Alphonse Daudet
Tartarin in den Alpen
Alphonse Daudet

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XII

Das Hotel Baltet in Chamonix. – Das riecht nach Knoblauch. – Von der Anwendung des Seiles bei Alpenbesteigungen. – Shake hand! – Ein Schüler Schopenhauer's. – Halt bei den Grands-Mulets. – «Tartaréïn, ich muss Sie sprechen....»

Auf dem Kirchthurm zu Chamonix schlug es neun Uhr. Der Nordwind blies, es war ein kalter, regnerischer Abend. In den Gassen tiefe Finsterniss, kein Licht in den Häusern. Nur an den Façaden der grossen Gasthöfe und in ihren Vorräumen brannte das Gas, die Nachbarschaft dieser Gebäude war darum nur um so dunkler in dem bleichen Reflex des Schnees auf den Bergen ringsumher.

Im Hotel Baltet, einem der besuchtesten und besten des Alpendorfes, hatten die zahlreichen Reisenden und Pensionäre, von den Tagesausflügen ermüdet, sich zurückgezogen. Im grossen Salon befand sich nur noch ein englischer Pastor, der mit seiner Gemahlin friedlich Dame spielte, während seine unzähligen Töchter, mit rohseidenen Latzschürzen geschmückt, fleissig Einladungen zum nächsten Gottesdienst schrieben. Vor dem Kamin, in welchem ein lebhaftes Feuer prasselte, sass ein junger Schwede. Er war mager, blass, schaute düstern Blicks in die Flamme und trank eine Mischung von Kirsch und Selters dazu. Von Zeit zu Zeit schritt ein verspäteter Tourist durch den Saal; seine Kamaschen waren nass, es tropfte von seinem Ueberzieher, er ging an ein grosses, an der Wand hängendes Barometer, er klopfte daran, befragte das Quecksilber nach dem Wetter am nächsten Tage und legte sich ungetröstet zu Bett. Kein Wort, kein anderes Lebenszeichen als das Knistern des Feuers, das Anschlagen des mit Eis gemischten Regens an die Scheiben und das rasende Toben der Arve unter der hölzernen Brücke, einige Meter vom Hotel.

Plötzlich öffnete sich die Thür zum Salon, ein silberbetresster Portier trat mit Koffern, Decken, und vier schlotternden Gestalten ein. Der plötzliche Uebergang aus der kalten Finsterniss in das warme Licht erschreckte sie fast.

«Boudiou! Ist das ein Wetter.

– Zu essen, zou!

– Wärmen Sie die Betten, qué!»

Sie sprachen Alle mit einander, aus ihren mannigfaltigen Gesichtsumhüllungen die Worte hervorstossend. Man wusste nicht, auf wen man hören sollte, als ein Dicker, den sie den Präsidenten nannten, ihnen Schweigen gebot und noch stärker schrie als sie.

«Zuerst das Fremdenbuch!» gebot er. Er durchblätterte es mit erstarrten Fingern und las mit lauter Stimme die Namen der Reisenden, die seit acht Tagen durch das Hotel gezogen waren. «Doctor Schwanthaler und Frau... auch wieder?... Astier-Réhu, Mitglied der Akademie....» So buchstabirte er zwei, drei Seiten, und, wenn er auf einen Namen stiess, der dem von ihm gesuchten ähnlich war, erbleichte er; endlich warf der kleine Mann mit triumphirendem Lachen das Buch auf den Tisch und that einen jungenhaften Luftsprung, der bei seiner Beleibtheit sich sonderbar ausnahm: «Er ist nicht darin... er ist nicht gekommen... Hier hätte er ja doch absteigen müssen. Reingefallen, Costecalde... lagadigadeou!... jetzt rasch zur Suppe, Kinder!...» Und der wackre Tartarin, nachdem er die Damen gegrüsst, ging nach dem Speisesaal, und hinter ihm drein die hungrige, lärmende Delegation.

Ja wohl, die Delegation, Alle, sogar Bravida.... War das möglich?... Was hätte man aber daheim gesagt, wenn sie ohne Tartarin zurückgekehrt wären! Das fühlte Jeder. Deshalb war auch das Büffet des Bahnhofes in Genf in der Trennungsminute Zeuge einer hochpathetischen Scene: Thränen, Umarmungen, ein herzbrechender Abschied vom Banner. Und am Ende dieses Abschieds schachtelten sie sich sämmtlich in dem Landauer ein, den der P. C. A. für die Fahrt nach Chamonix gemiethet hatte. Ein herrlicher Weg, den sie mit geschlossenen Augen, in ihre Decken gehüllt und unter sonorem Schnarchen zurücklegten, ohne nur auf die wundervollen Landschaft zu blicken, die selbst beim Regen von Sallanches ab sich entrollte: Schluchten, Wälder, schäumende Wasser, und je nach den Windungen, bald sichtbar, bald entflohen, der Gipfel des Montblanc über den Wolken. Von dieser Art Naturschönheiten schon gesättigt, dachten unsere Bürger von Tarascon nur daran, die schlimme Nacht hinter den Gittern des Schlosses Chillon wieder gut zu machen. Und auch jetzt noch, da man ihnen an einem Ende des langen Speise-Saals im Hotel Baltet eine aufgewärmte Suppe und die Reste von der Table-d'hôte servirte, assen sie mit Heisshunger in sich hinein, ohne ein Wort zu sagen, nur mit dem Gedanken an das warme Bett beschäftigt. Plötzlich erhob Spiridion Excourbaniès, der halb im Traum Alles hinunterschlang, seine Nase von dem Teller und schnüffelte rings umher: «Outre! rief er aus, das riecht nach Knoblauch!...

– Gewiss, sagte Bravida, so riecht es.» Und Alle, von diesem Gruss aus der Heimath, diesem Duft der Nationalgerichte, den Tartarin seit Wochen nicht mehr genossen hatte, zu frischem Leben erweckt, rückten, gierig-unruhig, auf ihren Stühlen hin und her. Das kam aus einem kleinen Zimmer hinten neben dem Saal, wo ein Reisender allein speiste, gewiss eine wichtige Person, denn in jedem Augenblick zeigte sich eine weisse Mütze an dem nach der Küche hinführenden Schieber, wo der Koch höchst-eigenhändig der Kellnerin kleine bedeckte Schüsseln hinreichte, die sie nach jener Richtung hin trug.

«Gewiss Jemand aus dem Süden», murmelte der sanfte Pascalon. Der Präsident war bei dem Gedanken an Costecalde kreidebleich geworden und kommandirte:

«Gehen Sie hin, Spiridion... sehen Sie nach und erzählen Sie, was Sie gesehen haben....»

Ein ungeheures Gelächter erschallte aus dem Nebenzimmer, in das der Gong auf Befehl seines Präsidenten getreten war, und aus welchem er jetzt einen baumlangen Menschen mit grosser Nase und schelmischen Augen, die Serviette, wie beim gastronomischen Pferd, um den Hals geknüpft, an seiner Hand hereinführte:

«Vé! Bompard....

Té! der Lügner....

Hé! adieu, Gonzague.... Wie geht es Dir?

– Gehorsamer Diener, meine Herren...» sagte der Courrier. Er schüttelte einem Jeden die Hand und setzte sich an den Tisch der Tarasconnesen, um mit ihnen eine Schüssel mit Knoblauch gewürzter Schwämme zu verzehren, welche die Mutter Baltet zubereitet hatte, die, gleich ihrem Manne, ein Entsetzen vor der Küche der Table-d'hôte hatte.

War es das Nationalgericht oder die Freude, einen Landsmann, jenen prächtigen Bompard mit seiner unerschöpflichen Fantasie angetroffen zu haben? Müdigkeit und Schläfrigkeit waren sofort wie weggeblasen, man liess den Champagner knallen und, den hellen Schaum an den Schnurrbärten, lachten sie, schrieen und gestikulirten sie und fassten sie sich, eine Lust und eine Liebe, um die Hüften.

«Ich verlasse Euch nicht mehr, vé! sagte Bompard.... Meine Peruaner sind fort, ich bin frei....

– Frei... Ja, dann gehen Sie morgen mit mir auf den Montblanc!

– So, Sie gehen morgen auf den Montblanc?» erwiderte Bompard ganz ohne Begeisterung.

«Ja, und ich nehme ihn Costecalde vor der Nase weg.... Wenn er kommt.... (Tartarin that hier einen sehr verständlichen Pfiff).... kein Montblanc mehr.... Sie machen mit, qué, Gonzague?

– Ich mache mit... mache mit... wenn das Wetter danach ist.... Die Besteigung bei dieser Jahreszeit ist nicht immer sehr bequem.

– Ach was, nicht bequem», erwiderte der wackre Tartarin und er faltete seine Augenwinkel zu dem Lachen eines Auguren, das Bompard jedoch nicht zu verstehen schien.

«Kommt nur in den Salon und lasst uns Kaffee trinken.... Wir können uns bei Papa Baltet Rath holen. Er versteht sich darauf, er, der frühere Führer, der siebenundzwanzig Mal den Berg bestiegen hat.»

Die Delegirten schrieen auf:

«Siebenundzwanzig Mal! Boufre!

– Bompard übertreibt immer...» sagte der P. C. A. streng, mit einem Anflug von Neid.

Im Salon fanden sie die englischen Pfarrerstöchter noch immer über die Einladungsbriefe gebückt, Vater und Mutter waren über dem Damenbrett eingenickt, und der lange Schwede rührte theilnahmlos seinen Grog. Doch der Ueberfall der vom Champagner angeregten tarasconnesischen Alpenklubisten bot den jungen Briefschreiberinnen begreiflicherweise eine kleine Zerstreuung. Noch niemals hatten es die liebenswürdigen Mädchen erlebt, dass ein Kaffee mit so viel Gesten und Augenverdrehen getrunken wurde.

«Etwas Zucker, Tartarin?

– Nicht doch, Kommandant.... Sie wissen wohl.... Seit ich in Afrika war!...

– Das ist wahr, verzeihen Sie.... Té! da ist ja Herr Baltet!

– Setzen Sie sich zu uns, qué, Herr Baltet.

– Es lebe Herr Baltet!... ah! ah!.... fen dé brut

Umdrängt von all' diesen Leuten, die er noch nie in seinem Leben gesehen hatte, lächelte Papa Ballet in seiner ruhigen Weise; ein kräftiger, grosser und breitschultriger Savoyarde, mit rundem Rücken, gemessenem Schritt, in dem vollen, rasirten Gesicht zwei noch jugendlich blickende, schlaue Augen, die einen merkwürdigen Gegensatz bildeten zu seinem Kahlkopf, den er sich durch eine Erkältung bei Sonnenaufgang im Schnee geholt hatte.

«Die Herren wollen den Montblanc besteigen?» sagte er, die Tarasconnesen mit einem zugleich demüthigen und ironischen Blick messend. Tartarin war im Begriff zu antworten, Bompard kam ihm zuvor.

«Nicht wahr, die Jahreszeit dazu ist schon sehr weit vorgerückt?

– Nicht doch, antwortete der ehemalige Führer.... Jener schwedische Herr wird ihn morgen besteigen, und Ende der Woche erwarte ich zwei Amerikaner, die ihn gleichfalls besteigen wollen. Einer von ihnen ist sogar blind.

– Ich weiss. Ich bin ihnen auf dem Guggi begegnet.

– Ach? Sie waren auf dem Guggi?

– Vor acht Tagen, als ich die Jungfrau bestieg.»

Es entstand eine Bewegung unter den Pfarrerstöchtern; alle Federn ruhten, die Köpfe wandten sich Tartarin zu, der in den Augen der Engländerinnen, jede eine unerschrockene Bergsteigerin und in allen Arten Sport erfahren, zu einer bedeutenden Autorität wurde. Er hatte die Jungfrau bestiegen!

«Ein schönes Stück Arbeit!» sagte Papa Baltet, den P. C. A. voller Verwunderung betrachtend, während Pascalon, durch die Damen eingeschüchtert, erröthend und stotternd murmelte:

«He...e...e...err! erzählen Sie ihnen doch die... die... Geschichte... den Spalt....»

Der Präsident lächelte: «Du Kindskopf!» und doch begann er die Erzählung von seinem Sturz, zuerst ruhig, gleichgültig, darauf mit heftigem Geberdenspiel, wie er über dem Abgrund an dem Seilende zappelte, die Hände ausstreckend um Hilfe rief. Die jungen Mädchen zitterten, sie verschlangen ihn mit ihren kalten, runden, britischen Augen.

Die nun folgende Stille wurde von der Stimme Bompard's unterbrochen:

«Auf dem Chimborazo haben wir uns niemals festgebunden, um über die Spalten zu kommen.»

Die Delegirten warfen sich Blicke zu. Als Tarasconnade übertraf dieses doch Alles. «O! über den Bompard, wenigstens...» murmelte Pascalon mit aufrichtiger Bewunderung.

Doch Papa Baltet, der den Chimborazo ernsthaft nahm, protestirte gegen die Thorheit, sich nicht anzubinden; seiner Meinung nach war es nicht möglich, über Eisfelder zu kommen ohne ein starkes Seil aus Manillahanf. Gleitet Einer aus, so halten die Anderen ihn wenigstens zurück.

«Vorausgesetzt, dass das Seil nicht reisst, Herr Baltet,» sagte Tartarin, sich an die Katastrophe auf dem Matterhorn erinnernd.

Doch der Gastwirth, jedes Wort betonend, erklärte:

«Nicht das Seil ist gerissen auf dem Matterhorn.... Der den Zug schliessende Führer hat es mit seiner Axt durchschnitten....»

Und da Tartarin seine Entrüstung hierüber ausdrückte, so erläuterte er:

«Entschuldigen Sie, Herr, der Führer war in seinem Recht.... Er sah die Unmöglichkeit ein, die Anderen zurückzuhalten, und er hat sich von ihnen frei gemacht, um sein Leben, das seines Sohnes und des Reisenden zu retten, den sie begleiteten... ohne seine Entschlossenheit hätte man sieben anstatt vier Opfer gezählt.»

Daraus entspann sich eine Diskussion. Wenn man sich einer hinter dem anderen anbindet, behauptete Tartarin, so ist es eine Ehrensache, zusammen zu leben und zu sterben. Sich erhitzend und angefeuert durch die Gegenwart der Damen, wandte er seine Aussage auf Thatsachen, auf die anwesenden Personen an. «Morgen zum Beispiel, té! wenn ich mich mit Bompard zusammenbinde, so ist dies keine blosse Vorsichtsmassregel, es ist so viel wie ein Eid vor Gott und den Menschen, mit meinem Gefährten eins zu sein, und lieber zu sterben, als ohne ihn heimzukehren.

– Ich nehme den Eid für mich wie für Sie an, Tartarin...» rief Bompard von der anderen Seite des Tisches herüber.

Ein erschütternder Augenblick!

Der Pfarrer erhob sich begeistert, und der Held musste ein Händeschütteln über sich ergehen lassen, ein echt englisches, wie mit einem Pumpenschwengel. Seine Frau that ein Gleiches, und alle ihre Töchter setzten das «Shake hand» mit einer Kraftanstrengung fort, die hingereicht hätte, das Wasser bis in ein fünftes Stockwerk hinaufzupumpen. Die Delegirten, wie ich gestehen muss, bezeigten keinen so grossen Enthusiasmus.

«Eh, bé! Ich, sagte Bravida, ich bin derselben Meinung wie Herr Baltet. Bei einer solchen Affaire sorgt Jeder für seine eigene Haut, , wahrhaftig! und ich begreife sehr gut den Hieb mit der Axt....

– Sie setzen mich in Erstaunen, Placide,» sagte Tartarin streng. Und ganz leise murmelte er: «Beherrschen Sie sich doch, Unseliger, England beobachtet uns....»

Der alte Haudegen, der wirklich seit dem Ausflug nach Chillon einen innerlichen Groll bewahrt hatte, machte eine bedeutsame Geberde: «Was geht mich England an....» Und vielleicht hätte er sich von dem über einen solchen Cynismus erzürnten Präsidenten einen tüchtigen Verweis zugezogen, wenn der junge Mann mit dem lebensmüden Ausdruck, der sich von Grog und Trübsinn nährte, sein schlechtes Französisch nicht in die Unterhaltung gemischt hätte. Er auch fand, der Führer habe Recht gehabt, das Seil zu durchschneiden: Vier noch junge Unglückliche, die verurtheilt waren, noch eine gewisse Zeit zu leben, von diesem Dasein zu erlösen, durch eine einzige Bewegung sie der Ruhe, dem Nichts überliefern... welch' eine edle, hochherzige That!

Tartarin rief laut:

«Wie, junger Mann! in Ihrem Alter mit solchem Ueberdruss, solcher Bitterkeit vom Leben zu reden!... Was hat es Ihnen denn so Schlimmes gethan?

– Nichts, es langweilt mich....»

Er studirte in Christiania Philosophie, und für die Ideen Schopenhauer's und Hartmann's gewonnen, fand er das Leben düster, abgeschmackt, chaotisch. Nicht weit vom Selbstmord entfernt, hatte er auf die Bitten seiner Eltern seine Bücher geschlossen und sich auf Reisen begeben, doch überall dieselbe Langeweile, dasselbe düstre Elend des Lebens gefunden. Tartarin und seine Freunde schienen ihm die einzigen, mit dem Leben zufriedenen Personen zu sein, denen er begegnet war.

Der gute P. C. A. lachte: «Das bringt die Rasse mit sich, junger Mann, so sind wir Alle in Tarascon. Das auserwählte Land des lieben Gottes. Vom Morgen bis zum Abend wird gelacht, gesungen, und während der übrigen Zeit die Farandola getanzt... sehen Sie, so... té!» Und er machte einen Luftsprung, so leicht und behende, wie ein dicker Maikäfer, der seine Flügel ausspannt. Aber die Delegirten besassen nicht die Nerven von Stahl und die unverwüstliche Heiterkeit ihres Präsidenten.

Excourbaniès grollte: «Der présidain verschwatzt sich... das dauert am Ende bis Mitternacht.»

Bravida stand auf und sagte wüthend: «Wir wollen zu Bette gehen, vé! Ich halte das Gliederreissen nicht mehr aus....» Tartarin stimmte ihm bei, an die Bergfahrt des nächsten Morgens denkend; und die Tarasconnesen stiegen, mit der Kerze in der Hand, die breiten, zu den Zimmern führenden Granitstufen hinauf, während Papa Baltet die Essvorräthe besorgte, die Saumthiere und Führer miethete.

 

«Té! es schneit....»

Mit diesem Ausruf erwachte der gute Tartarin, als er die Scheiben mit Reif bedeckt und das Zimmer von weissem Glanz erfüllt sah; doch als er den kleinen Rasirspiegel an den Fensterknopf hing, sah er seinen Irrthum ein; der Montblanc, der ihm gegenüber in vollem Sonnenglanz schimmerte, verbreitete die Helle. Er öffnete das Fenster dem schneidenden, belebenden Gletscherwind, der ihm das Geläut der hinter den langgezogenen Tönen des Alpenhorns der Hirten einherziehenden Herden zuführte. Ein stärkender, erfrischender Hauch erfüllte die Atmosphäre, wie er ihn in der Schweiz noch nicht eingeathmet hatte.

Unten erwartete ihn eine Versammlung von Führern und Trägern, der Schwede thronte schon auf seinem Thier und unter den im Kreise herumstehenden Neugierigen befand sich die Pfarrresfamilie mit ihren sämmtlichen munteren Fräuleins in Morgentoilette, die den Helden, der sie in ihren Träumen verfolgt hatte, nicht ohne «Shake hand» ziehen lassen wollten.

«Ein herrliches Wetter... beeilen Sie sich...» rief der Gastwirth, dessen kahler Schädel wie ein polirter Granit in der Sonne leuchtete. Aber Tartarin mochte sich noch so sehr beeilen, es war keine kleine Arbeit, die Delegirten aus dem Schlaf aufzurütteln, und sie wollten ihn doch bis zur Pierre-Pointue begleiten, der letzten Station für die Saumthiere. Weder Bitten noch Vorstellungen vermochten den Kommandanten aus dem Bett zu treiben; die baumwollene Nachtmütze über die Ohren gezogen, die Nase gegen die Wand gekehrt, begnügte er sich damit, die Vorwürfe des Präsidenten mit einem cynischen, tarasconnesischen Sprichwort zu beantworten: «Wer im Rufe steht, früh aufzustehen, darf bis Mittag schlafen....» Und Bompard wiederholte beständig: «Ach, warum nicht gar, der Montblanc, pure Aufschneiderei...» und er war erst auf den ausdrücklichen Befehl des P. C. A. zum Aufstehen zu bewegen.

Endlich setzte die Karawane sich in Bewegung und zog in imposanter Ausrüstung durch die engen Gassen von Chamonix: Pascalon voran, auf einem Maulthier, mit dem flatternden Banner; den Zug schliessend, ernst wie ein Mandarin zwischen den zu beiden Seiten eines Saumthieres schreitenden Führern und Trägern, der gute Tartarin, absonderlicher wie je als Alpensteiger ausstaffirt, auf der Nase eine neue Brille mit gewölbten, rauchgeschwärzten Gläsern, und stolz auf das famose, man weiss um welchen Preis wiedereroberte, in Avignon verfertigte Seil.

Beinahe eben so sehr angestaunt wie das Banner, jubelte er unter seiner anspruchsvollen Ausstaffirung, ergötzte sich an dem malerischen Aussehen der Gassen des savoyischen Dorfes, das von einem Schweizer Dorf, das so sauber und geleckt ist wie ein neues Spielzeug, wie ein Dorf aus einer Nürnberger Schachtel, sich so sehr unterscheidet. Und welch ein Kontrast zwischen den kaum über den Boden sich erhebenden Hütten, in denen der Stall fast den ganzen Raum einnimmt, und den grossen, prunkvollen, fünfstöckigen Hotels, deren goldglänzende Schilder so schlecht zu dem übrigen passten, wie die galonnirte Mütze eines Portiers, der schwarze Frack und die weisse Halsbinde eines Hotelwirthes zwischen Savoyardenkappen, Barchentröcken, Köhlerhüten mit breitem Rand. Auf dem Platz standen angespannte Landauer, elegante Reisekutschen neben Mistwagen; da war eine Herde Schweine, die sich in der Sonne wärmten, und zwar dicht vor dem Postbureau, aus dem ein Engländer in weissem Leinwandhut heraustrat mit einem Packet Briefe und einer Nummer der Times in der Hand, die er während des Gehens las, ehe er seine Korrespondenz öffnete. An diesen Bildern zog die tarasconnesische Kavalkade vorüber, begleitet von dem Stampfen der Saumthiere, dem Kriegsruf von Freund Excourbaniès, der hier im Sonnenschein seinen kräftigen Bass wiedergefunden hatte, wie von dem melodischen Geläut der Kuhglocken auf den nächstgelegenen Bergabhängen, und dem Tosen des von dem Gletscher herabstürzenden, weiss schäumenden Wasserfalls, welcher glühte und funkelte, als ob er mit dem kalten Schnee die lichten Sonnenstrahlen mit sich führte.

Am Ende des Dorfes trieb Bompard sein Maulthier an die Seite des Präsidenten, und die Augen erstaunlich rollend, sagte er: «Tartaréïn, ich muss mit Ihnen reden.

– Sogleich...» sagte der P. C. A., der in ein philosophisches Gespräch mit dem jungen Schweden vertieft war, dessen schwarzen Pessimismus er durch das sie umgebende wundervolle Schauspiel zu widerlegen suchte: hier die Weideplätze mit ihren Schatten- und Lichteffekten, dort die dunkelgrünen Wälder, überragt von den weissleuchtenden Firnfeldern.

Nach zwei vergeblichen Versuchen, sich Tartarin zu nähern, musste Bompard nothgedrungen darauf verzichten. Nachdem sie über eine kleine Brücke die Arve überschritten hatten, gelangte die Karawane auf einen jener schmalen, zwischen Tannen sich hinziehenden, gewundenen Bergpfad, auf dem die Saumthiere, eines hinter dem andern, mit stahlharten Hufen allen Krümmungen des Abgrundes folgen, und unsere Tarasconnesen hatten ihre volle Aufmerksamkeit nöthig, um sich im Gleichgewicht zu halten, wobei manche «Allons... doucemain... outre...» fielen, mit denen sie ihre Thiere zügelten.

Auch in der Sennhütte bei Pierre-Pointue, in welcher Pascalon und Excourbaniès die Rückkehr der Bergsteiger erwarten sollten, hatte Tartarin, beschäftigt wie er mit der Bestellung des Frühstücks, der Aufsicht über die Unterbringung der Führer und Träger war, nur ein taubes Ohr für die Zuflüsterungen Bompard's. Aber– es war seltsam und man wurde sich erst später darüber klar – trotz des schönen Wetters, der vortrefflichen Weinsorten und der hier oben, zweitausend Meter über dem Meeresspiegel so reinen Luft, herrschte bei dem Frühstück eine gedrückte Stimmung.

Während sie die Führer nebenan lachen und scherzen hörten, blieb es am Tisch der Tarasconnesen still; nur die Bedienung, das Klirren der Gläser, das Klappern der Teller und Bestecke auf dem weissen Holztisch machte sich hörbar. War es die Anwesenheit des grämlichen Schweden oder die sichtliche Unruhe Gonzague's, oder irgend ein Vorgefühl? Genug, trübselig wie ein Bataillon ohne Musik, machte sich der Zug auf den Weg nach dem Bossons-Gletscher, wo die eigentliche Besteigung erst ihren Anfang nahm.

Als er seinen Fuss auf das Eis setzte, musste Tartarin doch lachen, wenn er an den Guggigletscher und an seine vervollkommneten Eissporen dachte. Welch ein Unterschied zwischen dem Neuling, der er damals gewesen und dem Alpensteiger ersten Ranges, der er nun geworden war! Gleich einem kräftigen Baumstamm in seinen schweren Stiefeln wurzelnd, die der Portier des Hotels ihm am Morgen mit vier grossen Nägeln beschlagen hatte, im Gebrauch der Eishacke erfahren, brauchte er kaum noch die Hand eines seiner Führer, und dies auch weniger, um sich unterstützen, als sich den Weg zeigen zu lassen. Die matt geschliffne Brille dämpfte das Blenden des Gletschers, den eine neulich gefallene Lawine mit frischem Schnee überstreut hatte, in welchem eine grünliche, verrätherische Pfütze sich zeigte. Sehr ruhig, durch die Erfahrung gefestigt, dass auch nicht die geringste Gefahr vorhanden sei, ging Tartarin längs der glitzernden, schlüpfrigen, in unendlicher Tiefe sich verlierenden Spalten dahin, an den Seraks vorbei, und nur von dem einzigen Gedanken beherrscht, mit dem schwedischen Studenten, einem unerschrocknen Bergsteiger, Schritt zu halten, dessen hohe Kamaschen mit Silberschnallen schlank und dürr und in demselben Takt sich vorwärts bewegten wie sein Alpenstock, der wie ein drittes Bein sich ausnahm. Und da ihre philosophische Discussion trotz der Schwierigkeiten des Weges nicht einschlief, so hörte man auf dem Wege über den helltönenden gefrornen Strom eine breite, gutmüthige und nach Athem suchende Stimme: «Sie kennen mich, Otto....»

Bompard erduldete während dieser Zeit tausend Qualen. Am Morgen noch fest überzeugt, dass Tartarin niemals seine Prahlerei zu Ende führen und den Montblanc eben so wenig besteigen würde, wie er die Jungfrau bestiegen, hatte der Unglückliche sich wie gewöhnlich gekleidet; ohne in seine Stiefelsohlen Nägel schlagen zu lassen, oder auch nur seine famose Erfindung vom Fussbeschlag der Soldaten zur Anwendung zu bringen, ohne Alpenstock, weil die Bewohner des Chimborazo dergleichen nicht brauchen, war er mit ausgezogen. Nur mit seinem Spazierstocke ausgerüstet, der zu seinem Hut mit blauem Bande und seinem langen Oberrock nicht übel passte, erzitterte er in der Nähe des Gletschers, denn trotz aller seiner Geschichten hatte der «Lügner», wie Jedermann sich denken mag, noch nie einen hohen Berg bestiegen. Er fasste indessen Muth, als er von der Moräne aus sah, mit welcher Leichtigkeit Tartarin auf dem Eise sich bewegte, und so entschloss er sich denn, ihm bis zu den Grands-Mulets zu folgen, wo man die Nacht zubringen sollte. Nicht ohne Bedrängniss erreichte er diese Station. Beim ersten Schritt vorwärts lag er der Länge nach auf dem Rücken, beim zweiten Versuch auf den Händen, beim dritten auf den Knieen. «Nein, ich danke, es ist absichtlich, sagte er zu den Führern, die ihm wieder aufzuhelfen suchten.... So machen es die Amerikaner, vé! auf dem Chimborazo!» und da diese Position ihm sehr bequem schien, so beharrte er bei derselben, kroch auf allen Vieren vorwärts, den Hut nach hinten gerückt, mit dem Ulster wie mit einem Bärenfell über das Eis fegend. Dabei blieb er sehr ruhig und erzählte, dass er in den Cordilleren von Ecuador einen Berg von zehntausend Meter also erklettert hatte. Er sagte nicht gerade, in wie viel Zeit. Lange musste es gedauert haben, nach dem Stück bis zu den Grands-Mulets zu schliessen, wo er eine Stunde nach Tartarin, triefend von schmutzigem Schneewasser und mit erfrornen Händen ankam.

Im Vergleich mit der Klubhütte auf dem Guggi ist die Hütte, welche die Gemeinde Chamonix auf den Grands-Mulets hat errichten lassen, wirklich bequem zu nennen. Als Bompard in die Küche trat, wo ein grosses Feuer brannte, sah er Tartarin und den Schweden damit beschäftigt, ihre Stiefel zu trocknen, während der Wirth, ein alter Knasterbart mit weissem Haar in langen Zotteln die Schätze seines kleinen Museums vor ihnen ausbreitete.

Ein Museum des Unheils, denn es enthält Andenken von allen Schreckensereignissen, die auf dem Montblanc seit den vierzig Jahren, die der Alte hier wirthet, sich zugetragen haben. Und indem er ein Stück nach dem andern aus dem Glaskasten holte, erzählte er ihren traurigen Ursprung.... Mit diesem Stück Tuch, diesen Westenknöpfen verbindet sich das Andenken an einen russischen Gelehrten, der durch einen Sturm auf dem Gletscher der Brenva verunglückte.... Diese Kinnbacken sind die Ueberreste eines der Führer der berühmten Karawane von elf Reisenden und Trägern, die in einem Schneesturm verschwunden sind.... Bei dem Dämmerlichte des sinkenden Tages und dem bleichen Reflex, der von den Firnfeldern auf die Scheiben und die Ausstellung dieser Todes-Reliquien fielen, hatten diese eintönigen Erzählungen etwas Beklemmendes, und dies um so mehr, als der Greis seine zitternde Stimme bei den pathetischen Stellen rührender erklingen liess und fast zu Thränen bewegt wurde, als er ein Stück grünen Schleiers von einer englischen Dame entfaltete, die im Jahre 1827 durch eine Lawine verschüttet worden war.

Tartarin mochte sich noch so sehr durch die Daten beruhigen und sich überzeugen, dass die Compagnie zu jener Epoche noch keine gefahrlosen Bergbesteigungen organisirt hatte; es half nichts, der savoyische Unglücksrabe schnürte ihm die Brust zusammen. Er musste hinaus vor die Thür, um Luft zu schöpfen.

Die Nacht hatte sich über Schluchten und Klüfte gelegt. Die Bossons standen leichenfahl da, während der Montblanc seinen, noch vom letzten Sonnenstrahl geküssten, rosigen Gipfel erhob. An diesem Lächeln der Natur erheiterte sich auch unser Südländer, als jetzt der Schatten Bompard's hinter ihm auftauchte.

«Sie sind es, Gonzague. Sie sehen, dass ich an der frischen Luft mich erhole. Der Alte mit seinen Geschichten ging mir auf die Nerven....

Tartaréïn, sagte Bompard, und dabei fasste er seinen Arm, als wollte er ihn zermalmen__ Ich hoffe, dass es damit genug ist und dass Sie auf dieser lächerlichen Bergfahrt nicht weiter gehen.»

Der grosse Mann betrachtete ihn mit erschrockenen Augen:

«Was sagen Sie da?»

Nun zeichnete ihm Bompard ein furchtbares Bild von den tausend Toden, von denen sie durch Gletscherspalten, Lawinen, Stürme, Wirbelwinde bedroht würden.

Aber Tartarin unterbrach ihn:

«Ach, Possen; und die Compagnie?... Der Montblanc ist also nicht eingerichtet wie die andern?

– Eingerichtet!... die Compagnie?...» sagte Bompard ganz verdutzt, denn er erinnerte sich seiner Tarasconnade nicht mehr; als ihm nun aber der Andere seine Geschichte Wort für Wort wieder erzählte, die Schweiz ein Aktienunternehmen, die Pacht der Gebirge, die Theaterklüfte u. s. w., da brach der lange Freund in ein unbändiges Gelächter aus:

«Wie! Das haben Sie geglaubt!... Aber, es war ja nur eine Windbeutelei.... Unter uns Leuten von Tarascon weiss man doch wohl, was reden sagen will....

– Also, fragte Tartarin in tiefer Erregung, die Jungfrau war nicht eingerichtet?.

– Warum nicht gar!

– Und wenn nun das Seil zerrissen wäre?...

– Ach, mein armer Freund....»

Der Held schloss die Augen, er erbleichte bei dem Gedanken an die überwundene Gefahr. Eine Minute lang schwankte er.... Ein Land, das im Kampf grausiger Elemente entstanden war, kalt, dunkel, von Klüften mit Abgründen durchschnitten... und dazu die Klagelieder des invaliden Drachens, die ihm noch schauerlich in den Ohren lagen.... «Outre! hätte ich fast gesagt....» Dann plötzlich dachte er an die Leute von Tarascon, an das Banner, das er dort oben wollte wehen lassen, und, sagte er sich, mit guten Führern, einem allerfahrnen Gefährten wie Bompard.... Er selber hatte die Jungfrau bestiegen.... Warum sollte er es nicht auch mit dem Montblanc versuchen?

Und seine breite Hand auf die Schulter des Freundes legend, begann er mit männlicher Stimme:

«Hören Sie, Gonzague....»


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