nähe der Residenz. Die Chausseewärter grüßten ihn nicht mehr, ebensowenig als die Lustwandelnden; ja ein junger Fant unter diesen rief höhnische Worte hinter dem harttrabenden Marktmeister her, die wir aus Ehrfurcht vor seinem Charakter hier nicht wiederholen können. Erzürnt, aber ruhig drehte sich Eusebius im Sattel um, den Frechen mit einem Blicke niederzuschmettern; allein er gewahrte weder den Frechen, noch – o Not, o Entsetzen, o Schicksal! – seinen Mantelsack. Beide waren verschwunden, jener am Wege, dieser vom Rücken des Schimmels. Eusebius war keines Wortes, keiner Träne fähig, und mit Wehmut muß sein Geschichtsschreiber eingestehen, daß hier zum ersten Male sein Gemüt zu wanken anfing, daß ein entsetzlicher Fluch zum blauen Himmel emporstieg. Mit Wut riß er den bockenden Stechschimmel am Zügel herum und murmelte, ihn mit geballter Faust zwischen beide Ohren schlagend: »Deshalb ging die Bestie so leicht und so schnell, weil das Beste verloren war!« Er maß seinen Weg zurück, und gern würde er es in einem seinem inneren Ingrimm entsprechenden Galopp getan haben, wenn nicht das Pferd und der Zweck seiner Umkehr so entschieden widersprochen hätte. Jenes verlangte wie dieser Mäßigung, damit man unterwegs nicht nur verschnaufen, sondern auch alle Vorüberziehenden fragen und jeden Busch, jedes Loch am Weg durchstöbern könnte.

Der Abend brach heran, ohne daß das Vermißte gefunden wäre. Eusebius war wieder an der Schenke angelangt, wo er mittags gerastet hatte, und forderte jetzt den Knecht und mehrere müßig umherstehende Bauern auf, ihn mit Laternen, mit Heugabeln, mit Dreschflegeln zu geleiten. »Es könnte ja sein, daß wir der Bande begegneten, die mir mein Teuerstes hinter meinem Rücken geraubt hat«, sagte er und sah seinen Landsturm beweglich an. Mit einer Schar Leuchtender und Bewaffneter brach er, selbst zu Roß an ihrer Spitze reitend, auf, als das Dunkel der Nacht schon auf der Landstraße lagerte.

Diese senkt sich unweit des Dorfes in eine berüchtigte Vertiefung, wo vor Jahren einmal von drei vermummten und bis an die Zähne bewaffneten Schurken einem vom Viehmarkt zu Gersfeld heimkehrenden Juden zwei prächtige Schweine abgenommen worden waren. Seit dieser Zeit hieß die Senkung nicht anders als die »Judenpritsche«.

In dieser Judenpritsche saß, als Eusebius und seine bewaffnete Macht herangezogen kam, ein verdächtig aussehender Mensch, an den der Marktmeister sogleich unerschrocken heranritt. »Heda, guter Freund, habt ihr nichts von einem Mantelsacke da herumliegen sehen?« Also fragte er den ihn ruhig von seinem Steinhaufen anblickenden Burschen und winkte zugleich den Rächern, ihn dicht zu umzingeln. »Nein!« entgegnete der Gefragte, allein ohne aufzustehen, was dem verständigen Marktmeister mit Recht verdächtig vorkam. »Wollt Ihr nicht so gut sein, einmal aufzustehen, damit ich in dem Graben da suchen lassen kann?« – Befremdet gehorchte der Verdächtige und sah den Reiter groß an, das Pferd ebenso. »Wer hat denn«, fragte er seinerseits, »einen Mantelsack verloren?« – »Ich«, herrschte Eusebius vom Stechschimmel herab, »der Marktmeister Trenttelfuß von Gersfeld.« Und drohend fügte er hinzu: »Ich bin auch Mitglied der Ortspolizei, und da der Polizei nichts verborgen bleiben kann, so tut Ihr sehr wohl« – Der Fremde unterbrach ihn, sich auf die Lippen beißend, um ein Spitzbubenlachen zu unterdrücken: »Haben Sie denn zwei Mantelsäcke gehabt?« – »Zwei?« antwortete Eusebius, »wieso zwei? In dem einen war Geldeswert genug.« – »Nun«, sagte der Verdächtige auflachend, »der eine hängt unter Ihrem Gaul!«

Mit einem Schrei der Verwunderung griff Eusebius seinem Stechschimmel in die Weichen, und, wahrlich, da hing der Mantelsack. Das Korps der Rache brach in ein schallendes Gelächter aus und beleuchtete mit den Stallaternen den Vermißten in seinem stillen, verschwiegenen Asyl. Eusebius war abgestiegen und erkannte deutlich, wie der eine Riemen, der den Mantelsack auf dem Rücken des Pferdes festhielt, gerissen und jener nun, wahrscheinlich infolge der trabenden Stöße, allmählich hinuntergerutscht, endlich unter dem Bauche des Tieres hängen geblieben war. Mit einem Gefühl, das keine menschliche Feder beschreibt, geschweige denn eine Gänsefeder, bestieg er den Schimmel wieder, den Mantelsack wie ein Kind vor sich nehmend. Als er aber mit einem beschämten und fundesfrohen »Guten Abend« sich in Bewegung setzen wollte, umringten ihn seine Bewaffneten und drangen auf ein Trinkgeld. Eusebius versicherte, er habe keine kleine Münze bei sich, und trieb den stetigen Gaul mit Angst an; da fielen erst murrende Worte in seiner Nähe und, als der Schimmel wirklich auszugreifen anfing, leise Dreschflegel und Heugabeln auf dessen Rücken. In der Dunkelheit mochten die Nachsetzenden die weißen Schenkel des Gaules mit dem weißen Staubhemde des Reiters wohl je zuweilen verwechseln, wenigstens versichert Eusebius selbst, aus Versehen einige Streifschüsse in diesem ungleichen Kampfe davongetragen zu haben, die er aber um deswillen nicht geachtet oder erwidert, weil die Hauptmacht des Feindes gegen seinen Schimmel losgehauen und ihm selbst dadurch mehr genützt als geschadet habe, jenen zu einem unerhört raschen Trabe antreibend.

So ritt er dahin »durch Nacht und Wind« und hielt in den Armen den Mantelsack, sicher und warm. Es war aber bereits zehn Uhr geworden, als er durch die Gärten von Rautenburg dem Fürstentore zuklapperte. Schon von ferne hatte ihn ein wüstes Geschrei aus der Stadt begrüßt, das, je näher er kam, desto voller und deutlicher anschwoll. Auch ungewöhnliche Erleuchtung war in den Straßen, und mit stets wachsendem Erstaunen sah er, wie das Fürstentor fest verschlossen war. Ihn klärte der Torschreiber und Zolleinnehmer auf, der draußen wohnte und bei dem späten Hufschlag auf dem Pflaster aus dem Fenster sah. »Wer ist da?« fragte er, und als sich Eusebius dem alten Bekannten zu erkennen gegeben, setzte er hinzu: »Sie sind's, Herr Marktmeister? Kommen Sie doch nur zu uns herein, in die Stadt werden Sie nicht gelassen!« Eusebius erkundigte sich befremdet nach dem Grunde; da schrie der Torschreiber, den Kopf mit der weißen Nachtmütze weitmöglichst zu dem praktikablen Bleifensterlein hinausstreckend: »Es ist Revolution drin!«

Erschrocken stieg der Marktmeister vom Pferde, das er vorsichtiger-, obwohl unnötigerweise an den Laden band, und trat in die Einnehmerstube. Dort begrüßten ihn bekannte Stimmen; die Reisegefährten von der »Hoffnung« waren auch hier vor Anker gegangen und hielten Quarantäne. Das ganze Zimmer stand wiederum gedrängt voll von den Möbeln der Akzessistin, sodaß die Leipzigerin kaum ein Eckchen für sich und ihren Koffer, der abermals als Sessel fungierte, übrig behalten hatte. Auch seinen Kasten samt der Hutschachtel fand Eusebius unter den Flügeln des Kandidaten vor. Brand berichtete, es habe alles ausgeladen werden müssen, weil Martin hier umpacke, und er sich deswegen des verlassenen Seehunds angenommen. Die Frau Einnehmerin stöhnte unterdessen aus dem Alkoven heraus, ihr war die Revolution oder die Einquartierung auf die Gebärmutter gefallen und sie lag, da keine Hebamme heraus-, ja nicht einmal eine Botschaft hineingelangen konnte, kreisend und nur von dem ratlosen Ehemann bedient auf ihrem Schmerzenslager.

Eusebius wußte kaum, wo ihm der Kopf stand vor dem Schreien der Kinder, Weiber, Männer; er horchte mit einem Ohre auf deren Litaneien und mit dem anderen auf das wie Flutgeroll immer näher aus der Stadt heranbrausende Getöse. Plötzlich wurde das gesperrte Tor polternd aufgerissen. Der Einnehmer flüchtete sich mit dem Angstrufe »die Liberalen! die Liberalen!« in den Alkoven zu seiner Frau, die Sächsin drängte sich an die Akzessistin, die Akzessistin raffte das Mahagonikleinod aus allen Ecken zusammen, ihre Kinder ihrem Schicksale überlassend, und nur Sebastian Brand aus Meißen und der kühne Trenttelfuß sprangen aus dem Hause heraus, dieser seinem Roß zu Hilfe, jener den Rebellen entgegen. –

Muse, dienstfertige! Nun zeichne du uns in wenigen Umrissen die Gruppen am Tore, beleuchtet von Windlichtern, Laternen, brennenden Pfeifen, umrauscht von den Tönen der Marseillaise und unverständlichem Gebrülle! Aber male uns vor allem den Mann im Vordergrund, der wirklich im Vordergrunde stand. Lauf heißt er, Buchdruckereibesitzer (das »Hof-« hatte er verächtlich abgeworfen) in Rautenburg und Herausgeber des Rautenburger »Volkswächters«. Sage uns nichts von seinem grünen Schnürenrocke und dem Hambach, den er keck auf die blonden Locken gedrückt, auch von seinen Inexpressibles mit blauen Nationalstreifen an beiden Lenden und von dem trikoloren Uhrbande brauchst du uns nichts zu melden! Aber sein unter der Brille funkensprühendes Auge kannst du uns abspiegeln und seine sprühenderen Worte widerhallen.

»Brüder« schrie Lauf, als er Eusebius Rößlein gewahrte, »wer braucht zu reiten, wenn das deutsche Volk zu Fuß sein Recht verfolgt? Weg mit dem Pferde! Wem gehört das Pferd?« Unmöglich war es, sich in dem Haufen verständlich zu machen, selbst wenn Eusebius hätte durchdringen wollen; denn vierzig Bierbässe schrieen Lauf nach: »Nieder mit dem Rosse, es ist ein Kavalleriegaul!« Und vierzig Strohbässe sangen dazu in falschen Noten und falscheren Worten: » Allons, enfants de la patrie!«

Eusebius schrie mit, was er seine Nächsten schreien hörte. »Freiheit, Gleichheit, Rauchen auf der Straße, kein Pflastergeld mehr!« Und als ihn Brand fragend am Aermel zupfte, flüsterte er ihm leise zu: »Nur mitgeschrien, Liebwertester!« – »Ja, aber was denn?« – »Das, was die meisten schreien.«

Ganze Bände voll Weisheit und Tiefsinn liegen in den drei Worten unseres Helden, wir aber müssen im Drange der Begebenheiten darüber hinwegeilen.

Lauf mit seinen Leuten rückte in die Einnehmerei. »Heraus mit dem Tyrannenknecht!« war jetzt die Losung. Brand und Eusebius hielten auf der Schwelle die Eindringenden auf. »Wer seid Ihr?« – »Erlauben Sie, Herr Hofbuchdrucker! Sie kennen mich ja vom Kasino her, ich bin der Marktmeister.« – »Nichts von Hof! Nieder mit dem Hofe! Wir sind freie Bürger! Wir brauchen keinen Marktmeister!« Auch darin war tiefer Sinn. Da Rautenburg keinen Marktplatz hatte, bedurfte es keines Marktmeisters; die Stelle, wo Gemüse und Schwefelhölzer von einer bankerott gewordenen Oebstlerin alle Freitag feilgeboten wurden, hieß nur »der Flecken«. Einen Markt kannte man nicht. Jammernd stand Eusebius vor dem glühenden Lauf und versuchte vergeblich, sich ihm deutlich zu machen. Leichter gelang dies dem Kandidaten, der in der fliegendsten Eile erzählte, sie seien unschuldige Reisende und kämen vom Marktschiffe; drinnen säße ein Paar zu ihnen gehöriger Frauen und der Einnehmer mit seiner kreisenden Gattin. »Fremde?« schnaubte Lauf. »Spione von Gersfeld? Wollen die Volksstimmung untersuchen?« – »Verzeihen Sie, ich bin aus Sachsen, bei Meißen zu Haus, meine Name ist –« »Ah, aus Sachsen! Das ist ein liberales Land! Dreißig Exemplare meines Rautenburger »Volkswächters« gehen nach Leipzig. Sind Sie auch Abonnent?« Zugleich zog Lauf ein Bündel gedruckter Blätter aus der Rocktasche und drückte dem Kandidaten ein Exemplar in die Hand. »Brüder!« schrie er dem Kreise hinter sich zu, »es sind Sachsen, sie wollen sich bei uns Muster zur Nationalbewaffnung holen.« Und die Brüder schrieen »vivat hoch«, und Eusebius umarmte Lauf, und Lauf umarmte Sebastian, und Sebastian hätte um ein Haar die Landsmännin umarmt, die zitternd in der Stubentüre stand.

Der Einnehmer samt seiner Frau schienen vergessen; der Haufe am Tore hatte ein anderes Spielwerk gefunden. »Lauf soll reiten!« hieß es auf einmal. »Bravo, Bravissimo! Lauf hoch! Lauf zu Gaul!« Leutselig verbeugte sich Masaniello der Zweite gegen die Menge, er bestieg des Gersfelder Melkermeisters müden Gaul, und der Strom flutete, Eusebius unaufhaltsam mit sich fortreißend, in die Stadt zurück.

Ach, im Strudel großer Ereignisse geht so leicht das Kleine und Zarteste verloren! Mit welcher Liebe hätte ich euch sonst die Szene ausschmücke wollen, da der Hofrentereischreiberakzessist, eine bescheidene Seele, die aber auch unter den Rebellern steckte, aus dem lauten Haufen zurückblieb und in die Einnehmerei schlich und seine Erzeugten und fast das ganze Mahagonimeublement zärtlichst an die Brust drückte! »Karoline«, sagte er, oder eigentlich: »Karline, ich wußte ja, daß du kamst; ja, daß du hier draußen saßest, konnte ich mir haarklein einbilden, und da gab es kein Mittel, Dir entgegenzugehen, weil das Tor zu war, als unter den Liberalen! Aber im Herzen bin ich ihnen immer abhold gewesen und halte am guten Hoftone.« O wahrlich, die Liebe wirkt Großes! Einen Herkules trieb sie an den Spinnrocken und einen Akzessisten unter die Jakobinermütze, heilige Liebe!

Während nun die neuvereinten Gatten in des Einnehmers Stube die ersten Feuer ihres Wiedersehens abbrannten, nur zu Zeiten gedämpft durch das zweistimmige Winseln aus dem Alkoven und durch die Seufzer der verschämt, aber selig zusehenden Leipzigerin, wälzte sich die Lawine der Empörer, unter ihnen Eusebius und Brand, den berittenen Lauf an der Spitze, die Fürstenstraße hinauf, gerade vor die Hauptwache. Auf der Hauptwache wachten nämlich die Nationalgardisten und tranken Bier und sangen dem gegenüber wohnenden Stadtrichter Skolien und Satyrgedichte eigener Erfindung vor.

Auf den Stadtrichter war eigentlich der ganze Aufstand gemünzt gewesen. Nicht genug, daß er sich über die Nationalgarde lustig gemacht hatte, wie sie auf der Schützenwiese Schwenkungen, und zwar zuerst am Seile, versuchte; sondern es war auch Laufen hinterbracht worden, daß er in einer absolut gesinnten Gesellschaft öffentlich sich vermessen, er wolle mit einem Heringskopfe die ganze Bürgerschaft von Rautenburg bis Kesselstadt locken. Dies war natürlich eine Übertreibung, und wenn auch allerdings die Rautenburger im Rufe standen, etwas herabgekommen und auf jedmöglichen kleinen Erwerb bedacht zu sein, so wollte es doch am wenigsten für den Stadtrichter ziemen, ihnen dergleichen nachzusagen. Lauf hatte zudem einen Zahn auf den Juristen, der ihn bei wiederholten Preßvergehungen unnachsichtlich an Geld und Freiheit gebüßt hatte. Beide standen einander jetzt als Parteihäupter gegenüber, Lauf an der Spitze des kühn aufgestandenen Volkes, der Stadtrichter als Haupt der Aristokraten- oder Fürstendiener, wie man den in Rautenburg liegenden Etappenkommandanten samt dem Polizeiwachtmeister und dem Gendarmerieleutnant gehässig zu bezeichnen pflegte.

Tagelang hatte es in Rautenburg schon still gegärt. Die Sache kam aber eines Abends zum Ausbruch, als die Laufsche Offizin verschlossen und versiegelt, er selbst gefangen auf das Stockhaus abgeführt worden war. Lauf duldete – er hatte ein bewundernswerten Talent im Sitzen! – vierundzwanzig Stunden als Märtyrer der guten Sache; hierauf ergab es sich, daß seine Verhaftung auf einem Irrtume beruhte, und er ward auf freien Fuß gesetzt. Der belesene Stadtrichter hatte nämlich im Geschäftseifer ein Blatt des Rheinbayerschen Hochwächters, worin ihm der Krämer eines Tages boshaft seinen Morgenkaffee eingewickelt, verwechselt mit dem Rautenburger »Volkswächter«, und infolgedessen des letzteren Redakteur sofort verhaftet. Leicht erklärt man sich Laufs Ärger und seiner Freunde Zorn, als es sich herausstellte, daß dieser für fremde Sünden hatte büßen sollen. Noch am Abend seiner Befreiung sammelte sich im goldenen Löwen eine Schar Entschlossener, die Lauf im Triumph aus seines Weibes Armen entführten und nach einer liberalen Kollation bei dem Löwenwirt dem Stadtrichter ein Charivari brachten. Dabei ist es ein bemerkenswerter Zug, daß dessen Tochter anfangs den Gesang und das Geklimper unter ihrem Fenster für eine Ehrenserenade nahm und, empfindsam in die Nacht hinauslauschend, sich die Sache anzog, bis einige murmelnde Pereats und Laufs eigenhändiges Guitarrenspiel sie eines Besseren belehrten.

Am folgenden Morgen, vielleicht noch in derselben Nacht, flogen des Stadtrichters Eil- und Angstboten nach Kesselstadt. Der Tag verging in dumpfer Gewitterruhe. Abends bat der Richter seine Freunde, die Aristokraten, zum Butterbrot zu sich und war ungemein zutunlich; sogar die Gendarmen ließ er auf der Hausflur vom Stadtdiener bewirten. Die Liberalen zogen indessen, wie bereits gemeldet, in der Stadt umher, singend, trinkend, lärmend; sie wunderten sich bloß, als sie alle, daß heißt zwei Tore geschlossen fanden und glaubten nun selbst an ihre Furchtbarkeit. Der Funken schlug im Augenblick zur Flamme empor, und weil man einmal in der Revolution drin war, wollte man auch dem Pflastergeldeinnehmer und anderen von Amtswegen gehaßten Personen zu Leibe; Lauf sagte, es ginge in einem Aufwaschen hin. Stündlich stieg Zahl, Mut und Geräusch der Aufgeregten, während es im Hause des Stadtrichters stündlich stiller ward; die Gäste hatten zum Hute gegriffen, um sich einzeln fortzuschleichen, waren aber wohl genötigt, wiederzukommen, als sie Haus- und Hoftüre sorgfältig verriegelt fanden.

Dies war die Lage der Dinge, als mit einem Male, gerade wie die Liberalen vom Fürstentore oder, wie sie es nannten, von dem Sturm der Einnehmerei zurückkamen, von der andern Seite der Stadt Pferdegetrappel, Trommeln und Geschwinder-Schritt auf den Pflastersteinen rasselte. Bestürzt sah man sich an. Nur dem Stadtrichter fiel ein Zentner vom Herzen. »Meine Herren!« sagte er, mit einem verklärten Gesicht aus dem Fenster schauend, »da kommt die mobile Kolonne!« Und sich weit hinauslehnend, rief er dem gerade vor seinem Hause »Halt!« kommandierenden Offizier ein aufatmendes »Willkommen« zu.

Die Liberalen drängten sich in die Hauptwache, wo die Nationalgarde wachte, aber nicht mehr singend und die Biergläser nur sachte auf den Tisch stauchend. Das Militär hielt, Gewehr bei Fuß, unbeweglich gegenüber, längs der Stadtrichterei, deren Tür sich augenblicklich geöffnet und den Leutnant eingelassen hatte. Nach einer langen Weile öffnete sie sich wiederum, und heraus schritt in voller Uniform der Stadtrichter, seinen Mantel mit graziöser Nachlässigkeit um die Schultern mit Epauletten und um die weißen Lenden werfend, hinter ihm der Stadtdiener, in jeder Hand eine Laterne, hierauf das sämtliche Gendarmeriekorps, ebenfalls in ganzem Waffenschmuck, und zum Schluß der Etappenkommandant, Arm in Arm mit dem eben angekommenen Offizier.

Das Häuflein schritt durch die tiefe Stille – nur des Stadtdieners Mägde kicherten schadenfroh aus dem Küchenfenster – auf die Bürgerwacht zu. Alles darin und davor war stumm und starr, ein dunkler Menschenknäuel, aus dem Eusebius zur Zeit unbesetztes Roß, unheilverkündend, wie ein trojanisches emporragte. Um so schneidender war der Kontrast, als der Stadtrichter ein Blatt aus der Busentasche zog und ablas – die entsetzliche Aufruhrakte, beleuchtet von den beiden Laternen seines Stadtdieners. Obwohl nun zu der jetzigen Ruhe die dräuenden Gesetzesworte wenig paßten, obwohl die Bürger im Augenblicke unschuldig und friedlich dastanden, Schafen nicht unähnlich, die dicht aneinandergedrängt den Donner über sich rollen hören, so verfehlte doch die Akte ihren Eindruck umso weniger, als zu gleicher Zeit ein Flügel der mobilen Kolonne abbrach und mit dem Kommando, die Straßen zu reinigen, von dem Offizier entlassen wurde, während dieser selbst mit dem anderen Flügel die Bürgergarde auf der Hauptwache ernst und gemessen ablöste. Damit hätte nun alles zu Ende sein können, da die Bürger still nach Hause gingen, selbst die bewaffneten nicht in Reih und Glied, sondern jeder einzeln, wie es gerade kam, und möglichst leise und möglichst schnell. Nur Lauf mußte seinem Schicksal wiederum folgen und ward, wie er selbst beim Abführen in das Stockhaus sagte, zum zehnten Male in seinem Leben verhaftet.

Eusebius – wie weh tut es uns um Dich! Wie gern hätten wir Dich gleich den anderen Empörern ruhig heimgeleitet zu dem goldenen Löwen, oder wo Du sonst die Nacht zu bleiben beschlossen! Allein Dein Tier verriet Dich. Wehmütig mußtest Du, als der Stadtrichter streng nach dessen Besitzer fragte, aus einem Winkel der Hauptwache hervortreten und Dich unter Stammeln zu dem Stechschimmel bekennen. Da aber der Stadtrichter ihn zu Häupten des Aufrührerkörpers bemerkt hatte, so half Dein Beteuern nichts, daß nicht Du, sondern der verdientermaßen bereits verhaftete Hofbuchdrucker Lauf darauf gesessen. Du wurdest nach Deiner Legitimation gefragt und besaßest außer dem reinsten Gewissen und einer allgemeinen Bekanntschaft in Rautenburg keine; jenes galt natürlich vor dem Juristen nichts und diese leugnete er ab. Ja – der Unmensch! Er lachte sogar, als Du auf seine Frage nach dem Zwecke Deiner Reise die Wahrheit sagtest. Armer Eusebius.

Gestehen wir es denn mit tiefer, schmerzlicher Bewegung: als in Rautenburg sich jeder Mann versöhnt aufs Ohr legte, Freund Brand im goldenen Löwen, die Sächsin am Krankenbett der Einnehmerin, die Akzessistin zu ihres Gatten Seite, Lauf auf Kerkerstroh und der Kommandant der mobilen Kolonne auf Lorbeeren, in diesem späten Augenblicke strecktest Du, als Gefangener, als verdächtiger Magister Equitum der Empörer, als Vagabund und Unruhstifter, die müden Gliedmaßen auf der harten Pritsche der Hauptwache verzweifelnd aus, und Dein Schimmel scharrte ängstlich im Pfandstalle die letzten Heuhalme zusammen. Großer Gott! Wer das Deiner treuen Schleichlein gesagt hätte oder gar dem harrenden Bräutchen in Kesselstadt, das Dich wohl schon gestern mit banger und pensionsmäßiger Sehnsucht erwartet hatte!


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