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Achter Abschnitt.


Erstes Kapitel.

In das Wohnzimmer meines väterlichen Hauses in Russel Street trat – eine Elfe!!! weiß gekleidet, klein, zart, mit rabenschwarzen Locken, die bis auf die Schultern herabhingen, und Augen, so groß und so glänzend, daß sie durch das ganze Zimmer leuchteten, wie bloß menschliche Augen unmöglich zu leuchten im Stande sind. Die Elfe kam näher und blieb vor uns stehen. Der Anblick war so unerwartet und die Erscheinung so seltsam, daß wir einige Augenblicke in bestürztem Schweigen verharrten. Endlich hatte mein Vater, als der muthigere und weisere von uns beiden, und als der am besten geeignet war, mit den geheimnißvollen Wesen einer andern Welt zu verkehren, die Kühnheit, ganz nahe vor das kleine Geschöpf hinzutreten, und, indem er sich niederbeugte, um ihm in das Angesicht zu sehen, sagte er: »Was willst Du, mein hübsches Kind?«

Hübsches Kind! War es am Ende wirklich nur ein hübsches Kind? Ach, wie gut wäre es, wenn Alle, die wir auf den ersten Blick für Feen oder Elfen halten, sich nur als hübsche Kinder erweisen würden!

»Kommen Sie,« erwiederte das Kind mit einem ausländischen Accent und ergriff meinen Vater beim Schooße seines Rockes – »kommen Sie! Der arme Papa ist so krank! Ich bin so sehr in Angst! Kommen Sie – und retten Sie ihn –«

»Gewiß!« rief mein Vater schnell. »Wo ist mein Hut, Sisty? Gewiß, mein Kind! Wir wollen zu Deinem Papa gehen und ihn retten.«

»Aber wer ist Dein Papa?« frug Pisistratus – eine Frage, welche meinem Vater nimmermehr eingefallen wäre. Er erkundigte sich nie, wer oder was die kranken Papas armer Kinder waren, wenn besagte Kinder ihn am Rockschooß zupften. – »Wer ist Dein Papa?«

Das Kind sah mich fest an, ohne jedoch zu antworten, und dicke Thränen rollten ihm aus den großen, glänzenden Augen. In diesem Moment erschien eine Gestalt unter der Thüre, und, aus dem Schatten auftauchend, zeigte sich eine kräftige, hübsche junge Person unsern Blicken. Sie machte einen Knix und sagte dann geziert:

»O, Miß. Sie hätten auf mich warten und nicht die Herrschaften erschrecken sollen, indem Sie so die Treppe herauf sprangen. Mit Erlaubniß, Herr, ich mußte zuerst mit dem Kutscher in's Reine kommen, und er war so unverschämt, wie diese gemeinen Leute es immer sind, wenn sie es nur mit uns armen Frauenzimmern zu thun haben. Herr, und –«

»Aber was ist denn vorgefallen?« rief ich jetzt, denn mein Vater hatte beschwichtigend das Kind in seine Arme genommen, das nun an seiner Brust weinte.

»Ja, sehen Sie (wieder ein Knix), der Herr ist erst gestern Nacht in unserm Hotel angekommen – im Lamm, bei der Londoner Brücke – und er wurde krank – und ich glaube, er ist nicht recht bei Sinnen. Wir ließen den Doctor kommen, und der Doctor sah nach dem Messingschild auf dem Reisesack des Herrn, schlug dann im Adreßkalender nach und sagte: ›Es wohnt ein Mr. Caxton in Great Russel Street – ist er ein Verwandter?‹ worauf die junge Miß sagte: ›Er ist Papas Bruder, und wir wollten zu ihm gehen.‹ – Und nun, Herr, da der Hausknecht ausgegangen war, nahm ich ein Cabriolet, und die Miß wollte mit mir gehen, und –«

»Roland – Roland krank! – Schnell – schnell –!« rief mein Vater und eilte, das Kind noch immer in seinen Armen haltend, die Treppe hinunter. Ich folgte ihm mit seinem Hute, den er natürlich vergessen hatte. Zum Glück fuhr eben ein Cabriolet an unserer Thüre vorüber, allein das Zimmermädchen wollte uns nicht eher einsteigen lassen, als bis sie sich überzeugt hatte, daß es nicht das nämliche sei, welches sie vorhin weggeschickt. Nach beendigter Untersuchung nahmen wir unsere Plätze ein und fuhren nach dem Lamm.

Das Zimmermädchen, welches uns gegenüber saß, verbrachte die Zeit mit erfolglosen Anerbietungen, meinem Vater das kleine Mädchen abzunehmen, welches sich noch immer an seine Brust schmiegte – mit einem langen, von vielen Episoden unterbrochenen Epos über die Gründe, welche sie bewogen hatten, den vorigen Kutscher zu entlassen, der es für gut gefunden, zur Erhöhung des Fahrpreises einen weiten Umweg zu machen – und endlich mit vielfachen Entschuldigungen über ihr Aussehen (dies war namentlich der Fall, wenn ihre Augen auf meine Atlashalsbinde fielen oder sich nach meinen blanken Stiefeln senkten), wobei sie ihre Haube zurechtrückte und die Falten ihres Kleides niederstrich.

Im Lamm angekommen, führte uns das Zimmermädchen mit selbstbewußter Würde eine breite Treppe hinan, die kein Ende zu nehmen schien. Als sie den dritten Stock erreicht hatte, blieb sie stehen, um Athem zu schöpfen und uns entschuldigend mitzutheilen, daß das Haus voll sei – wenn aber der Herr über den Freitag bleibe, so komme er in Nr. 54 »mit einer Aussicht und einem Kamine.« Mein kleines Bäschen entschlüpfte nun den Armen meines Vaters, sprang die Treppe hinauf und winkte uns, zu folgen. Wir thaten es und gelangten an eine Thüre, vor welcher das Kind stehen blieb und horchte; hierauf zog die Kleine ihre Schuhe aus und schlich sich auf den Zehen hinein; wir traten hinter ihr in das Zimmer.

Bei dem Scheine einer einzigen Kerze erkannten wir das Angesicht meines armen Onkels; es war vom Fieber geröthet, und die glänzenden Augen hatten jenen starren, nichtssagenden Ausdruck, der so schrecklich anzusehen ist. – Weniger erschütternd ist es, den abgezehrten Körper, die vom Todeskampf entstellten Züge zu sehen, als in ein Antlitz zu blicken, aus welchem der Geist nicht mehr spricht – in die Augen, die uns nicht mehr zu erkennen vermögen. Ein solcher Anblick ist ein banger Schlag für jenen unbewußten, gewohnten Materialismus, mit welchem wir Diejenigen, welche uns theuer sind, zu betrachten pflegen, denn, indem wir den Geist, das Herz, die warme Zuneigung, welche der unserigen entgegenkam, vermissen, werden wir mit einem Mal gewahr, daß es ein Etwas innerhalb der Hülle, nicht die Hülle selbst gewesen, welche wir so innig liebten. Eben diese Hülle ist vielleicht noch wenig verändert; aber die Lippe lächelt uns kein Willkommen, das Auge gleitet über uns hin, als wären wir Fremde, das Ohr unterscheidet unsere Stimme nicht mehr – der Freund, den wir suchten, er ist nicht da! Sogar unsere Liebe weicht erkältet zurück und wird zu einer Art unbestimmten, abergläubischen Schreckens. Ja, nicht die Materie, die uns ja noch nicht entrissen worden, hatte alle jene zarten, namenlosen Gefühle in uns erweckt, welche in dem Worte »Liebe« zusammengefaßt werden, sondern jenes luftige ungreifbare, elektrische Etwas, dessen Abwesenheit uns jetzt mit Entsetzen erfüllt.

Ich blieb sprachlos stehen, während mein Vater leise näher schlich und die Hand ergriff, die seinen Druck nicht erwiederte. Nur das Kind schien unsere Erregung nicht zu theilen; es stieg auf das Bett, legte die Wange an die Brust des Kranken und war stille.

»Pisistratus,« flüsterte endlich mein Vater. Ich hielt den Athem an und stahl mich näher – »Pisistratus, wenn Deine Mutter hier wäre!«

Ich nickte; derselbe Gedanke hatte sich uns gleichzeitig aufgedrungen. Seine tiefe Weisheit und meine thatkräftige Jugend – beide fühlten in diesem Augenblick ihre Nichtigkeit; beide vermochten nicht, in dem Krankenzimmer die hülfreiche weibliche Hand zu ersetzen.

Ich entfernte mich leise, stieg die Treppen hinunter und blieb in einer Art von Betäubung im Freien stehen, bis mich die Fußtritte der Vorübergehenden, das Rollen der Wagenräder und der große Londoner Straßenlärm wieder zur Besinnung brachte. Diese Ansteckung des praktischen Lebens, welches das Herz einschläfert und das Gehirn anspornt – welch' ein geistiges Geheimniß liegt nicht in seiner nüchternen Atmosphäre! Im nächsten Augenblick hatte ich, gleichsam wie in Folge einer Eingebung, aus der langen Reihe jener Diener unserer Trivia Hier soviel wie ›Niederungen des Alltags‹; Trivium ist der zugehörige Singular, davon abgeleitet das gebräuchliche ›trivial‹. das leichteste Cabriolet mit dem stärksten Pferde herausgefunden und befand mich auf meinem Wege – nicht nach Hause, sondern zu Doctor M–H–, Manchester Square, den ich als Trevanion's Hausarzt kannte. Glücklicherweise traf ich diesen tüchtigen und wohlwollenden Mann zu Hause, und er versprach mir, bei dem Kranken zu sein, noch ehe ich selbst zurückgekehrt sein würde. Hierauf fuhr ich nach Russel Street und benachrichtigte meine Mutter so vorsichtig, als möglich, von dem Vorgefallenen.

Bei unserer Ankunft im Lamm fanden wir bereits den Doctor, welcher seine Vorschriften gab – die augenblicklich anzuwendenden Mittel bekundeten die Gefahr. Ich eilte fort, um den Wundarzt zu holen, der schon zuvor herbeigerufen worden war. Glücklich Diejenigen, welche nichts wissen von jener nicht zu beschreibenden, stummen Geschäftigkeit, die bisweilen in einem Krankenzimmer herrscht – von jenem Kampf zwischen Leben und Tod, da der arme, bewußtlose Körper dem Angriff feines schrecklichen Feindes ohne Widerstand hingegeben ist – von dem dunkel entströmenden Blute – von der Hand auf dem Pulse und den bangen Zweifeln, womit jeder Blick an dem Ausdruck auf dem Gesichte des Arztes hängt – von den Senfteigen auf die Fußfohlen, den Eisumschlägen auf den Kopf und den unzusammenhängenden Worten des Kranken, welche die Stille oder das leise Flüstern hin und wieder unterbrechen und vielleicht von grünen Gefilden und Feenländern erzählen – während uns das Herz brechen möchte! Dann endlich der Schlaf – in diesen, Schlaf vielleicht die Krisis – das athemlose Beobachten, das langsame Erwachen, die ersten zusammenhängenden Worte – das alte Lächeln wieder, nur matter – unsere hervorstürzenden Thränen und das leise »Gott sei Dank! Gott sei Dank!«

Der Leser möge sich alles dieses selbst ausmalen – es ist vorüber! Roland hat gesprochen – sein Bewußtsein ist zurückgekehrt meine Mutter beugt sich über ihn – seines Kindes kleine Hände sind um seinen Hals geschlungen – der Wundarzt, welcher sechs lange Stunden bei uns gewesen, nimmt seinen Hut und sagt uns mit einem freundlichen Lächeln Lebewohl – und mein Vater steht an die Wand gelehnt, sein Antlitz mit den Händen bedeckend.


Zweites Kapitel.

Alles dieses war so plötzlich gekommen, daß es mir – um mich einer abgenützten Phrase zu bedienen, denn keine andere ist so ausdrucksvoll – gleich einem Traum erschien. Ich fühlte ein unbedingtes, gebieterisches Verlangen nach Einsamkeit, nach freier Luft. Das überströmende Gefühl der Dankbarkeit erstickte mich beinahe, das Zimmer schien mir nicht groß genug für mein volles Herz. In früher Jugend finden wir es eben so schwer, unsere Gefühle zu beherrschen, als in Gegenwart Anderer ihnen Luft zu machen. Wenn uns irgend etwas lebhaft ergreift, so eilen wir, uns in unser Zimmer einzuschließen, oder flüchten wir uns auf die Straße oder in die Felder; in jungen Jahren sind wir noch Naturmenschen und folgen dem Beispiel des armen, unvernünftigen Thieres – der verwundete Hirsch verläßt die Herde, und der Hund, dem etwas auf dem treuen Herzen liegt, versteckt sich in eine Ecke.

So stahl ich mich denn aus dem Gasthof und wanderte durch die einsamen Straßen. Es mochte etwa um die erste Stunde der Morgendämmerung sein, immer und überall, besonders aber in London, eine höchste unerquickliche und unbehagliche Stunde! Ich jedoch fühlte mich erfrischt von der scharfen Luft und beruhigt durch die öde Stille. Die Liebe, welche mein Onkel einflößte, war höchst eigenthümlicher Art; sie glich keineswegs jener ruhigen Zuneigung, mit welcher sich ältere Leute in der Regel begnügen müssen, vielmehr knüpfte sich an dieselbe das lebhaftere Interesse, welches die Jugend erweckt. Er besaß noch so viel feurige Lebendigkeit, und selbst in seinen irrigen Ansichten und Grillen sprach sich so viel jugendliche Selbsttäuschung aus, daß man sich ihn kaum anders, denn jung vorstellen konnte. Jene ritterlichen, übertriebenen Begriffe von Ehre, jene Romantik der Empfindungen, welche gegen Ungemach, Sorge, Gram und Enttäuschungen Stand gehalten (und dies zu einer Zeit, da junge Männer von zwei und zwanzig Jahren sich für blasirt erklären!), schienen ihm allen Zauber des Jugendalters gelassen zu haben. Eine einzige Saison in London hatte mich mehr zu einem Weltmann und älter im Herzen gemacht, als er es war. Dann jener bittere, nagende Kummer, der ihn verzehrte! Nein – Capitän Roland war einer von jenen Menschen, welche unsere Einbildungskraft beschäftigen und sich mit unserm eigenen Leben verschmelzen. Der Gedanke, daß Roland sterben könnte – sterben mit dieser Last auf seinem Herzen – schien mir eine Feder aus dem Triebrad der Natur heraus zu nehmen und mein Leben eines seiner besten Zwecke zu berauben. Denn ich hatte mir die feste Aufgabe gestellt, den Sohn dem Vater wieder zu geben und auf jene eherne Lippe das Lächeln zurück zu bringen, das einst so froh und heiter gewesen sein mußte. Roland war jetzt außer Gefahr, allein, gleich ein dem Schiffbruch Entgangenen, zitterte ich beim Rückblick auf dieselbe; das Brausen der drohenden Fluth tönte noch immer in meinen Ohren. Während ich so in meine Träume versunken war, blieb ich mechanisch stehen, um auf einen Glockenschlag zu hören – es war vier Uhr, und, indem ich um mich blickte, bemerkte ich, daß ich das Herz der City verlassen und eine der Straßen eingeschlagen hatte, welche von dem Strand weg führen. Unmittelbar vor mir, auf den Stufen eines großen Magazins, dessen geschlossene Läden den Eindruck einer so tiefen Stille machten, als ob sie die Geheimnisse von siebzehn Jahrhunderten in einer Straße Pompeji's bewachten, lag eine Gestalt in festem Schlafe, den Kopf auf den Arm gestützt und die Glieder unbehaglich auf den harten Steinen ausgestreckt. Der Anzug des Schlummernden war beschmutzt und zerrissen, trug jedoch die Spuren einer gewissen Eleganz; ein Anflug verblichener, armseliger, mittelloser Vornehmheit ließ die Armuth um so peinlicher hervortreten, als er die Unfähigkeit bekundete, den Kampf mit derselben aufzunehmen. Das eingefallene, bleiche Antlitz trug selbst im Schlafe einen harten, trotzigen Ausdruck. Ich trat näher und näher – ich erkannte die regelmäßigen Züge, die rabenschwarzen Haare, sogar eine gewisse eigenthümliche Anmuth in der Stellung oder vielmehr Lage des Schlafenden: es war der Jüngling, den ich in dem Wirthshaus an der Straße getroffen, und der mich auf dem Kirchhof bei dem Savoyardenknaben und seinen Mäusen verlassen hatte. Ich zog mich in den Schatten einer Säule des Portals zurück und lehnte mich an das Geländer, unschlüssig, ob mir eine so oberflächliche Bekanntschaft das Recht verleihe, den Schläfer zu wecken, als ein Polizeidiener plötzlich aus einem Winkel der Straße auftauchte und meinen Ueberlegungen mit der Entschiedenheit seines praktischen Berufes ein Ende machte, indem er den Arm des jungen Mannes ergriff und mit den Worten heftig schüttelte – »Ihr dürft hier nicht liegen bleiben; steht auf und geht nach Hause.«

Der Schläfer fuhr rasch in die Höhe, rieb sich die Augen, schaute umher und heftete alsdann einen so stolzen Blick auf den Polizeidiener, daß dieser scharfsinnige Beamte wahrscheinlich vermuthete, der Jüngling habe nicht aus einer Nothwendigkeit ein so unpassendes Lager gewählt, und daher mit größerer Achtung sagte: »Ihr habt zu viel getrunken, junger Mann – könnt Ihr Euren Weg nach Hause finden?

»Ja,« erwiederte der Angeredete, indem er sich wieder zurück legte, »Ihr seht, ich habe ihn schon gefunden!«

»Beim Himmel!« murmelte der Polizeidiener, »er schläft wieder ein. Kommt, kommt! Macht, daß Ihr nach Hause geht, oder ich muß Euch verhaften.«

Mein alter Bekannter wandte sich um. »Polizeidiener,« sagte er mit einem seltsamen Lächeln, »was glaubt Ihr, daß diese Lagerstätte werth sei? – ich sage nicht, für die Nacht, denn diese ist vorüber, wie Ihr seht, sondern für die nächsten zwei Stunden? Das Lager ist weder neumodisch, noch sehr bequem; allein es sagt mir zu; ich denke, ein Schilling wäre ein schöner Preis dafür – was meint Ihr?«

»Ihr liebt einen Scherz, Herr,« versetzte der Polizeidiener, während sich seine Stirne bedeutend glättete, und er mechanisch seine Hand öffnete.

»Einen Schilling also – der Handel ist abgemacht! Ihr vermiethet mir die Lagerstätte auf Borg. Gute Nacht, und weckt mich um sechs Uhr.«

Mit diesen Worten streckte sich der junge Mann mit solcher Entschlossenheit auf den Steinen aus, und das Gesicht des Polizeidieners zeigte eine so große Verwirrung, daß ich ein lautes Lachen nicht unterdrücken konnte und aus meinem Versteck heraustrat.

Der Polizeidiener sah mich an. »Kennt Ihr diesen diesen –«

»Diesen jungen Herrn?« sagte ich ernsthaft. »Ja, Ihr könnt ihn mir überlassen.« Und dabei ließ ich den ausbedungenen Preis für die Lagerstätte in des Polizeidieners Hand gleiten. Er blickte zuerst auf das Geld dann auf mich, hierauf die Straße entlang, rechts und links, schüttelte endlich den Kopf und entfernte sich.

Ich näherte mich nun dem Jüngling, berührte ihn leicht und sagte: »Könnt Ihr Euch meiner erinnern, Herr? und was habt Ihr mit Mr. Peacock angefangen?«

Fremder (nach einer Pause). – »Ich erinnere mich. Euer Name ist Caxton.«

Pisistratus. – »Und der Eurige?«

Fremder. – »Armer Teufel, wenn Ihr meine Taschen befragt – die Taschen, welche die Sinnbilder des Menschen sind; kecker Teufel, wenn Ihr mein Herz fragt. (Er betrachtet mich vom Kopf bis zu den Füßen.) Die Welt scheint Euch gelächelt zu haben, Mr. Caxton! Schämt Ihr Euch nicht, mit einem Elenden zu sprechen, der auf den Steinen liegt? Doch, es ist wahr, Niemand sieht Euch.«

Pisistratus (bedeutungsvoll). – »Hätte ich im vergangnen Jahrhundert gelebt, so würde ich vielleicht Samuel Johnson Samuel Johnson (1709-1784), ein bedeutender englischer Gelehrter, Lexikograf, Schriftsteller, Dichter und Kritiker, hatte ein Alkoholproblem. auf den Steinen liegend gefunden haben.«

Fremder (aufstehend). – »Ihr habt mir meinen Schlaf verdorben; Ihr hattet ein Recht dazu, weil Ihr mein Lager bezahltet. Laßt mich einige Schritte mit Euch gehen; Ihr braucht nichts zu fürchten – ich bin kein Taschendieb – noch nicht!«

Pisistratus. – »Ihr meint, die Welt habe mir gelächelt; ich fürchte, Euch hat sie ein finsteres Gesicht gezeigt. Ich will nicht sagen Muth! denn daran scheint es Euch nicht zu fehlen; allein ich sage Geduld! und dies ist die seltenere der beiden Eigenschaften.«

Fremder. – »Hm! (Wieder heftet er einen durchdringenden Blick auf mich.) Wie kömmt es, daß Ihr stehen bleibt, um mit mir zu sprechen – mit mir, von dem Ihr nichts wißt, oder Schlimmeres, als nichts?«

Pisistratus. – Weil ich oft an Euch gedacht habe; weil Ihr mich interessirt; weil – verzeiht mir – ich Euch helfen möchte, wenn ich kann – das heißt, wenn Ihr der Hülfe bedürft.«

Fremder. – »Der Hülfe bedürfen! Ich bin aus lauter Bedürfniß zusammengesetzt! Ich bedarf des Schlafs – ich bedarf der Nahrung – ich bedarf der Geduld, die Ihr empfehlt – der Geduld, um zu verhungern und zu vermodern. Mit zwölf Sous in der Tasche bin ich zu Fuß von Paris nach Boulogne gereist. Von diesen zwölf Sous ersparte ich vier, mit diesen vieren ging ich in ein Boulogner Billardzimmer und gewann gerade genug, um meine Ueberfahrt zu bezahlen und drei Semmeln zu kaufen. Ihr sehr, ich brauche nur Kapital, um mir ein Vermögen zu machen. Wenn ich mit vier Sous in einer Nacht zehn Franken gewinnen kann, was könnte ich mit einem Kapital von vier Dukaten im Laufe eines Jahres gewinnen? Diese Rechenaufgabe zu lösen, schmerzt mich mein Kopf eben jetzt viel zu sehr. Nun, die drei Semmeln reichten mir auf drei Tage; die letzten Krumen bildeten mein gestriges Nachtessen. Daher nehmt Euch in Acht, wenn Ihr mir Geld anbietet (denn das ist es, was die Menschen unter ›helfen‹ verstehen). Ihr seht, ich habe keine Wahl, als es anzunehmen. Allein ich warne Euch, erwartet keine Dankbarkeit! Diese kenne ich nicht!«

Pisistratus. – »Ihr seid nicht so schlimm, als Ihr Euch schildert, und ich möchte mehr für Euch thun, als Euch das Wenige borgen, das ich Euch anbieten kann. Wollt Ihr offen gegen mich sein?«

Fremder. – »Das kömmt darauf an. Ich war bisher offen genug, wie mir scheint.«

Pisistratus. – »Ihr habt Recht, und ich fahre daher ohne Bedenken fort. Sagt mir weder Euren Namen, noch Eure Lage, wenn Ihr keine Lust zu solchem Vertrauen habt; allein sagt mir, ob Ihr Verwandte habt, an die Ihr Euch wenden könnt? Ihr schüttelt den Kopf. Nun denn, seid Ihr Willens, für Euren Unterhalt zu arbeiten, oder – verzeiht mir – ist es nur am Billardtisch, daß Ihr es versuchen könnt, mit vier Sous zehn Franken zu gewinnen?«

Fremder (nachsinnend). – »Ich verstehe Euch. Bis jetzt habe ich niemals gearbeitet – ich verabscheue die Arbeit. Allein, wenn das Zeug dazu in mir liegt, so habe ich nichts gegen einen Versuch einzuwenden.«

Pisistratus. – »Es liegt in Euch. Wer mit zwölf Sous in der Tasche von Paris nach Boulogne wandern und vier davon zu einem bestimmten Zweck erübrigen kann – wer in ruhigem Vertrauen auf seine eigene Geschicklichkeit jene vier Sous in einem Billardzimmer auf das Spiel setzen – wer endlich drei Tage von drei Semmeln leben und am vierten auf dem Straßenpflaster der Hauptstadt mit einem Auge so stolz und einem Geiste so kühn, wie der Eurige, erwachen kann – der hat alle Erfordernisse in sich, um das Glück zu zwingen.«

Fremder. – »Arbeitet Ihr?«

Pisistratus. – »Ja – und zwar tüchtig.«

Fremder. – »Nun, so bin ich bereit, auch zu arbeiten.«

Pisistratus. – »Gut. Was versteht Ihr?«

Fremder (mit einem seltsamen Lächeln). – »Viele nützliche Dinge. Ich kann eine Kugel mit einem Federmesser spalten; ich kenne die geheime Terze des Fechtmeisters Coulon; ich spreche zwei Sprachen (außer der englischen) so gut, wie ein Eingeborner; ich kenne jedes Kartenspiel; ich bin in der Komödie, Tragödie und Posse zu verwenden; ich kann mit Bachus selbst in die Wette trinken und jedes Frauenzimmer, das mir gefällt, in mich verliebt machen – das heißt, jedes Frauenzimmer, das nichts werth ist. Kann ich mir mit diesen Dingen einen hübschen Lebensunterhalt erwerben? Glacéhandschuhe tragen und ein Cabriolet halten? Ihr seht, meine Wünsche sind bescheiden!«

Pisistratus. – »Ihr sprecht zwei Sprachen, wie ein Eingeborner, sagt Ihr – Französisch ist wohl eine derselben?«

Fremder. – »Ja.«

Pisistratus. – »Wollt Ihr Unterricht darin ertheilen?«

Fremder (stolz). –»Nein. Je suis gentilhomme, was mehr oder weniger bedeutet, als Gentleman. Gentilhomme bedeutet von guter Herkunft, freigeboren – Lehrer sind Sklaven!«

Pisistratus (unbewußt Mr. Trevanion nachahmend). – »Geschwätz!«

Fremder (anfänglich beleidigt, lacht alsdann). – »Sehr wahr; Stelzen passen nicht zu solchen Schuhen! Allein ich kann nicht Unterricht geben; der Himmel sei Denen gnädig, die ich unterrichten müßte! – Sonst etwas?«

Pisistratus. – »Sonst etwas! Ihr laßt mir eine weite Grenze. Der französischen Sprache seid Ihr vollkommen mächtig – und schreibt sie, wie Ihr sie sprecht? Das ist viel. Gebt mir Eure Adresse, wo ich Euch finden kann. Oder wollt Ihr zu mir kommen?«

Fremder. – »Nein! In der Dämmerung will ich mit Euch zusammentreffen, welchen Abend Ihr wollt. Ich habe keine Adresse zu geben, und diese Lumpen kann ich an keines andern Mannes Thüre zeigen.«

Pisistratus. – »Wohlan, nächsten Donnerstag, Abends neun Uhr, hier in dem Strand. Bis dorthin denke ich vielleicht etwas gefunden zu haben, das Euch zusagen wird. Unterdessen –« (seine Börse gleitet in des Fremden Hand. N. B. Eine nicht sehr volle Börse.)

Fremder steckt die Börse in die Tasche, indem er sich den Anschein gibt, als erweise er eine Gefälligkeit. Und es liegt etwas so Auffallendes in dem gänzlichen Mangel jeder Gemüthsbewegung bei einer so unvorhergesehenen Rettung vom Hungertod, daß

Pisistratus ausruft: – »Ich weiß nicht, weßhalb ich diese Vorliebe für Euch gefaßt habe Mr. – kecker Teufel, wenn das der Name ist, der Euch am besten gefällt. Das Holz, aus dem Ihr gemacht seid, scheint gegen den Strich zu gehen und voll Knoten zu sein; dennoch glaube ich, in den Händen eines geschickten Schnitzers könnte es sehr werthvoll werden.«

Fremder (betroffen). – »Glaubt Ihr? – Wirklich? Niemand, so viel ich weiß, war jemals zuvor dieser Ansicht. Allein ich vermuthe, dasselbe Holz, aus welchem der Galgen gezimmert wird, könnte auch zu dem Mast eines Kriegsschiffes dienen. Ich will Euch jedoch sagen, weßhalb Ihr diese Vorliebe für mich gefaßt habt – der Starke empfindet mit dem Starken. Auch Ihr könnt das Glück zwingen!«

Pisistratus. – »Halt; wenn es so ist – wenn eine Geistesverwandtschaft zwischen uns stattfindet, so sollte auch die Zuneigung gegenseitig sein. Kommt, sagt, daß es so ist; denn die Hälfte meiner Aussicht, Euch zu helfen, beruht auf meiner Macht, Euer Herz zu rühren.«

Fremder (augenscheinlich milder gestimmt). – »Wenn ich ein so großer Spitzbube wäre, als ich sein sollte, so würde meine Antwort leicht genug sein. So aber, verschiebe ich sie. – Lebt wohl – bis Donnerstag.«

Der Fremde verschwindet in dem Labyrinth von Gäßchen um Leicester Square.


Drittes Kapitel.

Bei meiner Rückkehr in das Lamm fand ich meinen Onkel sanft eingeschlafen, und, nachdem uns der Wundarzt bei seinem Abendbesuch die Versicherung gegeben, daß alle Ursache zur Besorgniß vorüber und das Fieber rasch im Abnehmen begriffen sei, hielt ich es für nothwendig, nach Trevanion's Hause zurückzukehren und den Grund meiner nächtlichen Abwesenheit zu erklären. Die Familie war jedoch noch nicht vom Lande zurückgekehrt. Trevanion selbst kam im Laufe des Nachmittags auf einige Stunden nach der Stadt und schien herzlichen Antheil an der Krankheit meines armen Onkels zu nehmen. Obgleich er, wie gewöhnlich, sehr viel zu thun hatte, begleitete er mich doch nach dem Lamm, um meinen Vater zu sehen und ihn aufzuheitern. Roland fuhr fort, ›besser zu werden‹, wie der Wundarzt sich ausdrückte, und, als wir nach St. James Square zurückgingen, hatte Trevanion die Rücksicht, mir mein Ruder auf seiner Galeere für die nächsten paar Tage aus den Händen zu nehmen.

Von der Sorge um Roland befreit, wandten sich nun meine Gedanken meinem neuen Freunde zu. Nicht ohne Absicht hatte ich den jungen Mann über seine Kenntniß des Französischen befragt. Die bedeutende Correspondenz, welche Trevanion mit dem Ausland unterhielt, wurde in dieser Sprache geführt, und dabei konnte ich ihm nur wenig behülflich sein. Ihm selbst, obgleich er das Französische mit Geläufigkeit und grammatikalischer Richtigkeit schrieb und sprach, fehlte doch jene genaue Kenntniß dieser feinsten und diplomatischsten aller Sprachen, welche allein seinen classischen Purismus befriedigt haben würde. Denn Trevanion war ein schrecklicher Wortwäger. Sein Geschmack war die Plage nicht nur meines Lebens, sondern auch seines eigenen. Seine vorbereiteten Reden (oder vielmehr Perorationen) gehörten zu den vollendetsten Proben kalter Diction, welche jemals unter dem Marmorportikus der Stoiker ausgedacht wurden; sie waren so gefeilt und gedrechselt, so zierlich und zahm gehalten, daß niemals ein Satz Aufnahme darin fand, der das Ohr zu beleidigen oder aber – das Herz zu erwärmen vermocht hätte. Vor Plattheiten hatte er einen so großen Abscheu, daß er, gleich Canning George Canning (1770-1827), britischer Politiker., lieber einer Umschreibung von mehreren Zeilen sich bedient haben würde, als das Wort ›Katze‹ zu gebrauchen. Nur, wenn er aus dem Stegreife sprach, konnte sich zuweilen ein Strahl seines wirklichen Genius unvorsichtig verrathen. Man kann sich denken, welche Mühe ein so überfeiner Geschmack Demjenigen verursachte, welcher in einer fremden Sprache an irgend einen ausgezeichneten Staatsmann oder an ein literarisches Institut schrieb und in den Geist dieser Sprache gerade so weit eingedrungen war, um alle jene eigenthümlichen Feinheiten derselben zu erkennen, die er nicht zu erreichen vermochte. Trevanion war nämlich soeben mit einer statistischen Urkunde beschäftigt, welche einer Gesellschaft in Kopenhagen, zu deren Ehrenmitgliedern er zählte, mitgetheilt werden sollte. Diese Urkunde bildete schon seit drei Wochen die Plage des ganzen Hauses und quälte namentlich die arme Fanny, deren Französisch das beste war, das uns zu Diensten stand. Trevanion fand jedoch ihre Ausdrucksweise zu geziert, zu weibisch, zu sehr an das boudoir Ursprünglich ein kleiner, elegant eingerichteter Raum, in den sich die Dame des Hauses zurückziehen konnte; Damenzimmer. erinnernd. Hier also war eine Gelegenheit, meinen neuen Freund einzuführen und die Fähigkeiten, die ich ihm zutraute, zu erproben. Daher brachte ich – allerdings nicht ohne einige Aengstlichkeit – die Rede auf die »Bemerkungen über die Mineralschätze Großbritanniens und Irlands« (dies war der Titel des Werkes, welches die Gelehrten Dänemarks zu erleuchten bestimmt war), und, mit Hülfe einiger scharfsinniger Umschweife, welche allen gewandten Bittstellern bekannt sein werden, gelang es mir, am passenden Orte meiner Bekanntschaft mit einem jungen Gentleman Erwähnung zu thun, welcher die genaueste Kenntniß der französischen Sprache besitze, und dem daher vielleicht die Durchsicht des Manuscriptes mit Nutzen anvertraut werden dürfte. Ich kannte Trevanion genug, um zu wissen, daß ich die Umstände, unter welchen ich jene Bekanntschaft gemacht, verschweigen müsse, denn er war ein viel zu praktischer Mann, als daß er nicht bei dem bloßen Gedanken, eine so classische Ausarbeitung in die Hände eines so wenig ehrenwerthen Menschen zu geben, in den Tod erschrocken wäre. So aber ging Trevanion, dessen Geist in diesem Augenblick von tausend andern Dingen erfüllt war, bereitwillig auf meinen Vorschlag ein, ohne die Sache genauer zu untersuchen und weitere Fragen an mich zu richten, und, noch ehe er London verließ, war ich im Besitze des Manuscriptes.

Als er mir dasselbe übergab, wagte ich die schüchterne Bemerkung, daß mein Freund arm sei.

»O, was das betrifft,« rief Trevanion hastig, »wenn es ein Werk der Barmherzigkeit ist, so übergebe ich meine Börse Ihren Händen. Sie aber mein Manuscript nicht den seinigen. Handelt es sich dagegen um eine Geschäftssache, so ist es etwas Anderes, und ich muß mir alsdann zuvor ein Urtheil über seine Arbeit bilden, ehe ich sagen kann, wie viel sie werth ist – vielleicht gar nichts!«

So unfreundlich gaben sich selbst die Tugenden dieses vortrefflichen Mannes kund!

»Es ist eine Geschäftssache,« erwiederte ich, »und als solche bitte ich, sie zu betrachten.«

»In diesen, Fall,« sagte Trevanion, indem er die Angelegenheit zum Abschluß brachte und seine Taschen zuknöpfte – »wenn mir die Arbeit nicht gefällt, nichts; gefällt sie mir, zwanzig Guineen. Wo sind die Abendblätter?« Und im nächsten Augenblick hatte das Parlamentsmitglied den Statistiker vergessen und machte seinem Aerger über das eine oder das andere der genannten Blätter in unzweideutigen Ausrufungen Luft.

Donnerstag war mein Onkel so weit wieder hergestellt, daß er in unser Haus gebracht werden konnte, und an demselben Abend machte ich mich auf den Weg, um, wie verabredet worden, mit dem Fremden zusammenzutreffen. Es schlug neun Uhr, als wir uns beide an dem zur Zusammenkunft bestimmten Orte einfanden; die Palme der Pünktlichkeit hätte zwischen uns getheilt werden können. Die augenfälligsten Mängel in dem Anzug des Fremden waren seit unserer Begegnung ausgebessert worden, und, obgleich noch immer etwas Wildes, Ungeordnetes und Ausländisches in seiner ganzen Erscheinung lag, so trug doch die elastische Energie seines Trittes und die entschlossene Sicherheit seiner Haltung den unverkennbaren Stempel, welchen die Natur ihrer eigenen Aristokratie aufdrückt; denn, so weit meine Beobachtungen reichen, ist das sogenannte » grand air«, (welches von den feinen Sitten oder der höflichen Anmuth vornehmer Erziehung durchaus verschieden ist) stets von zwei Eigenschaften begleitet oder vielleicht hervorgebracht, nämlich von dem Muthe und dem Wunsche, zu befehlen. Es wird häufiger bei halb wilden, als bei ganz civilisirten Naturen angetroffen. Der Araber besitzt es, ebenso der amerikanische Indianer, und ich vermuthe, daß es unter den Rittern und Baronen des Mittelalters öfter zu finden war, als unter den vornehmen Herrn der modernen Salons.

Wir begrüßten uns mit einem Händedruck und gingen schweigend weiter; endlich begann der Fremde –

»Ich fürchte, Ihr habt es nicht so leicht gefunden, als Ihr geglaubt, den leeren Sack zum Stehen zu bringen. Wenigstens ein Dritttheil Derjenigen, die zur Arbeit geboren sind, kann keine finden – weßhalb sollte es mir gelingen?«

Pisistratus. – »Ich bin hartherzig genug, zu glauben, daß, wer in gutem Ernste Arbeit sucht, auch welche findet. Man erzählt sich von einem Manne, der berühmt dafür war, sein Wort niemals zu brechen, daß, ›wenn er Jemand eine Eichel versprochen gehabt hätte, und auf allen Eichen Englands keine zu finden gewesen wäre, er nach Norwegen geschickt haben würde, um eine Eichel holen zu lassen.‹ Wenn ich Arbeit suchte, und in der alten Welt keine zu haben wäre, so würde ich meinen Weg nach der neuen finden. Doch, um zur Sache zu kommen – ich habe etwas für Euch gefunden, was, wie ich glaube, Eurem Geschmack zusagen wird und Euch die Mittel an die Hand geben dürfte, eine ehrenhafte Unabhängigkeit zu erlangen. Ich kann mich jedoch hier auf der Straße nicht näher darüber aussprechen – wohin sollen wir gehen?«

Fremder (nach einigem Zögern). – »Meine Wohnung ist in der Nähe, und ich kann Euch ohne Erröthen in dieselbe führen – das heißt, Ihr kommt nicht unter Schurken und Spitzbuben.«

Pisistratus (sehr erfreut und des Fremden Arm nehmend). – »So kommt denn.«

Pisistratus und der Fremde gehen über die Waterloo-Brücke und bleiben vor einem kleinen Hause von anständigem Aussehen stehen. Der Fremde öffnet mit einem Hausschlüssel, geht voran bis in den dritten Stock, schlägt ein Licht und führt seinen Gast in ein zwar kleines, aber reinliches und geordnetes Zimmer. Pisistratus erklärt die Arbeit, die ausgefertigt werden soll, und öffnet das Manuscript, worauf der Fremde langsam seinen Stuhl in die Nähe des Lichtes rückt und sein Auge rasch über die Seiten gleiten läßt. Pisistratus zittert, als er ihn vor einer langen Reihe von Zahlen und Berechnungen inne halten sieht. Es ist dies ganz gewiß kein sehr einladender Anblick, allein, pah! es gehört kaum zu der Aufgabe, die sich auf die bloße Correctur der Worte beschränkt.

Fremder (kurz). – »Es muß hier ein Fehler sein. Halt! – ich sehe, –« (Er schlägt einige vorhergehende Seiten um und verbessert rasch und sicher einen Irrthum in einer etwas verwickelten Berechnung).

Pisistratus (erstaunt). – »Ihr scheint ein bedeutender Arithmetiker zu sein.«

Fremder. –»Sagte ich Euch nicht, daß ich Gewandtheit in allen Spielen besitze, bei welchen es auf Geschicklichkeit und Glück ankömmt? Dazu gehört ein berechnender Kopf; ein Kartenspieler vom ersten Rang wäre sicherlich ein guter Finanzmann geworden. Ich bin überzeugt, daß, wer Glück auf der Rennbahn und am Spieltisch hat, einen vortrefflichen Kopf für Zahlen besitzt. Nun, dieses Französisch ist ohne Zweifel gut genug; es finden sich nur hin und wieder einige Ausdrücke, die, streng genommen, mehr englisch, als französisch klingen. Die ganze Arbeit ist aber kaum einer Bezahlung werth!«

Pisistratus. – »Nicht die Quantität, sondern die Qualität einer Kopfarbeit entscheidet über den Preis. Wann kann ich das Manuscript wieder haben?«

Fremder (dasselbe in eine Schublade legend) – »Morgen.«

Wir unterhielten uns nun beinahe eine Stunde über verschiedene Gegenstände, und der vortheilhafte Eindruck, welchen ich von den natürlichen Anlagen des jungen Mannes empfangen, bestätigte und steigerte sich mehr und mehr. Allein dieselben hatten sich, gleich denjenigen eines französischen Romanschreibers, auf eine durchaus falsche und verkehrte Bahn verirrt. Er schien sehr viel richtiges Urtheilsvermögen zu besitzen, der Phantasie dagegen, welche den Charakter verschönert und den bloßen Verstand mildert und reinigt, fast gänzlich zu entbehren. Nur zu sehr werden wir von Jugend auf angehalten, uns vor derselben zu hüten; gleichwohl halte ich sie mit Capitän Roland für die göttlichste Art von Vernunft, welche wir besitzen, und zugleich für diejenige, welche uns am wenigsten auf Abwege führt. In der Jugend mag sie allerdings manche Verirrungen zur Folge haben, doch sind diese gewiß nie schmutziger oder entehrender Natur. Newton sagt, eine der letzten Wirkungen der Kometen bestehe darin, den Meeren und Planeten durch Verdichtung ihrer Dünste neue Nahrung zuzuführen; ebenso erweitern selbst die unstäten Blitzstrahlen einer wirklich gesunden und kräftigen Phantasie unser Wissen und lassen unsere Lichter heller glänzen – sie geben unsern Meeren und unsern Sternen neue Nahrung. In Betreff solcher Blitzstrahlen war mein neuer Freund so unschuldig, als der strengste Mann der Thatsachen nur immer hätte wünschen können. Einbildungen besaß er in Menge, und zwar sehr schlimme – Phantasie jedoch nicht einen Funken! Er gehörte zu Denjenigen, deren Geist von der Vernunftlehre gefangen genommen ist und nicht über die Grenzen seines Gefängnisses hinweg sehen kann oder will. Solche Naturen sind zugleich positiv und skeptisch. Dieser Knabe hatte für gut gefunden, die zahllosen Verwicklungen der socialen Welt nach seiner eigenen herben Erfahrung zu beurtheilen; für ihn war das ganze System Krieg und Betrug. Wäre die Welt nur von Spitzbuben bevölkert gewesen, so würde er sich ganz gewiß Bahn gebrochen haben. Eine solche Geistesrichtung hätte bei aller Schlauheit und Unliebenswürdigkeit ungefährlich genug sein können, wenn sie mit einem trägen Temperament verbunden gewesen wäre; sie drohte jedoch, schrecklich zu werden bei einem Menschen, der statt Phantasie ein Uebermaß von Leidenschaft besaß wie dies bei dem jungen Verstoßenen der Fall war. Die Leidenschaft umfaßte bei ihm viele der schlimmsten Regungen, welche gegen das menschliche Glück streiten. Man konnte ihm nicht widersprechen, ohne seinen Jähzorn zu wecken – nicht von Reichthum reden, ohne seine Wangen von verzehrendem Neide erbleichen zu sehen. Die auffallenden natürlichen Vortheile des armen Jünglings – seine Schönheit, seine schnelle Fassungsgabe, der kühne Geist, der ihn gleich einer feurigen Atmosphäre umwehte – hatten sein ursprüngliches Selbstvertrauen zu einer Anmaßung gesteigert, welche selbst seine gerechten Ansprüche auf Bewunderung in Vorurtheile gegen ihn verwandelte. Und doch waren Jähzorn, Neid und Anmaßung, schlimm genug an sich, noch nicht seine schlimmsten Eigenschaften, denn über diese scharfen Ecken lagerte sich ein kalter, abstoßender Cynismus; in Spott und Hohn fanden seine Leidenschaften ihren Ausdruck. Sittliches Gefühl schien er keines zu besitzen und ebenso, was bei einer so stolzen Natur noch mehr überraschen mußte, wenig oder gar kein wahres Ehrgefühl. Dagegen hatte er in beinahe krankhaftem Uebermaß jenen Wunsch, in der Welt sich zu heben, welcher gemeiniglich Ehrgeiz genannt wird; nicht ein Verlangen, sich auszuzeichnen, zu glänzen, zu dienen, die Achtung oder die Liebe seiner Nebenmenschen sich zu erwerben – nur das schroffe Trachten nach Erfolg, um das Recht zu erlangen, eine Welt zu verachten, welche seinen Eigendünkel verletzte, und die Freuden zu genießen, nach denen das sprudelnde, nervige Leben in ihm ungestüm zu verlangen schien. Dies waren die augenfälligen Eigenschaften eines Charakters, welcher trotz der Schlacken in demselben mein Interesse in Anspruch nahm, und an dessen mögliche Besserung und Rettung ich nicht nur glaubte, sondern der nach meiner Ansicht die rohen Elemente einer gewissen Größe in sich barg. Sollte es nicht gelingen, etwas Großes aus einem Jüngling unter zwanzig Jahren zu machen, der in so ungewöhnlich hohem Grade Raschhheit der Auffassung und Muth zur Ausführung besaß? Auf der andern Seite schließen alle Eigenschaften, die zur Größe führen, auch die Anlage zum Guten in sich. In dem wilden Skandinavier oder dem grausamen Franken liegen die Keime eines Sidney oder eines Bayard Siehe Anmerkungen 80 und 81.. Was wäre der Beste von uns, wenn er plötzlich in einem Kampf mit der ganzen Welt sich befände? Und dieser ungestüme Geist war im Kampf mit der ganzen Welt – ein selbstgesuchter mochte es vielleicht sein, allein ein Kampf war es darum nicht weniger. Man muß den Wilden mit den Segnungen des Friedens umgeben, bevor man die Tugenden des Friedens von ihm verlangt.

Ich kann nicht sagen, daß ich diese Ueberzeugungen bei dem ersten Besuch oder in Folge einer einzigen Unterredung gewann; vielmehr fasse ich die Eindrücke zusammen, welche ich im Laufe der Zeit erhielt, als ich mehr von dem jungen Manne sah, dessen Schicksal ich unter meine Obhut zu nehmen gewagt hatte.

»Ohne Zweifel habt Ihr doch wohl einen Namen in Eurer Wohnung,« sagte ich beim Weggehen. »Nach wem soll ich fragen, wenn ich morgen wiederkomme?«

»O, Ihr mögt meinen Namen nun wissen,« erwiederte er lächelnd. »Ich heiße Vivian – Francis Vivian.«


Viertes Kapitel.

Ich erinnere mich, wie ich als Knabe eines Morgens müßig vor einer alten Mauer stand und die Operationen einer Gartenspinne beobachtete, deren Netz sehr gesucht zu sein schien. Zuerst war sie ganz ruhig mit einer Fliege der gewöhnlichen Art beschäftigt, welche sie mit Gemächlichkeit und Würde behandelte. Als sie jedoch eben am eifrigsten in ihre Arbeit vertieft war, zeigten sich zwei Frühlingsfliegen, dann eine Schnake und endlich eine blaue Schmeißfliege – alle in verschiedenen Winkeln des Gewebes. Nie war eine arme Spinne durch ihr Glück so außer Fassung gebracht! Sie wußte offenbar nicht, welcher Gottesgabe sie sich zuerst bemächtigen sollte. Das ursprüngliche Opfer loslassend glitt sie halbwegs gegen die Frühlingsfliegen hin; da erblickte eines ihrer acht Augen die blaue Schmeißfliege, worauf sie nach dieser Richtung hin schoß, als das Summen der Schnake ihre Aufmerksamkeit abermals ablenkte. Mitten in dieser Verlegenheit stürzte sich plötzlich eine junge Wespe in heftiger Leidenschaft in das Netz! Nun verlor die Spinne augenscheinlich alle Geistesgegenwart; ihre Sinne verwirrten sich vollständig, und, nachdem sie betäubt und regungslos ein oder zwei Minuten inmitten ihrer Maschen still gestanden, eilte sie, so schnell sie konnte, nach ihrem Loch und überließ ihre Gäste ihrem Schicksal. Ich gestehe, daß ich mich gewissermaßen in derselben fatalen Lage befinde, wie das anziehende, liebenswürdige Insect, das ich eben beschrieben. So lange ich nur nach meiner gewöhnlichen Hausfliege zu sehen hatte, ging alles gut genug; nun aber in allen Enden meines Netzes etwas flattert (und besonders seit der Ankunft jener leidenschaftlichen jungen Wespe, die in der nächsten Ecke summt und brummt!), weiß ich in der That nicht, wo ich den Kampf zuerst beginnen soll. Denn, ungleich der Spinne, besitze ich leider kein Loch, in welchem ich mich verbergen und das Gewebe sich selbst überlassen könnte. Doch will ich dem Beispiel der Spinne wenigstens so weit folgen, als ich vermag, und, während die Uebrigen ungeduldig und unbeachtet summen und sich wehren, mich in das innere Labyrinth meines eigenen Lebens zurückziehen.

Die Krankheit meines Onkels und meine wieder angeknüpfte Bekanntschaft mit Vivian hatten meine Gedanken natürlicher Weise von der raschen, thörichten Liebe abgezogen, die ich zu Fanny Trevanion gefaßt. Die Abwesenheit der Familie von London währte etwas länger, als erwartet gewesen, und während dieser Zeit hatte ich Muße, mir die rührende Erzählung meines Vaters, sowie die Lehre, welche so deutlich aus derselben sprach, in das Gedächtniß zurückzurufen. Ich faßte denn auch so viele gute Vorsätze, daß ich mit fester Hand Miß Trevanion bei ihrer endlich erfolgten Rückkehr nach London begrüßte und mit starkem Herzen den verhängnißvollen Zauber ihrer Gesellschaft so viel, als möglich, vermied. Die langsam voranschreitende Erholung meines Onkels galt mir als genügender Entschuldigungsgrund, unsere gemeinschaftlichen Spazierritte aufzugeben, denn es war natürlich, daß ich die Zeit, in welcher Trevanion mich entbehren konnte, bei meiner Familie zubrachte. Ich ging weder auf Bälle, noch in Gesellschaften und hielt mich sogar von den Diners ferne, die Trevanion von Zeit zu Zeit gab. Fanny spottete anfangs in ihrer gewohnten lebhaften Bosheit über meine zurückgezogene Lebensweise; ich setzte jedoch heldenmüthig mein Märtyrerthum fort und trug Sorge, daß kein Blick des Vorwurfs über die Fröhlichkeit, mit welcher sie meine Seele quälte, mein Geheimniß verrathe. Nun schien Fanny das eine Mal gekränkt, das andere Mal strafte sie mich mit verächtlicher Gleichgültigkeit und vermied es ganz und gar, ihres Vaters Studirzimmer zu betreten. Plötzlich aber änderte sie ihre Taktik und ward von einer auffallenden Wißbegierde ergriffen, welche sie wohl zehnmal des Tages in unser Zimmer führte, um nach einem Buch zu sehen oder eine Frage zu stellen. Ich blieb standhaft nach wie vor. Aber, um die Wahrheit zu gestehen, ich fühlte mich tief unglücklich, und, wenn ich jetzt zurückblicke, erschrecke ich selbst bei der Erinnerung, wie sehr ich gelitten. Meine Gesundheit begann ernstlich zu wanken; ich fürchtete ebenso die Prüfungen des Tages, wie die Qualen der Nacht. Meine einzigen Zerstreuungen waren die Besuche bei Vivian und die Flucht nach dem lieben Kreise daheim. Dort fand ich Schutz und Schirm, Heil und Rettung in dieser Krisis meines Lebens. Die Atmosphäre anspruchsloser Ehrenhaftigkeit und heiterer Tugend, welche daselbst wehte, kräftigte alle meine Entschlüsse; sie stählte mich zum Kampfe gegen die stärkste Leidenschaft, welche die Jugend kennt, und wirkte den schlechten Dünsten jener Luft entgegen, in welcher Vivian's vergifteter Geist athmete und sich bewegte. Wenn es mir auch gelungen wäre, in meiner Handlungsweise die Pflicht nicht zu verletzen, welche mir das Vertrauen Derjenigen auferlegte, in deren Hause ich mich als Gast befand, so glaube ich doch nicht, daß ich ohne den Einfluß einer solchen Heimath der Ansteckung jener böswilligen und krankhaften Bitterkeit gegen Welt und Schicksal zu widerstehen vermocht hätte, welcher Vivian so beredte Worte zu leihen verstand, und deren Beute hoffnungslose oder durchkreuzte Liebe so oft schon geworden ist. So aber verließ ich niemals das kleine Gemach, welches so vieles in seinem Schooße barg – den tiefen Kummer in dem Antlitz des alten Kriegers, von dessen Lippen, oft zitternd vor Schmerz, doch nie Jemand eine Klage hörte; die ruhige Weisheit, welche auf die frühen Prüfungen meines Vaters (Prüfungen gleich den meinigen) gefolgt war; das liebevolle Lächeln auf meiner Mutter sanften Zügen; die unschuldige Kindheit der kleinen Blanche, unter welchem Namen die Elfe längst heimisch bei uns geworden, und die ich bereits als Schwester liebte – ohne zu fühlen, daß diese vier Mauern genug in sich schlossen, um mir die Welt zu versüßen, und wäre sie auch bis zum Rande mit Ysop Auch Eisen- oder Essigkraut; Gewürz- und Heilpflanze. und Galle gefüllt gewesen.

Vivian's Leistung hatte Trevanion mehr, als befriedigt – sie hatte ihn in Erstaunen gesetzt. Denn, obgleich der Verbesserungen nur sehr wenige waren, so beschränkten sich dieselben nicht auf die bloße Correctur der Ausdrucksweise, sondern deuteten Worte an, durch welche die Gedanken veredelt wurden; und außer jener bemerkenswerthen Berichtigung eines Rechnungsfehlers, welche Trevanion ganz geschaffen war, zu hoch anzuschlagen, hatte Vivian eine oder zwei kurze Randbemerkungen gewagt, worin er hier ein stärkeres Glied in einer Kette von Folgerungen vorschlug, dort die Nothwendigkeit eines weiteren Beweises für eine Behauptung darlegte. Und all' dieses bloß aus der natürlichen und nackten Logik eines scharfen Geistes, ohne Beihülfe auch nur der geringsten Kenntniß des behandelten Gegenstandes! Trevanion ließ es nun Vivian nicht mehr an Arbeit fehlen und belohnte dieselbe so freigebig, daß sich mein Versprechen einer unabhängigen Stellung in der That erfüllte. Mehr, als einmal forderte er mich auf, meinen Freund bei ihm einzuführen; ich wich jedoch beharrlich aus – der Himmel weiß, nicht aus Eifersucht, sondern einfach weil ich fürchtete, Vivian's Wesen und seine Art, zu sprechen, möchten Trevanion's Mißfallen in hohem Grade erregen, da dieser jede Anmaßung haßte und keine Sonderbarkeiten – seine eigenen ausgenommen – begriff.

Uebrigens war Vivian, dessen Fleiß eine kräftige Schwinge, doch nur für kurze Flüge besaß, nicht mehr, als einige Stunden des Tages beschäftigt, und ich fürchtete, er möchte, wenn auch nur, um den Rest desselben auszufüllen, zu seinen alten Gewohnheiten und Freundschaften zurückkehren, deren Unehrenhaftigkeit seine cynische Offenheit nicht in Abrede stellte, so daß ernste Besorgnisse gerechtfertigt erschienen; ich bemühte mich daher, seine Langeweile, wenigstens so weit es meine Zeit gestattete, dadurch zu vermindern, daß ich ihn des Abends auf seinen Gängen durch die gasbeleuchteten Straßen begleitete oder eines der Theater auf eine Stunde mit ihm besuchte.

Vivian's erste Sorge, nachdem er in den Besitz einiger Mittel gelangt, war auf seine Person gerichtet, und mit Hülfe jener Beobachtungs- und Nachahmungsgabe, welche so schnell fassende Geister stets in hohem Grade besitzen, hatte er seinem Anzug in kurzer Zeit die anmuthige Zierlichkeit zu geben gewußt, welche dem englischen Gentleman eigen ist. Zu Anfang seiner Umwandlung machten sich allerdings noch Spuren einer ursprünglichen Prunksucht oder gemeiner Verbindungen bemerkbar; sie verschwanden jedoch eine nach der andern. Zuerst wurde eine bunte Halsbinde mit heruntergeschlagenem Hemdkragen beseitigt; alsdann erhielten ein Paar Sporen ihren Abschied, und endlich mußte ein diabolisches Instrument, das er ein Rohr nannte, welches aber vermittelst einer durchrollenden Kugel an dem einen Ende als Knüttel dienen konnte, und dessen anderes Ende einen Dolch verbarg Siehe auch Anm. 94., dem gewöhnlichen, unserer friedlichen Hauptstadt angemessenen Spazierstock weichen. Eine ähnliche Veränderung, obgleich in geringerem Grade, machte sich allmählig in seinem Benehmen und in seiner Unterhaltung geltend. Die Schroffheit des ersteren milderte sich, während die letztere an Ruhe, vielleicht auch an Heiterkeit gewann. Er war augenscheinlich nicht unempfindlich gegen ein Gefühl höherer Befriedigung darüber, daß er durch lobenswerthe Anstrengung für seinen Unterhalt sorgte und seinen Verstand zum ersten Mal in achtbarer Weise sich dienstbar machte. Eine neue Welt, noch trübe zwar durch Dunst und Nebel gesehen, begann vor ihm aufzudämmern.

So groß ist die Eitelkeit in uns armen Sterblichen, daß mein Interesse für Vivian wahrscheinlich nicht unbedeutend erhöht und meine Abneigung gegen vieles, das mir an ihm mißfiel, durch die Wahrnehmung wesentlich gemildert wurde, wie ich nach und nach einen gewissen Einfluß auf seine wilde Natur gewonnen hatte. Als wir uns zuerst in dem Wirthshaus an der Straße trafen und uns nachher auf dem Kirchhof wiedersahen, war das Uebergewicht, sicherlich nicht auf meiner Seite gewesen. Jetzt aber kam ich aus einem ausgedehnteren Gesellschaftskreis, als derjenige war, in welchem er sich jemals bewegt hatte. Die Gelegenheit war mir geworden, die ersten Männer Englands zu sehen und zu hören. Was mich damals geblendet hatte, erregte jetzt mein Mitleiden. Auf der andern Seite mußte sein lebhafter Geist nothwendig die Veränderung, welche in mir vorgegangen war, bemerken, und, sei es aus Neid oder aus einem andern, edleren Beweggrund, er zeigte sich bereitwillig geneigt, von mir zu lernen, wie er mich verdunkeln und seine frühere Ueberlegenheit wieder gewinnen könne – den Gedanken, Andern nachzustehen, konnte er nicht ertragen. So hörte er mir denn aufmerksam zu, wenn ich ihm die Bücher bezeichnete, welche sich auf die verschiedenen Gegenstände bezogen, deren Bearbeitung ihm übergeben war. Obgleich die Wissenschaft seinem reichbegabten Geiste ziemlich ferne lag, und er in Anbetracht der Gedankenfülle, die er sich erworben, und des Prunkens mit den wenigen Werken, mit welchen er sich freiwillig vertraut gemacht, wenig gelesen hatte, begann er nun, ernstlich und eifrig zu studiren; er that es augenscheinlich gegen Willen und Neigung, um so mehr versprach ich mir jedoch von diesen Zeichen einer Entschlossenheit, um eines künftigen Zweckes willen eine augenblickliche Widerwärtigkeit nicht zu scheuen. Ob ich aber jenen Zweck gebilligt hätte, wäre er mir völlig klar gewesen, das ist eine andere Frage! Sowohl in der Vergangenheit, als in dem Charakter dieses jungen Mannes gab es Abgründe, welche ich nicht zu erforschen vermochte. Mit einer sorglosen Offenheit verband er eine strenge Zurückhaltung. Die erstere trat in seinen Gesprächen über alle unmittelbar vor uns liegenden Gegenstände zu Tage, sowie in der vollständigen Vermeidung jeden Versuchs, besser scheinen zu wollen, als er war, während sich die letztere in der schlauen Umgehung jeder Art von Vertraulichkeit zeigte, welche mich in Geheimnisse seines Lebens hätte einweihen können, die er zu verbergen wünschte. Wo er geboren und erzogen worden – weßhalb er so ganz nur auf sich selbst angewiesen war – auf welche Weise er sich die Mittel zu seinem Lebensunterhalt erworben – dies waren lauter Dinge, in Bezug auf welche er Harpocrates, dem Gott des Schweigens, einen Eid geleistet zu haben schien. Und doch ward er niemals müde, Anekdoten von Begebenheiten, bei denen er zugegen gewesen, oder von seltsamen Gefährten, welche er niemals nannte, in deren Gesellschaft ihn jedoch sein unstätes Leben geführt, zu erzählen. Uebrigens muß ich ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er nie eine von ihm begangene wirkliche Unehrenhaftigkeit verrieth, obschon er seine frühreife Erfahrung aus den Löchern und Winkeln, aus den Abzugskanälen und Cloaken des Lebens gesammelt zu haben und gegen die Unehrenhaftigkeit an sich durchaus keinen Widerwillen zu empfinden schien, vielmehr Tugend und Laster mit der ruhigen Gleichgültigkeit eines großen Dichters betrachtete, der in ihnen nur die Diener seiner Kunst erblickt. Er konnte über die Erzählung irgend eines scharfsinnigen Betruges lachen, ohne, scheinbar wenigstens, dessen Schändlichkeit zu fühlen; allein er sprach davon in dem Tone eines gleichgültigen Zeugen, nicht eines wirklichen Mitschuldigen. Als wir vertrauter wurden, begann jedoch das instinctartige Schamgefühl in ihm zu erwachen, welches der Umgang mit Solchen, die an die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht gewöhnt sind, unwillkürlich hervorzurufen pflegt – und solche Geschichten hörten auf. Nur einmal erwähnte er seiner Familie, und zwar in folgender seltsamen und abgebrochenen Weise:

»Ah!« rief er eines Tages, vor einem Bücherladen stehen bleibend, »wie erinnert mich dieses Bild an meine liebe, theure Mutter!«

»Welches?« frug ich schnell, ungewiß, ob er eine Raphael'sche »Madonna« oder »das Weib des Räubers« meine.

Vivian befriedigte meine Neugierde nicht, sondern zog mich trotz meines Widerstrebens weiter.

»Ihr liebtet also Eure Mutter?« begann ich nach einer Pause wieder.

»Ja, wie ein junger Tiger die Tigerin.«

»Das ist eine sonderbare Vergleichung.«

»Oder wie ein Bullenbeißer den Preisfechter, seinen Herrn! Ist Euch dies lieber?«

»Nicht viel. Würde diese Vergleichung Eurer Mutter gefallen?«

»Meiner Mutter! – sie ist todt!« erwiederte er mit einigem Zögern.

Ich preßte seinen Arm, der in dem meinigen lag, fester an mich.

»Ich verstehe Euch,« sagte er mit seinem cynischen, zurückstoßenden Lächeln. »Allein Ihr habt Unrecht, für mich zu fühlen. Ich fühle den Verlust; aber Niemand, der Theil an mir nimmt, sollte mit mir trauern.«

»Weßhalb?«

»Weil meine Mutter nicht war, was die Welt eine gute Frau nennen würde. Ich liebte sie darum nicht weniger – und nun laßt uns von etwas Anderem sprechen.«

»Nicht doch; nun Ihr einmal so viel gesagt, Vivian, laßt Euch erbitten, noch mehr zu sagen. Lebt Euer Vater noch?«

»Steht das Monument noch?«

»Vermuthlich – doch, was soll dies?«

»Nun, es ist für uns beide ziemlich gleichgültig, und meine Frage beantwortet die Eurige.«

Mehr erfuhr ich nicht, weder bei dieser, noch bei irgend einer andern Gelegenheit. Allerdings muß ich aber auch gestehen, daß, wenn Vivian nicht freigebig mit seinem Vertrauen war, er ebenso wenig das meinige suchte. Er hörte mir mit Interesse zu, wenn ich von Trevanion sprach (denn ich hatte keinen Grund, meine Verbindung mit demselben vor ihm geheim zu halten, obwohl ich begreiflicher Weise Fanny nicht erwähnte) oder von der glänzenden Welt erzählte, welche mir der Aufenthalt in seinem Hause erschloß. Wenn ich aber jemals in der Fülle meines Herzens von meinen Eltern, von meiner Heimath zu sprechen begann, so gab sich in seinen Antworten entweder eine so deutliche Langeweile oder ein so frostiger Spott kund, daß ich in der Regel nicht nur den Gegenstand, sondern Vivian selbst in unwilliger Entrüstung verließ. Einmal besonders erinnere ich mich, daß ich ihn bat, er möchte mir gestatten, ihn meinem Vater vorzustellen, was mir deßhalb so sehr am Herzen lag, weil ich die Ueberzeugung hegte, der Teufel in ihm müßte durch diese Berührung gebannt werden – er aber erwiederte mit seinem leisen, verächtlichen Lachen –

»Mein lieber Caxton, als Kind wurde ich so sehr mit dem ›Telemach‹ Telemachos ist der Sohn des Odysseus (Ulysses). Die Nennung dieses Namens bezieht sich allerdings mehr auf den berühmten Entwicklungsroman Les aventures de Télémaque (1695), den Erzbischof François Fénelon, der von Ludwig XIV. zum Erzieher seines 7-jährigen Enkels und eventuellen Thronfolgers, des Duc de Bourgogne, berufen worden war, als unterhaltendes Erziehungsmittel für seinen Zögling verfasst hatte und diesen damit zugleich Politik nach moralischen Maßstäben lehren wollte, was Fénelon dem Verdacht der Kritik am Regierungsstil des französischen Königs aussetzte und ihn so seinen Erzieherposten kostete. Der Télémaque jedoch, der bereits zur beginnenden Aufklärung zählt, stieg im 18. und 19. Jh. zum beliebten Jugendbuch auf. gequält, daß ich ihn zuletzt, um es aushalten zu können, travestirte Die literarische Travestie zieht satirisch-parodierend bekannte Stoffe der Dichtung ins Lächerliche.

»Nun?«

»Fürchtet Ihr nicht, dieselbe Bosheit könnte aus Eurem Ulysses eine Carricatur machen?«

Nah dieser Aeußerung sah ich Mr. Vivian während drei Tagen nicht mehr und würde ihn noch länger nicht gesehen haben, wenn wir nicht zufällig in der Säulenhalle des Opernhauses zusammengetroffen wären. Vivian lehnte sich an eine der Säulen und beobachtete die lange Prozession, welche nach dem einzigen Tempel der Kunst wallfahrtete, den die Mode im englischen Babel begünstigte. Equipagen, mit Wappen und Kronen geschmückt, Cabriolets (der Brougham Einspännige, vierrädrige, geschlossene Kutschenbauform für zwei Passagiere. (Das Kabriolett besaß nur zwei Räder.) war noch nicht an deren Stelle getreten) von dunkler Farbe, aber tadelloser Ausstattung mit riesigen Pferden und zwerghaften »Tigern« rollten in ununterbrochener Reihe an ihm vorbei. Schöne Frauen in noch schönerem Putze – Sterne und Bänder – den Rang und die Schönheit der patrizischen Kreise – sah er in bunter Reihe an sich vorüberziehen. Ich konnte dem Mitleid nicht widerstehen, mit welchem mich dieser einsame, freundlose, ungestüme und unzufriedene Geist erfüllte, wie er mit der Glut des Verlangens und der Verzweiflung des Ausgeschlossenseins auf diese schimmernde Welt hinschaute, in welcher zu glänzen er sich berufen wähnte. Ein einziger Blick auf dieses dunkle Antlitz verrieth mir, was in dem noch dunkleren Herzen vorging. Die Empfindungen waren vielleicht nicht edel, die Gedanken nicht weise, allein – waren sie unnatürlich? Auch ich hatte Aehnliches erfahren – nicht beim Anblick geputzter Menschen, welche in Reichthum und Müßiggang dem Vergnügen und der Mode huldigten, sondern wenn ich an den Thüren des Parlaments stand, und Männer, die sich Namen von gutem Klang errungen, und deren Worte das Schicksal des glorreichen Englands beeinflußten, achtlos an mir vorüber nach ihrem großen Kampfplatze eilten; oder wenn in dem Feiertagsgedränge einer niedrigen Prunksucht der Ruhm eines wirklichen Meisters in Kunst oder Wissenschaft an mein Ohr schlug. Ja, ich hatte ihn empfunden, den Gegensatz zwischen jenem Ruhme – so nah und doch so fern – und unserer eigenen Nichtigkeit. Ah, wie mancher Jüngling, nicht bestimmt, ein Themistokles Athenischer Staatsmann und Feldherr (um 525-459 v.u.Z.) während der Bedrohung Griechenlands durch die Perser (Perserkriege); Sieger der Seeschlacht von Salamis (480), Wegbereiter der attischen Demokratie. zu werden, wird noch erfahren müssen, daß ihn die Trophäen eines Miltiades Athenischer Feldherr und Politiker (um 550-489 v.u.Z.), Sieger in der Schlacht bei Marathon (490). nicht schlafen lassen!

Ich trat zu Vivian und legte meine Hand auf seine Schulter.

»Ah!« sagte er in milderem Tone, als gewöhnlich, »ich freue mich, Euch zu sehen – und Euch um Entschuldigung bitten zu können – ich habe Euch neulich beleidigt. Ihr würdet jedoch keine sehr freundlichen Antworten zu erwarten haben, wolltet Ihr den Seelen im Fegfeuer von der Glückseligkeit des Himmels erzählen. Sprecht mir nie mehr von Heimath und Vater! Genug – ich sehe, Ihr verzeiht mir. Warum geht Ihr nicht in die Oper? Ihr könnt es ja!«

»Und Ihr auch, wenn Ihr Lust dazu habt. Ein Billet ist allerdings schmählich theuer; allein, wenn Ihr ein Freund der Musik seid, so könnt Ihr Euch diesen Luxus wohl erlauben.«

»O, Ihr schmeichelt mir, wenn Ihr glaubt, ein weises Sparsystem halte mich ab. Neulich war ich dort, werde aber nicht wieder hingehen. Musik! – wenn Ihr die Oper besucht, geschieht es um der Musik willen?«

»Nur theilweise, muß ich gestehen, die Lichter, die Handlung, der Anblick all' des Glanzes zieht mich eben so sehr an. Uebrigens glaube ich, daß die Oper für keinen von uns beiden ein sehr ersprießliches Vergnügen ist. Für reiche Leute, die nichts zu thun haben, mag sie ein ebenso unschuldiger Zeitvertreib sein, als irgend ein anderer; ich aber finde, daß sie die Nerven kläglich abspannt.«

»Und ich finde, daß sie im Gegentheil dieselben schrecklich aufreizt! Caxton, wißt Ihr, so undankbar es auch klingen mag, daß ich anfange, dieser ›ehrenhaften Unabhängigkeit‹ überdrüssig zu werden? Wozu soll sie führen? – zu Kost, Kleidung und Wohnung; kann sie mir aber jemals mehr einbringen?«

»Anfangs, Vivian, waren Glacéhandschuhe und ein Cabriolet das Ziel Eurer Wünsche; die Glacéhandschuhe habt Ihr bereits erreicht, und mit der Zeit wird auch das Cabriolet nicht fehlen!«

»Unsere Begierden wachsen, je mehr sie Nahrung finden. Ihr lebt in der großen Welt – Ihr könnt Aufregung haben, wenn Ihr wollt; ich sehne mich nach Aufregung – ich sehne mich nach der Welt – ich brauche Raum für meinen Geist. Versteht Ihr mich?«

»Vollständig! Ich verstehe Euch und fühle mit Euch, mein armer Vivian! Doch, es wird alles kommen. Geduld! Geduld! wie ich Euch schon damals gepredigt, als der Morgen so unerquicklich in den Straßen von London dämmerte. Eure Zeit ist nicht verloren – bereichert Euren Geist, lest, studirt, rüstet Euch aus für den Ehrgeiz. Warum wollt Ihr fliegen, noch ehe Euch die Schwingen gewachsen sind? Lebt für jetzt in den Büchern; im Grunde sind sie herrliche Paläste und offen für Alle, den Armen, wie den Reichen.«

»Bücher, Bücher! – Ja, ja. Ihr seid der Sohn eines Büchermannes! Durch Bücher können aber die Menschen in der Welt nicht vorwärts kommen und dabei das Leben genießen.«

»Das weiß ich nicht; Ihr aber, mein guter. Freund, – wollt beides thun – in der Welt so schnell vorwärts kommen, als es nur der angestrengtesten Thätigkeit gelingt, und das Leben so lustig genießen, wie es nur die Unthätigkeit vermag. Ihr wünscht, das Leben des Schmetterlings zu führen, zugleich aber allen Honig der Biene zu haben; und, nicht genug damit, verlangt Ihr als Schmetterling, daß jede Blume in einem Augenblick aufblühe, und als Biene, daß der ganze Stock in einer Viertelstunde mit Vorräthen gefüllt sei! Geduld – Geduld – Geduld!«

Vivian stieß einen unmuthigen Seufzer aus.

»Ich vermuthe,« sagte er nach einer unruhigen Pause, »der Landstreicher und der Geächtete sind stark in mir, denn ich sehne mich, zu meiner alten Lebensweise zurückzukehren – dort war alles Handlung und somit keine Zeit zu Gedanken.«

Während er so sprach, hatten wir die Säulenhalle durchschritten und jenen engen Gang erreicht, in welchem sich der nicht für die große Menge bestimmte Eingang in das Opernhaus befindet. Dicht an den Thüren dieses Einganges standen zwei oder drei junge Männer. Als Vivian schwieg, drang die Stimme eines derselben lachend zu unsern Ohren.

»O,« sagte er, augenscheinlich als Antwort auf eine Frage, »ich werde einen viel schnelleren Weg zum Glück einschlagen, als diesen; ich gedenke eine Erbin zu heirathen!«

Vivian fuhr schnell auf und blickte nach dem Sprecher, einem jungen Manne von sehr angenehmem Aeußern, hin. Er betrachtete ihn aufmerksam vom Kopf bis zu den Füßen und wandte sich hierauf mit einem befriedigten, gedankenvollen Lächeln ab.

»O ja,« sagte ich ernsthaft und seinem Lächeln Worte gebend; »Ihr habt ganz Recht. Ihr seid sogar noch hübscher, als dieser Glücksjäger.«

Vivian erröthete; ehe er jedoch antworten konnte, sagte ein anderer der jungen Leute, als das heitere Lachen über die Geckenhaftigkeit ihres Gefährten verklungen war –

»Nun, wenn es um eine Erbin zu thun ist – hier kömmt eine der reichsten in England. Aber, statt ein jüngerer Sohn zu sein mit drei gesunden Leben zwischen sich und der Würde eines Pairs, sollte man wenigstens den Grafentitel besitzen, um nach Fanny Trevanion's Hand zu trachten!«

Der Name durchzuckte mich – ich fühlte, wie ich zitterte und, als ich aufblickte, sah ich Lady Ellinor und Miß Trevanion ihre Equipage verlassen und nach dem Eingang zueilen. Beide erkannten mich, und Fanny rief:

»Sie hier! Wie glücklich! Sie müssen uns in die Loge begleiten, selbst, wenn Sie im nächsten Augenblick schon wieder durchgehen.«

»Aber ich bin nicht für die Oper gekleidet,« erwiederte ich verlegen.

»Und warum nicht?« frug Miß Trevanion und setzte mit leiserer Stimme hinzu: »Warum bleiben Sie uns so absichtlich ferne?«

Sie legte ihre Hand auf meinen Arm, und so ward ich unwiderstehlich in die Vorhalle gezogen. Die jungen Herrn an der Thüre traten zurück, um uns einzulassen, und betrachteten mich ohne Zweifel mit neidischen Blicken.

»Sie vergessen,« entgegnete ich mit einem erzwungenen Lachen, als ich sah, daß Miß Trevanion auf eine Antwort wartete, »wie wenig Zeit mir gegenwärtig zu solchen Vergnügungen bleibt – und mein Onkel –«

»O, Mama und ich haben Ihren Onkel heute besucht, und er ist beinahe ganz wieder hergestellt – nicht wahr, Mama? Ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr ich ihn bewundere und für ihn eingenommen bin. Gerade so denke ich mir einen Douglas aus alten Zeiten. Doch, Mama wird ungeduldig werden. Nun, Sie müssen morgen zu Tisch zu uns kommen – versprechen Sie es mir! Also, auf Wiedersehen!«

Im nächsten Augenblick war Fanny wieder an Lady Ellinor's Seite, welche, stets gütig und gefällig gegen mich, das Ende unseres Gesprächs freundlich abgewartet hatte.

Als ich in die Passage zurückkehrte, sah ich Vivian auf- und abgehen; er hatte seine Cigarre angezündet und rauchte energisch.

»Diese reiche Erbin,« sagte er lächelnd, »welche, so viel ich unter ihrer Kaputze sehen konnte, nicht weniger schön, als reich zu sein scheint, ist vermuthlich die Tochter jenes Mr. Trevanion, dessen Ergießungen Ihr mir so freundlich zukommen laßt. Er ist also wohl sehr reich? Ihr sagtet mir nie etwas davon, obschon ich es mir hätte denken können; allein Ihr seht, ich weiß gar nichts von Eurer vornehmen Welt – bis heute Abend wußte ich nicht einmal, daß Miß Trevanion eine der reichsten Erbinnen Englands ist.«

»Ja, Mr. Trevanion ist reich,« entgegnete ich, einen Seufzer unterdrückend – »sehr reich.«

»Und Ihr seid sein Secretär! Mein lieber Freund, Ihr mögt mir wohl Geduld predigen, denn ein großer Vorrath der Eurigen wird Euch hoffentlich überflüssig werden.«

»Ich verstehe Euch nicht.«

»Doch habt Ihr so gut, wie ich, den jungen Gentleman gehört und wohnt in demselben Hause mit der Erbin.«

»Vivian!«

»Nun, was habe ich so Ungeheuerliches gesagt?«

»Pah! Da Ihr Euch auf den jungen Gentleman beruft, so habt Ihr ohne Zweifel auch gehört, was ihm sein Gefährte erwiederte – ›man müsse wenigstens den Grafentitel besitzen, um nach Fanny Trevanion's Hand zu trachten‹!«

»Nein, Nein! Ebensogut sagt mir, man müsse ein Millionär sein, um nach einer Million zu streben! Gleichwohl glaube ich, daß Diejenigen, welche es zu Millionen bringen, in der Regel mit Pencen beginnen.«

»Dieser Glaube sollte ein Trost und eine Ermuthigung sein für Euch, Vivian, und nun, gute Nacht, ich habe viel zu thun.«

»Gute Nacht denn!« erwiederte Vivian, und so trennten wir uns.

Ich begab mich nach Mr. Trevanion's Haus und auf dessen Studirzimmer, woselbst ein bedeutender Rückstand von Geschäften meiner harrte. Entschlossen setzte ich mich zur Arbeit nieder; nach und nach jedoch begannen meine Gedanken; von den ewigen Blaubüchern hinweg in andern Regionen zu wandern, und die Feder entschlüpfte meiner Hand inmitten eines Auszugs ans einem Bericht über Sierra Leone. Mein Puls schlug laut und rasch; ich befand mich in einem Zustande fieberhafter Aufregung wie ihn nur eine heftige Gemüthsbewegung hervorrufen kann. Fanny's süße Stimme klang fortwährend in meinen Ohren; überall, wohin ich mich auch wenden mochte, begegnete ich dem ungewöhnlich sanften, beinahe bittenden Blick ihrer Augen, wie sie zuletzt auf mir geruht; und dann, als wie zum Hohne, vernahm ich wieder jene Worte – »man müßte wenigstens den Grafentitel besitzen, um –« O, trachtete ich denn nach ihrer Hand? War ich ein so eitler, wahnsinniger Thor? ein so vollendeter Verräther an dem Hause, dessen Thore sich mir gastlich geöffnet hatten? Nein, nein! Dann aber – was that ich unter demselben Dache? Warum blieb ich, um dieses süße Gift einzuathmen, das meine Lebenskraft verzehrt? Bei dieser Frage, die ich längst an mich gerichtet haben würde, wäre ich ein oder zwei Jahre älter gewesen, ergriff mich tödtlicher Schrecken; alles Blut strömte aus meinem Herzen und ließ mich kalt – kalt, wie Eis. Das Haus verlassen, Fanny verlassen! – jene Augen niemals wiedersehen – nie mehr jene Stimme hören? Nein! lieber an dem süßen Gifte, als in trostloser Verbannung sterben! Ich stand auf, öffnete das Fenster und ging im Zimmer auf und nieder. Entschluß konnte ich keinen fassen – keinen Gedanken festhalten; mein Geist war vollständig in Aufruhr. Mit einer gewaltsamen Anstrengung, Herr über mich zu werden, näherte ich mich dem Tische wieder. Ich beschloß, mich zu meiner Aufgabe zu zwingen, wäre es auch nur, um meine Sinne wieder zu sammeln und sie zu befähigen, meine Qual zu ertragen. Ungeduldig warf ich die Bücher umher, als plötzlich – das schalkhafte, aber vorwurfsvolle Antlitz Fanny's meinem Blicke begegnete! Es war ihr Miniatur-Porträt, welches, wie ich wußte vor einigen Tagen von einem jungen Künstler, den Trevanion begünstigte, aufgenommen worden war. Vermuthlich hatte es Trevanion mit auf sein Studirzimmer genommen, um die Aehnlichkeit zu prüfen, und alsdann unter den Büchern liegen lassen. Der Maler hatte Fanny's eigenthümlichen Ausdruck, ihr unaussprechliches Lächeln – so bezaubernd und doch so boshaft – selbst ihre Lieblingshaltung sehr glücklich aufgefaßt: der kleine Kopf war zur Seite gewendet und sah über die runde, hebe-gleiche Hebe ist in der griechischen Mythologie die Göttin der Jugend. Schulter hinweg – das Auge blickte schalkhaft unter den Locken hervor! Ich weiß nicht, welch neuer Wahnsinn über mich kam; allein ich fiel auf meine Kniee, bedeckte das Bild mit Küssen und brach in Thränen aus. Und was für Thränen! Ich hörte nicht die Thüre aufgehen – sah nicht einen Schatten über den Boden hinschleichen; eine leichte Hand berührte meine Schulter – zitternd blieb sie auf derselben liegen. Ich fuhr zusammen – Fanny selbst beugte sich über mich!

»Was ist Ihnen?« frug sie theilnehmend. »Was hat sich zugetragen? – Ihr Onkel – Ihre Familie – ist doch Alles wohl? Warum weinen Sie?«

Ich konnte nicht sprechen, sondern hielt nur das Bild fest mit meinen Händen umschlossen, damit sie es nicht erblicken sollte.

»Wollen Sie mir nicht antworten? Bin ich nicht Ihre Freundin – beinahe Ihre Schwester? Kommen Sie – soll ich meine Mutter rufen?«

»Ja – ja; gehen Sie – gehen Sie!«

»Nein, noch will ich nicht gehen. Was haben Sie da? was verbergen Sie vor mir?« »

Und unschuldig – schwesterlich – ergriffen ihre Hände die meinigen; und so – und so – wurde das Bild sichtbar! Es folgte eine Todtenstille. Ich sah durch meine Thränen nach Fanny hin, welche mit glühenden Wangen und zu Boden geschlagenen Augen einige Schritte zurückgetreten war. Ein Gefühl, als hätte ich ein Verbrechen begangen und Schande auf mich geladen, bemächtigte sich meiner; und doch unterdrückte ich – ja, dem Himmel sei Dank! ich unterdrückte den Ruf, der sich aus meinem innersten Herzen gewaltsam nach meinen Lippen drängte – »Habe Mitleid mit mir, denn ich liebe Dich!« Ich unterdrückte ihn, und nur ein schwerer Seufzer – die Wehklage um mein verlorenes Glück – entrang sich meiner Brust. Alsdann erhob ich mich, legte das Bild auf den Tisch und sagte, wie ich glaube, mit fester Stimme:

»Miß Trevanion, Sie haben in der That die Güte einer Schwester für mich gehabt, und deßhalb sagte ich Ihrem Bilde ein brüderliches Lebewohl – es ist so sehr ähnlich!«

»Ein Lebewohl!« wiederholte Fanny, noch immer ohne aufzusehen.

»Ein Lebewohl – Schwester! So – nun habe ich kühn das Wort ausgesprochen; denn – denn« – ich eilte nach der Thüre zu, wandte mich noch einmal um und fuhr mit einem Versuch, zu lächeln, fort – »denn zu Hause sagen sie, ich – ich sei nicht wohl; es sei zu viel für mich; Sie wissen, die Mütter sind immer thöricht ängstlich; und – und – morgen werde ich mit Ihrem Vater sprechen; und – gute Nacht – Gott segne Sie, Miß Trevanion!«



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