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XVI. Die Kirche unter dem Druck der Verfolgung

Ein Jahr war seit der Tempeleinweihung vergangen. An einem kalten regnerischen Oktobersonntag saßen in dem Hinterzimmer der Weinhandlung von Gambrinski in der Leipziger Straße in Berlin dieselben Herren wie vor anderthalb Jahren beim Frühschoppen.

»Da hört doch alles auf«, rief der mit dem Bulldoggengesicht, indem er mit der Faust auf den Tisch schlug, daß die Weingläser tanzten, »daß der Weltpräsident den beiden Kerlen in Jerusalem nicht das Lebenslicht ausblasen kann. Da haben sie mit dem Versagen des elektrischen Stromes auf der Erde gedroht und richtig, heute früh steht in meinem »Weltstaathotel« der Lift still, die elektrische Heizung in Zimmern und Küche versagt. Und so überall. Alle elektrischen Bahnen stehen still, alle Fabriken mit elektrischen Maschinen feiern. Und das soll einen Monat dauern! Es kommt ja immer so, wie die Kerle vorausgesagt. Was soll denn daraus werden? Soll sich denn die Menschheit auf die Dauer von diesen zwei Scheusalen tyrannisieren und peinigen lassen? Sie verdienen wirklich den Namen, den das Volk ihnen gibt: ›Der Schrecken der Erde.‹«

»Und dabei geht das Volk in Jerusalem für beide durchs Feuer«, sagte Herr Kahn, »ich habe neuere Nachrichten von dort, daß ihre Heilungserfolge an das Fabelhafte grenzen und die Wirksamkeit von Leuten wie Heidmann ganz in Schatten stellen, weil sie die Menschen nicht nur heilen, sondern auch bessern. Wie ich außerdem hörte, sind die beiden rätselhaften Leute früher begeisterte Anhänger des Weltpräsidenten gewesen und erst dessen Religionspolitik hat sie zu seinen geschworenen Feinden gemacht. Diese sogenannten Schutzgesetze sind die Wurzel alles Übels.«

»Na, Freundchen«, ließ sich nun der Ministerialrat hören, »mit Ihrem Patriotismus scheint es eine windige Sache zu sein. Man kann es Ihnen schließlich nicht verargen, denn Sie haben ja schwer unter dem Kommunismus gelitten. Als Eigentümer Ihres Warenhauses standen Sie doch früher ganz anders da, wie heute als angestellter Direktor.«

»Was wollen Sie«, sagte Kahn ängstlich, »ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen; hier ist übrigens mein Abzeichen!« Er wies auf ein rotes kokardenartiges Abzeichen, das er, wie die anderen auch, im Knopfloch trug.

»So ganz waschechte Rote sind wir wohl alle nicht«, meinte der Bankdirektor lächelnd, indem er seine Stimme dämpfte und sich vorsichtig umsah, »und wir wären es wahrscheinlich noch weniger, wenn nicht die Hochfinanz von dem schlauen Ruben Spaßki unangetastet geblieben wäre. Unserem verehrten Herrn Ministerialrat ist seine ganze phänomenale Anpassungsfähigkeit entschieden zugute gekommen und hat ihm die Eingewöhnung in die kommunistischen Anschauungen sehr erleichtert.«

»Mein Herr, Sie beleidigen mich«, erwiderte der Ministerialrat, »so würde ich sagen, wenn wir nicht alte gute Freunde wären. So aber sage ich: ›Prosit meine Herren auf den kommunistischen Weltstaat. Ein Pereat seinen Feinden.‹« Sie stießen mit ihren Gläsern an. »Die Christen sind die gefährlichsten Feinde. Die Anarchisten mit ihren Bomben sind nicht halb so schlimm. Die Christen unterminieren den Weltstaat von innen heraus. Sie haben einen bedeutenden Kraftzuwachs bekommen, einmal durch die Gloriole des Märtyrertums und sodann durch die unerwartete Hilfe von jüdischer Seite. Der Weltpräsident kann gegen die zwei jüdischen Propheten nicht so vorgehen, wie er möchte, weil er damit zugleich einen Teil seines Volkes bekämpfen müßte, und das wäre eine gefährliche Sache. Nein, am besten ist es, wir rotten alle Christen aus – so schnell als möglich, das ist am humansten –, dann kommt die Menschheit am ehesten wieder zur Ruhe. Doch, meine Herren, wenn wir noch zur Feier des Geburtstages des Weltpräsidenten in den Dom wollen, müssen wir eilen.«

Sie zahlten und verließen unter tiefen Bücklingen des Portiers das Lokal.

Unterwegs äußerte der Bankdirektor Rosenberg: »Als damals die Regierung den Dom der evangelischen Kirche abgenommen und der Protestantischen Religionsgesellschaft ausgeliefert hat, ist es mir wie ein Alp vom Herzen gefallen; kann doch nun diese Hochburg des Muckertums endlich den großen Menschheitszielen dienen!«

Alle Glocken der Stadt läuteten, und man sah viele festlich gekleidete Menschen auf den Straßen. Feierlich tönten die Glocken des Domes über die Schloßbrücke und den Lustgarten. Ein Menschenauflauf hinderte sie kurz vor dem Ziele am Weitergehen. Einige Schritte vor den Treppen des Domes lag ein älterer Mann, offenbar vor Entkräftung zusammengebrochen. Er trug einen abgeschabten, mehrfach geflickten, aber sauberen Anzug. Die edlen Züge des von einem grauen Barte umrahmten Gesichts ließen darauf schließen, daß er einst bessere Tage gesehen. Ein Polizist bemühte sich um den Unglücklichen, der offenbar in den letzten Zügen lag. Man fragte ihn vergeblich nach seinem Namen und seiner Wohnung. Mit schwacher Stimme murmelte er die Namen »Arno, Elsbeth«. Nach einer Pause rief er: »Edith, ich komme«, dann war er verschieden.

Der Ministerialrat betrachtete den Toten näher und sagte: »Er trägt kein Abzeichen. Er ist auch einer von den verfluchten Christen. Schafft ihn ins Leichenschauhaus.« Dann gab er der Leiche einen Fußtritt und schritt mit den anderen die Domtreppe hinauf.

Im Dom hatte sich eine große Menschenmenge versammelt. Unter den Klängen der Orgel schritt in feierlichem Zuge die Domgeistlichkeit durch den Hauptgang zum Altar, und die Menge stimmte, von der Orgel begleitet, die Internationale an. Auf dem Altar stand ein Standbild des Weltpräsidenten in Erz. Nach Beendigung des Gesanges sprach einer der Geistlichen einen Hymnus auf die Menschheit, ausklingend in einen Preis des Präsidenten des Weltbundes. Dann begann das Standbild zu reden. In dem Kopfe war ein Phonograph angebracht, der eine Rede des Präsidenten, die er bei einem Besuche in Berlin gehalten, wiederholte. Es war einer jener neu erfundenen vorzüglichen kleinen Apparate, die die Stimme eines Menschen völlig naturgetreu wiedergaben. Offb. 13, 14. 15. Nach abermaligem Gesang bestieg ein anderer Geistlicher die Kanzel. Er feierte den Friedensbund der Völker, durch den nun endlich die früher unterdrückten Volksschichten zur Macht und Herrschaft gekommen seien. Der Geist der Menschheit, verkörpert in ihrem erhabenen Haupte, dessen Botschaft sie soeben vernommen, habe das allein geschaffen. Der Traum von einer Gottheit sei ausgeträumt, in eigener Kraft schreite die Menschheit zu lichten Höhen empor. Jetzt habe niemand mehr zu klagen, und wenn es Nörgler gäbe, die auch jetzt noch nicht zufrieden seien, so seien das die Feinde der Menschheit, die sich ihr Los selbst zuzuschreiben hätten. Diese vaterlandslosen Schwärmer, die ein Reich vom Himmel erwarteten, gelte es zu vernichten. Darin zeige sich die rechte Liebe zum Vaterlande und zum Weltstaate, daß ein jeder mithelfe zur Durchführung der Schutzgesetze. Diese Selbstverteidigung der Menschheit sei die erste Gewissenspflicht. Die Menschheit müsse jedem Einzelnen höher stehen als Vater, Mutter, Ehegatte, Kinder und Geschwister. Nur durch rücksichtslose Anzeige der Verdächtigen, auch wenn es die nächsten Angehörigen seien, werde der gefährliche innere Feind besiegt. Mark. 13, 12. In diese Arbeit miteinzutreten, sei das schönste Geburtstagsgeschenk, das ein jeder dem großen Befreier der Menschheit, dem Weltpräsidenten, darbringen könne. Zum Schluß wurde geraten, daß jeder ein Abzeichen des Weltstaates tragen möge, damit es leichter sei, die Verdächtigen auch äußerlich zu erkennen. Offb. 13, 15. 16.

Mit einem Haßgesang gegen die Kirchen schloß die Festlichkeit.

Herr Kahn, der frühere Besitzer und nunmehrige Direktor des Warenhauses in der Chausseestraße, stieg auf dem Bahnhof Börse in die Stadtbahn und fuhr nach Station Nikolassee. Im Walde versteckt lag in einer einsamen Straße seine Villa. Die Blumen der Gartenbeete und Fensterkästen zeugten von sorgfältiger Pflege. Er schien erwartet worden zu sein, denn kaum hatte er die Gartentür geöffnet, als ein schwarzhaariges junges Mädchen auf ihn zulief. »Väterchen, liebes Väterchen, das ist aber schön, daß du da bist«, rief sie und barg ihr rundes Köpfchen an seiner Brust. »Es ist gar nicht schön, wenn ich allein bin, ohne meinen guten Vater!«

»Meine Rebekka, mein Sonnenstrahl!« sagte Herr Kahn, indem er sie auf die Lippen küßte. »Sind sie gekommen?«

»Ja, Papa, in der Nacht kam einer nach dem anderen, durch die Hinterpforte. Ich habe gewartet und ihnen geöffnet. Aber ich habe immer weinen müssen. Die armen Leute! In Lumpen, halb verhungert und voll Ungeziefer! Es müssen doch furchtbar schlechte Menschen sein in der Regierung, die die armen Leute so hinausstoßen.«

»Pst, Pst! Kind, um Gottes willen, wenn jemand das hört! Hast du auch dein Abzeichen angesteckt? Na ja, vergiß das nur nie! Doch, was ich noch fragen wollte: Sind die Sachen angekommen und hast du sie bezahlt?«

»Ja, ein großer Rollwagen kam und die Leute haben alles in den Keller geschafft; bezahlt habe ich auch alles.«

»Wir werden uns freilich nun eine Zeitlang recht einschränken müssen, Kind.«

»Aber das macht doch gar nichts, wenn wir nur den armen Leuten helfen können. Ich habe ihnen vorläufig etwas zu essen gegeben. Sie freuen sich alle auf dein Kommen.«

»Hast du sie auch so untergebracht, daß niemand, der in unser Haus kommt, etwas von ihnen bemerkt?«

»Ja, sie sind auf dem Boden; da ist Stroh, Holzwolle und alte Matratzen. Darauf lagern sie vorläufig; sie waren ja so abgehetzt.«

»Gut, Kind! Und weiß Anna davon?«

»Ja, aber sie hat auch ein so inniges Mitleid mit den armen Leuten und wird niemandem etwas davon sagen.«

Rebekka führte nach dem Tode ihrer Mutter dem Vater die Wirtschaft. Was Vater und Tochter einander an den Augen absehen konnten, das taten sie.

Mit Hilfe Annas, des Dienstmädchens, trugen nun Vater und Tochter eine große Menge Lebensmittel und Kleidungsstücke hinauf auf den Boden. Dann gingen sie hinein zu den Armen.

Ein noch junger Mann erhob sich, ging auf Herrn Kahn zu, reichte ihm die Hand und sagte: »Hier führe ich Ihnen die Leute zu und danke Ihnen herzlich für Ihre Liebe, die wir um so höher schätzen, als sie für Sie selbst nicht ohne Gefahr ist.«

»Haben Sie Dank für Ihre freundlichen Worte, lieber Herr Werner. Was ich irgend tun kann, soll geschehen.«

»Jesus hat gesagt: ›Was ihr getan habt an einem unter den Geringsten meiner Brüder, das habt ihr mir getan.‹«

Nun ging es an das Verteilen. Ein jeder bekam reichlich und mit jedem sprach Herr Kahn oder Rebekka einige Worte. Wer eine zahlreiche Familie hatte, erhielt entsprechend mehr als die anderen.

»Jetzt aber müssen Sie erst etwas Warmes zu sich nehmen«, sagte Rebekka freundlich, und nach einer Weile kam sie und das Mädchen mit einem großen Topf kräftiger zusammengekochter Suppe und dem nötigen Geschirr. Fritz Werner sprach das Tischgebet. Die halb verhungerten Menschen hatten bald den großen Suppentopf ausgegessen. Nach dem Essen stimmte Fritz ganz leise an: »Danket dem Herrn, denn er ist freundlich und seine Güte währet ewiglich.« Ebenfalls ganz leise sang die Versammlung mit.

»Nun ruhen Sie sich aus, oder unterhalten Sie sich, denn ich kann Sie leider erst nach Dunkelwerden durch die Hinterpforte entlassen«, sagte Herr Kahn. Dann reichte er jedem Einzelnen die Hand und verließ mit seiner Tochter den Bodenraum.

Am Abend, nachdem sie noch einen Imbiß empfangen, führte Herr Kahn sie in Zwischenräumen von fünf Minuten durch die Hinterpforte des Gartens und forderte jeden Einzelnen auf, nach einer Woche wiederzukommen.

Acht Tage später. Im äußersten Norden Berlins bildet die etwa vier Kilometer lange Müllerstraße den Abschluß des langen Straßenzuges, der im Süden an der Hasenheide mit der Bellealliancestraße beginnt und sich in der Friedrich- und Chausseestraße fortsetzt.

Vor der Kellerwirtschaft eines schmutziggrauen Hauses, deren lukullische Genüsse durch die nur noch teilweise lesbare Inschrift: »Bier, Kaffee, Bouillon, warme Speisen« an beiden Seiten der Tür angedeutet waren, wartete ein Bursche mit rohen Gesichtszügen. Er trug eine Ballonmütze und einen roten Schlips, die Kokarde des Weltstaates im Knopfloch, eine Zigarette hing in einem schief nach unten gezogenen Mundwinkel, die Hände steckten in den Hosentaschen. Endlich kam der Erwartete, ein Mensch mit schäbiger Eleganz gekleidet; aus dem verlebten, unrasierten Gesicht blickten ein paar verschmitzte Augen.

»Du, Ede«, rief ihn der erste an, »hier in die Kaschemme is dicke Luft. Überhaupt, da is jetzt 'n neuer Wirt injezogen, und der hat janz andere Kunden mitjebracht. Ick jehe lieber in 'ne andere Penne. Wat ick dir sagen wollte: Ick weeß, wo wir 'n neuet Ding drehen können.«

Seine Stimme wurde zum Flüstern, während sie weitergingen.

»Die Blauen haben jetzt 'ne jroße Belohnung ausjesetzt, wenn man ihnen zeigt, wo die verrückte Bande, die Frommen, noch immer ihr Futter herkriejen. Ick habe da 'ne Spur ausbaldowert.«

»Det is ja jroßartig; da könnten wir erst tüchtig wat klauen und dann uns noch die Belohnung verdienen!«

»Komm nur in die Kaschemme da um die Ecke, wo die rote Laterne is, da wollen wir die Sache bejießen und sehn, wie wir det Ding drehen können.«

Während die beiden sauberen Gesellen in der Kaschemme verschwanden, kamen von der anderen Seite ein Mann und ein Weib. Der Mann war von hoher Gestalt, das Gesicht von einem ungepflegten braunen Bart umrahmt, die Kleidung abgeschabt; er trug keinen Halskragen, sondern einen bunten Schal. Das Weib sah bleich und abgemagert aus, ihre Schuhe waren zerrissen, um die Schultern hatte sie ein löcheriges Tuch geschlungen. Sie stiegen in jene Kellerwirtschaft hinab. Auf ein kaum merkliches Zeichen des Wirtes ließen sie sich an einem Tische nieder, an dem schon mehrere heruntergekommen aussehende Leute saßen. Der Wirt stellte jedem ein Glas Bier hin. Als sie eine Weile stumm dagesessen hatten, erhob sich ein Mann vom Nachbartische; er ging auf den Wirt zu und sagte: »Na, die Gesuchten scheinen heute nicht zu kommen«, und verließ das Lokal.

Als einige Minuten vergangen waren, stieg der Wirt die hohe Kellertreppe hinauf und schaute vorsichtig nach allen Seiten. Dann kehrte er um und sagte leise: »Die Luft ist rein, der Kriminalbeamte ist fort.«

Auf das Wort hin kam Bewegung unter die Gäste. Die meisten, darunter auch der Mann und das Weib, die zuletzt gekommen, standen auf. Sie gingen durch eine im Hintergrund befindliche Tür, die zu einem dunklen Gange führte, an dem die Küche und die Wirtschaftsräume lagen. Ganz hinten in diesem Gange war hinter einem scheinbar losgerissenen Fetzen der Tapete ein Knopf verborgen. Auf einen Druck öffnete sich eine verborgene Tapetentüre und sie traten in einen schon halbgefüllten, matt erleuchteten, fensterlosen Raum ein, nachdem sie dem Türhüter mit leiser Stimme ein Paßwort zugeflüstert.

»Guten Abend, liebe Brüder und Schwestern«, sagte der große Mann.

»Guten Abend, Herr und Frau Pastor«, war die Antwort. Dann reichte man sich die Hände und manche gaben sich den Bruderkuß.

»Wie dankbar können wir sein«, sagte der Pastor, in dem wir nun Arno erkennen, »daß der Herr uns diesen verborgenen Raum geschenkt hat. Der Wirt ist zwar noch kein Christ, aber er ist nicht fern vom Reiche Gottes und steht treu für uns ein. Der Herr möge es ihm lohnen.«

»Überhaupt, wieviel treue Freunde haben wir gefunden, die in der Not zu uns stehen, obwohl sie ihrer religiösen Anschauung nach gar keine Christen sind«, bemerkte ein Kirchenältester.

»Ja, es wäre vielleicht keiner von uns mehr am Leben, wenn nicht so viele, die sonst Weltmenschen sind, unseren Hunger gestillt, unsere Blöße bedeckt, uns in der Kälte beherbergt, uns in der Gefangenschaft erquickt hätten? Matth. 25, 34-40. Der Herr wird auch diesen lieben Obadja 1. Kön. 18, 3-14.-Seelen ihren Anteil geben an dem kommenden Reich.«

Während die Gemeindeglieder ihre Erfahrungen austauschten, legte Arno seinen Talar an, den er aus einem Schranke hervorgeholt, und Elsbeth teilte die Gesangbücher aus. Im Hintergrunde des Raumes stand ein Tisch, auf dem zwei Kerzen brannten, zwischen denen ein Kruzifix stand und eine Altarbibel lag.

Nach gemeinsamem Gesang des Lutherliedes: »Ein feste Burg«, das für die bedrängte Lage der Gläubigen so ganz besonders geeignet war, knieten alle zum Gebet nieder, und nicht nur der Pastor, nein, auch viele Gemeindeglieder schütteten ihre Herzen vor dem Herrn aus.

Dann predigte Arno dieser Gemeinde von Hungernden, Obdachlosen und Verfolgten als einer, der das gleiche am eigenen Leibe erfahren. Als Text verlas er die Worte Luk. 18, 7 u. 8: »Sollte Gott nicht auch retten seine Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, und sollte er's mit ihnen verziehen? Ich sage euch: Er wird sie erretten in einer Kürze. Doch wenn des Menschen Sohn kommen wird, meinest du, daß er auch werde Glauben finden auf Erden?« Er wies die Gemeinde hin auf Gottes wunderbare Taten durch die zwei gewaltigen Zeugen in Jerusalem als einen sichtbaren Beweis der Macht des Auferstandenen. »Zu ihm, der mächtiger ist als der Antichrist und sein falscher Prophet, nehmen wir unsere Zuflucht, nicht nur wie in jeder anderen Trübsal mit der Bitte um Kraft zum Ertragen, sondern um Beendigung der Karfreitagsstunde der Christenheit durch die Wiederkunft des Herrn. Wir sehen ja mit tiefem Schmerz, wie so viele weich werden in den Verfolgungen und den Herrn verleugnen, wie so manche andere den kräftigen Irrtümern des ›Bundes der Menschheitsreligionen‹ und den Lockungen ihrer dämonisch-okkultistischen Wunder unterliegen, Matth. 24, 21-25. wir erleben wieder und wieder, wie so manche unserer Geschwister kein Öl geistlichen Verständnisses des prophetischen Wortes besitzen – ich muß mich selbst einschließen, auch ich habe mich lange nicht um das prophetische Wort gekümmert –, so daß die Lampen ihrer Hoffnung erloschen sind und sie durch alle Finsternis der Gegenwart hindurch den Weg nicht sehen, auf dem unser König im Begriff ist zu kommen. Deshalb, um unserer schwachen Brüder willen – und wer unter uns weiß, ob er nicht auch schwach wird? – flehen wir den Herrn an, daß er uns errette aus der Hand unserer Widersacher durch sein Kommen. Und er hat uns verheißen, daß er seine Auserwählten, die Tag und Nacht zu ihm rufen, erretten wird in einer Kürze, denn um der Auserwählten willen, um ihres Bittens und Flehens willen, und damit sie nicht verführet werden in den Irrtum, sollen ja die Tage dieser Trübsal verkürzt werden. So liegt es am Gebet der gläubigen Gemeinde, die Ankunft des Herrn zu beschleunigen. Aber wird er außer bei denen, die auf ihn warten, auch Glauben finden auf Erden? Das ist unser tiefer Schmerz, daß wir wissen, sein Kommen wird mit dem furchtbarsten Gericht, dem entsetzlichsten Blutvergießen verbunden sein, das die Erde je gesehen hat. Offb. 14, 19. 20; 19, 21. Für seine Feinde bringt er keine Gnade, sondern nur Vernichtung. Die Erde muß gesäubert werden von seinen Hassern, ehe er auf ihr sein Friedensreich errichten kann. Aber es ist unser Trost, daß die Zahl derer größer und größer wird, die nur von einem Siege der verfolgten christlichen Wahrheit noch etwas erhoffen für die Menschheit und die darum der gequälten Gemeinde des Herrn beistehen und helfen, wo sie können. Echte Obadja-Naturen, wie der Bruder vorhin sagte, wagen sie es nicht, sich offen zum Herrn zu bekennen, weil sie noch kein persönliches Glaubensverhältnis zu ihm haben und daher sich noch fürchten vor den Leiden der Verfolgten, aber im stillen tun sie uns Gutes, so viel sie können. Darum dürfen wir gewiß sein, daß der Herr sie in dem furchtbaren Gericht nicht dahinraffen wird, sondern daß sie das Friedensreich Christi auf Erden erleben werden. Der Herr möge ihnen einen gesegneten Eingang schenken in sein Reich auf Erden.«

An die Predigt schloß sich eine schlichte Abendmahlsfeier an. Die Gemeinde spürte die Gegenwart des Auferstandenen, der sich liebevoll herabneigte zu den um seines Namens willen Verfolgten und Ausgestoßenen. Er versiegelte ihnen durch seinen Geist von neuem die Verheißung: »Ihrer ist das Himmelreich.« Dann beteten sie mit Inbrunst um das Kommen des Herrn. Zum Schluß gab der Pastor noch das Paßwort für die nächste Versammlung an. Es war das Wort Ps. 74, 19: »Du wollest nicht dem Tier geben die Seele deiner Turteltaube.«

Nun war es aber auch die höchste Zeit, daß der Raum geleert wurde, denn die Lichter begannen bereits zu erlöschen, weil der Sauerstoff verbraucht war. Sie verließen nicht alle auf einmal, sondern ganz allmählich einer nach dem anderen das Zimmer, um nicht unnütz die Aufmerksamkeit der Leute zu erregen.

Als letzte stiegen Arno und Elsbeth die hohe Kellertreppe hinauf. Müde hing Elsbeth sich in den Arm ihres Gatten, über dessen Antlitz der Schatten eines großen Schmerzes lag. Sie gingen immer weiter nordwärts, einsamer und immer einsamer wurde es auf der nur spärlich erleuchteten Straße. Nur hier und da sah man einige der unglücklichen aufgeputzten Mädchen, deren Gewerbe ihnen auf dem Gesicht gezeichnet stand, durch die Nacht huschen. Einige waren von ihren Zuhältern, rohen, verwegenen Burschen, begleitet. Manches gemeine Witzwort wurde den beiden zugerufen.

»Arno, Geliebter«, sagte Elsbeth, »du trägst schwer an deines Vaters plötzlichem Tode.«

»Ja, und nicht einmal ein ehrliches Begräbnis hat er bekommen können! In allen Krankenhäusern habe ich nach ihm gesucht. Hätte ich nur gleich an das Leichenschauhaus gedacht, dann hätte man seinen Leichnam nicht zu wissenschaftlichen Zwecken an die Universitätsklinik geliefert! Mein guter Vater! Nicht viel über ein Jahr ist's her, da waren wir noch so fröhlich im Pfarrhause zusammen. Weißt du noch, mit welcher Freude Vater uns seine Gemüsepflanzungen zeigte und wie wir an jenem schönen Augusttage mit Fritz in der Laube Kaffee tranken? Wie er sich noch freute, als Kirchenältester uns das Pfarramt an unserer jetzigen Gemeinde zu verschaffen?«

Elsbeth drückte ihr Gesicht an Arnos Arm und sagte dann: »Deine Eltern sind beide den Märtyrertod gestorben. Ihr Körper ertrug die Strapazen dieser furchtbaren Zeit nicht mehr. Sie sind jetzt geschmückt mit der Überwinderkrone und stehen in weißen Kleidern vor des Lammes Thron. Sie sind nicht zu bedauern. Wären wir nur auch erst dort!«

»Wir wollen tapfer sein, Liebchen. Der Herr hat vorläufig noch Aufgaben für uns. Wir haben es heute wieder gesehen, daß er sich bekennt zu seiner kleinen Schar, und bald, ja bald werden wir ihn sehen als den König aller Könige und als den Herrn aller Herren.«

Die Häuser an der Straße wurden seltener. Sie kamen in das sogenannte Scheunenviertel mit seinen Schlupfwinkeln alles lichtscheuen Gesindels. Endlich hörten die Häuser und die Straßenbeleuchtung ganz auf und es begann das Gebiet der »Rehberge«. In einem dieser Sandhügel war an einer verborgenen Stelle eine Höhle, deren Eingang durch eine von irgendeinem abgerissenen Hause stammende angelehnte Tür geschlossen war. Arno schob die Tür beiseite; sie traten in gebückter Haltung ein und Arno rückte die Tür wieder vor den Eingang. Dann entzündete er eine Kerze, die in dem Hals einer zerbrochenen Flasche steckte. »Das Pfarrhaus der von der Kriminalpolizei Gesuchten«, sagte er und versuchte seinem Ton einen scherzhaften Klang zu geben. Sie ließen sich auf zwei Hauklötzen nieder, die die Stelle von Stühlen vertraten, und stellten das Licht auf einen Sandhaufen, der ihnen als Tisch dienen mußte.

»Wir haben aber dem Herrn doch viel zu danken«, hob Elsbeth hervor. »Immer wieder sorgt er für uns. War es nicht eine wunderbare Freundlichkeit, daß er uns, als die Polizei uns auf den Fersen war, diese Höhle zeigte, in der uns niemand vermutet? Schickt er uns nicht immer wieder Nahrung, so daß wir noch nicht verhungert sind? Hat er nicht meine gute Mutter willig gemacht, unser Kind zu pflegen? Heute morgen, als du fort warst, war als guter Engel wieder dieses liebe Mädel, die Rebekka, hier und hat uns allerlei gebracht. Das habe ich dir noch gar nicht erzählt. Sieh nur, hier.«

Elsbeth holte aus dem Hintergrund der Höhle ein Brot, eine Büchse mit Suppenwürfeln und einige Würste. Auf einem Spirituskocher bereitete sie die Suppe in einem Topf, den sie in verrostetem Zustande auf einem nahen Müllhaufen gefunden.

»Wie gut hätte das dem Vater getan«, sagte Arno wehmütig. »Das lange Fasten damals hat er nicht ausgehalten. Wie mag es nur Hasso und Hertha gehen? Ich habe ihnen doch geschrieben, daß sie postlagernd ihre Briefe unter dem Namen Arno Müller an das hiesige Postamt senden möchten, aber es ist schon so lange keine Nachricht gekommen.«

»Sie sind in des Herrn Hand«, erwiderte Elsbeth. »Wir wollen nicht ablassen, für sie zu beten.«

Nach gesprochenem Tischgebet stärkten sich beide an den vorhandenen Speisen. Dann legten sie sich auf dem dürftigen Strohlager nieder, deckten sich mit ihren Mänteln zu, löschten das Licht, beteten und schliefen bald ein.

In der Woche machte Arno in der erwähnten rowdyartigen Kleidung Besuche bei den schwer heimgesuchten Gemeindegliedern. Elsbeth begleitete ihren Gatten oft bei dieser Arbeit, bei der sie täglich der Gefahr der Entdeckung ins Auge sehen mußten. Wenn Elsbeth nicht mitging, so suchte sie ihre Jungfrauen zu treffen und sie im Glauben und im Ausharren zu stärken.

Als am nächsten Sonntag die Gemeindeglieder wieder in dem Geheimzimmer jener Kaschemme sich versammelten, brachte einer ein Zeitungsblatt mit, in dem folgende Notiz stand:

» Einbruch und Verhaftung. In der Villa des bekannten Warenhausdirektors Kahn in Nikolassee wurde am Dienstag ein schwerer Einbruch verübt. Die Diebe stiegen durch das Kellerfenster ein und entwendeten große Mengen Lebensmittel. Am folgenden Tage wurde der Besitzer der Villa und seine 18jährige Tochter von der Kriminalpolizei verhaftet unter der Beschuldigung der Begünstigung und Unterstützung von des Hochverrats verdächtigen Personen. Mit der bei Verbrechen gegen das Schutzgesetz üblichen schnellen Justiz wurden heute Vater und Tochter zu je fünf Jahren Zuchthaus und zur Enteignung ihres Besitzes verurteilt.«

Die Gemeindeglieder waren tief erschüttert von dieser Nachricht, und es wurde lange hin und her geredet, was zu tun sei, um diesen guten Menschen zu helfen. Endlich erklärte Arno sich bereit, zu den zahlreichen christenfreundlichen Mitgliedern der Synagoge zu gehen und sie zu bitten, vereint Schritte zur Begnadigung der beiden Gefangenen zu tun; es war doch anzunehmen, wenn einflußreiche Juden sich für einen der Ihrigen verwendeten, daß der Staat dann nicht wagen würde, ihrem Wunsche entgegen zu sein.

Arno hatte recht gehabt. Nachdem Vater und Tochter vier Wochen im Zuchthause zugebracht, wurden sie begnadigt und ihnen ihr Besitztum wieder eingehändigt. Trotz der erfahrenen Unbill ließen beide sich nicht irre machen in ihrem Samariterwerk, die Hungerigen zu speisen, die Nackten zu bekleiden, die Gefangenen und Ausgestoßenen zu besuchen, die Obdachlosen zu beherbergen.


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