Hedwig Courts-Mahler
Der Abschiedsbrief
Hedwig Courts-Mahler

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18

Lutz hatte unruhevolle Tage hinter sich. Jeden Tag fragte er bei Lonnys Vater an, ob noch immer keine Nachricht von ihr eingetroffen sei. Er schlief schlecht, hatte keinen Appetit, und sein Gesicht wurde schmäler. Nach wie vor übte er sein Amt als Droschkenchauffeur aus, und da dieser Beruf in einer verkehrsreichen Stadt wie Berlin immerhin auch Nerven kostet, war sein Zustand jetzt nicht beneidenswert.

Eines Tages bekam er von dem Rechtsanwalt Harry Fleed in San Francisco zunächst einmal ein ausführliches Telegramm:

»Nachforschungen haben ergeben, daß Sie der gesuchte Erbe tatsächlich sind. Hinterlassenschaft Hennersberg steht zur Verfügung. Genaues Verzeichnis aller Werte brieflich unterwegs. Kommen baldigst erwünscht, aber nicht unbedingt erforderlich. Wert der Erbschaft einundeinhalb Millionen Dollar. Weise zehntausend Dollar auf Ihren Namen an Deutsche Bank, Berlin. Bitte weitere Wünsche. Harry Fleed.«

Lutz stieg nun doch die Röte der Aufregung ins Gesicht. Bisher hatte er immer noch Zweifel gehabt, ob es wirklich seine Richtigkeit mit der Erbschaft hatte. Und dieser einsichtsvolle Rechtsanwalt Fleed hatte den vernünftigen Gedanken gehabt, ihm erst einmal zehntausend Dollar anzuweisen. 200

Er grübelte darüber nach, wie wohl sein Onkel Henner zu so großem Reichtum gekommen war. Wie hatte er, der Abenteurer von Beruf, so viel Geld erwerben können? Und warum hatte er nie mehr von sich hören lassen? Sein Vater hatte ihn doch längst als tot betrauert.

Lutz überlegte, ob er nun noch immer als Chauffeur tätig sein sollte, und mußte sich sagen, daß das keinen Zweck mehr habe. Er wollte für das Auto, das er selber gefahren hatte, noch einen zweiten Chauffeur einstellen, dann hatte er auch Bewegungsfreiheit, wenn Kunde von Lonnys Aufenthalt kam. Denn daß er sich dann sofort auf die Reise machen würde, ganz gleich, wo sie sein mochte, war sicher.

Seine Wohnung über der Garage gab er aber noch nicht auf, hoffte er doch noch immer, daß Lonny ihm eines Tages selbst ein Lebenszeichen geben würde. Es konnte doch nicht sein, daß sie für immer von ihm gegangen war, daran durfte er nicht denken, wenn er nicht verzweifeln wollte. So waren Wochen vergangen seit Lonnys Verschwinden, als eines Morgens der Major in Lutz' Wohnzimmer auftauchte, in dem dieser tatenlos grübelnd saß. Lutz sprang auf und sah ihn erregt an.

»Vater, du? Hast du Nachricht von Lonny?« rief er heiser.

Der Major zog einen Brief hervor.

»Ja, Lutz, endlich. Ich habe dir mein Wort gegeben, daß du erfahren sollst, wo sie ist. Hier – ihr Brief.«

Lutz riß dem Major das Schreiben fast aus der Hand. Mit einem Aufatmen, das einem Stöhnen glich, vertiefte er sich in den Inhalt des Schreibens.

Da hieß es zum Schluß:

»Sei mir nicht böse, mein lieber Papa, daß ich 201 fortging; ich konnte nicht anders. Schreib mir ein gutes Wort – ich brauche es so nötig, fühle ich mich doch grenzenlos einsam und verlassen hier im fremden Land, zwischen lauter fremden Menschen, die nicht einmal Zeit für sich haben, viel weniger für andere. Denke daran, daß ich mir selbst am wehesten habe tun müssen. Ich werde Dir schreiben, so oft ich kann, und Dich immer auf dem laufenden halten über mein Schicksal. Bitte, sende mir auch recht oft Nachricht. Behalte mich ein bißchen lieb, es tut so weh, allein zu sein. Meine Gedanken sind immer daheim bei Dir und bei Lutz. Ich bitte Dich inständig, teile mir mit, wie es ihm geht. Aber Du darfst ihm nicht sagen, wie sehr ich mich nach ihm sehne, darfst ihm um keinen Preis meine Adresse geben – ich muß mich zur Ruhe durchringen. Schreibe bald, mein lieber Papa – und bleib gesund.

Deine Lonny«

In Lutz Hennersbergs Augen schimmerte es feucht, als er den Brief zu Ende gelesen hatte; so viel hatte er noch zwischen den Zeilen gelesen, was ihm das Herz umdrehte.

Er sah zu dem Major auf.

»Ich danke dir, Vater, daß du mir den Brief gabst. Und ich reise mit dem nächsten Dampfer nach New York. Lonny darf um keinen Preis einen Vertrag mit Mister Stanhope abschließen, sie darf sich nicht binden. Ich hole sie heim, Vater, sie muß mit mir zurückkommen.«

Die beiden Männer hielten sich fest bei den Händen. Dann richtete sich Lutz straff empor, alle Schlaffheit war von ihm gewichen. Er wußte nun, in Tagen konnte er bei Lonny sein, konnte sein Glück 202 zurückerobern. Nicht länger war er zur Tatenlosigkeit verdammt.

Die Herren besprachen noch allerlei, und dann fuhr Lutz mit dem Major in die Stadt. Er wollte sich im Reisebüro erkundigen, wann der nächste Dampfer abging, bei der Deutschen Bank sehen, ob das von Mister Fleed angekündigte Geld für ihn angewiesen war. Geld mußte er haben zu seiner Reise, und wenn die zehntausend Dollar noch nicht eingetroffen waren, mußte er einen seiner Wagen beleihen lassen.

Aber das Geld war da. Und nun hatte Lutz schon etwas Greifbares von seiner Erbschaft. Den Major bat er, mit seinen Chauffeuren während seiner Abwesenheit abzurechnen.

»Wenn ich mit Lonny zurückkomme, Vater, dann werden wir auch über deine Zukunft reden; du gibst dann deine Stellung als Versicherungsbeamter auf, und vielleicht übernimmst du dann die Verwaltung der Autos; wir können noch einige dazukaufen, und du hast dann einen Wirkungskreis, der dich unabhängig macht und dich doch noch nicht ausschaltet«, sagte Lutz.

Der Major drückte ihm nur stumm die Hand, reden konnte er nicht. Lutz erfuhr, daß der nächste passende Dampfer am Montag abging. Bis dahin konnte er alles erledigt haben, und so bestellte er eine Kabine für sich.

Sein Herz war ihm nun schon viel leichter; bald würde er bei Lonny sein, bald sie wiederhaben. Er zweifelte gar nicht daran, daß er sie von seiner Liebe überzeugen konnte, wenn er nur erst bei ihr war. Sie mußte ihm glauben, daß er an jenem Abend halb von Sinnen war. Nur sie erst wiedersehen, sie in seinen Armen halten, dann würde alles wieder gut sein. 203

Von New York aus wollte Lutz dann gleich nach San Francisco reisen, um seine Erbschaftsangelegenheit zu regeln, sicher war es gut, wenn er selber hinüberging.

Am nächsten Morgen, als Lutz sich von einem seiner Chauffeure zum Bahnhof bringen lassen wollte, kam gerade noch ein dicker, schwerer Brief von Mister Harry Fleed aus San Francisco. Er steckte ihn uneröffnet zu sich, weil es höchste Zeit war, zum Bahnhof zu kommen. Er wollte ihn erst lesen, wenn er im Zuge saß.

Lutz hatte sich in den letzten Tagen neu ausgestattet und sah in seinem eleganten Reiseanzug sehr vornehm und gediegen aus. Und sein Kabinenkoffer war eben nur zu neu, um ebenso vornehm zu wirken.

Sobald er sich in seiner Abteilecke am Fenster eingerichtet hatte, fuhr der Zug ab.

Und nun öffnete er den gewichtigen Brief. Der Umschlag enthielt außer einem Schreiben des Rechtsanwaltes eine Testamentsabschrift und allerlei andere Papiere.

In dem Testament hieß es unter anderem:

»Ich, Endesunterzeichneter, testiere also: Mein gesamtes Barvermögen sowie die weiter unten angeführten Liegenschaften und Wertgegenstände, also meine ganze bewegliche und unbewegliche Habe, hinterlasse ich meinem Neffen, dem Freiherrn Lutz von Hennersberg, einzigem Sohn meines im Krieg gefallenen Bruders, des Freiherrn Georg von Hennersberg, und seiner ebenfalls verstorbenen Gemahlin, der geborenen Baronesse von Brambach, den ich hiermit zu meinem Universalerben ohne jede Einschränkung einsetze. Ehe ich ausführlich angebe, was ich zu vererben habe, möchte ich meinem Neffen Lutz mitteilen, warum ich all die Jahre nichts von mir hören ließ. Ich habe immer Abenteurerblut in meinen Adern gehabt, konnte 204 mich nicht in die engen Verhältnisse meines Vaterlandes fügen. Ich wanderte aus, zuerst nach Texas. Das Leben, das ich geführt habe, war ein abenteuerliches und wildes, weil ich die Gefahr liebte und mein Leben immer aufs Spiel setzen mußte, um es immer von neuem gewinnen zu können. Als mein kleines Erbe ziemlich aufgebraucht war, ich aber anders nicht verdienen konnte, was ich brauchte, wurde ich zuerst Zirkusreiter in einem Wanderzirkus. Das war mir auf die Dauer noch zu zahm; reiten konnte ich schon von Kind auf so gut, daß man mir den Spitznamen ›Der Zentaur‹ gegeben hatte. Ich mußte mehr einzusetzen haben, wenn mich das Leben reizen sollte. Und – so wurde ich Dompteur. Ich dressierte wilde Tiere und liebte meine Bestien mehr als die Menschen, weil sie mich besser verstanden als diese, mit ganz wenigen Ausnahmen.

Ich hatte meinen Namen schon abgelegt, als ich als Zirkusreiter auftrat; nannte mich nur Charles Henner, nach meinen beiden Vornamen, und schrieb auch meinem Bruder nicht mehr, weil ich nicht lügen mochte und weil ich meinem Bruder ersparen wollte, sich meiner schämen zu müssen. Wenn Dich, mein lieber Lutz, mein Leben und Treiben interessiert, so findest Du genaue Aufzeichnungen darüber in meinem Tagebuch, das ich für Dich hinterlasse. Du wirst daraus ersehen, daß der Freiherr Henner von Hennersberg auch als Tierbändiger ein ganz anständiger Kerl gewesen ist.

Und nun soll das Vermögen, das ich verdient habe, Dir, Lutz von Hennersberg, zugute kommen. Gründe mit meinem Geld ein neues, gesundes Geschlecht, und schäme dich nicht, daß Dein Onkel Henner ein Tierbändiger, aber noch mehr ein Tierfreund war.«

Es folgte nun eine genaue Aufstellung aller Vermögenswerte. Außer seinem großen Barvermögen 205 hinterließ er Lutz ein Landhaus bei San Francisco, wo er seine Tage beschlossen und in dem er eine auf seinen weiten Reisen erworbene wertvolle Sammlung von allerlei Dingen aufgestellt hatte.

Lutz las die letzten Worte seines Onkels noch mehrere Male durch; es wurde ihm dabei warm ums Herz.

Eine tiefe Dankbarkeit erfüllte ihn für diesen seltsamen Mann, der ihm durch sein reiches Erbe aus aller Not und aus allen Schwierigkeiten half. Er wollte ihm ein dankbares Gedenken weihen.

In Hamburg blieb er noch eine Nacht im Hotel und begab sich am nächsten Morgen an Bord des Dampfers. Seiner Sehnsucht erschien die Seereise sehr lang, aber sie tat ihm doch gut nach all den Qualen und Aufregungen der letzten Wochen, so daß er in bester Verfassung in New York anlangte. 206

 


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