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Im Moor.

Ein grauer, naßkalter Herbstmorgen dämmert herauf. Allmählich treten die umliegenden Gegenstände aus dem Dunkel: dort am Abhang schlummert eine kleine, alte Scheune, geduckt wie ein altes Väterchen, bis an den Giebel mit Heu angefüllt. Das Dach ist zur Hälfte mit Stroh, zur Hälfte mit Baumrinde gedeckt; einzelne vom Winde losgelöste Rindenstücke starren in die Luft, verdrückt und verbogen wie die Ränder eines alten Hutes. Hinter der Scheune breitet sich eine graue, kahle Grasfläche aus und hinter dieser das Moor, das mit verkrüppeltem Weidengestrüpp und stachlichen Brombeersträuchern bewachsen ist. Dazwischen stehen ein paar armselige Tannenbäumchen, bald einzeln, bald in Gruppen, und hier und da schimmert auch der weiße Stamm einer Birke aus der Dämmerung hervor. Rundumher herrscht tiefe Stille; besonders fühlbar ist sie im Moor: eine schwere, kalte Stille, gleich dem Herbstnebel, der darüber lagert. Es ist, als steige von Zeit zu Zeit aus dem Moor ein Seufzer auf, tief, hohl und bang, und als erwache dann das Moor und erzähle von seinen schwermütigen, dunklen Träumen. Nach einer Weile ist alles wieder still, das Moor liegt stumm und reglos da.

Im Sommer ist es hier nicht so einsam und traurig gewesen: ungeheure Mücken- und Fliegenschwärme durchsummten da die Luft und tanzten über dem harten Riedgras und dem Sumpfporsch, der auf den Erdhügeln blühte; ein Vöglein zwitscherte im Gebüsch, ein Eichkätzchen verirrte sich aus dem Walde hierher. Jetzt aber ist alles Leben entflohen, – das Moor ist tot.

Auf der andern Seite der Grasfläche, inmitten eines unfruchtbaren, sandigen Ackers, stehen ein paar kleine, altersgraue Gebäude, nahe Verwandte der halbzerfallenen Scheune dort auf dem Hügel. Ängstlich schmiegen sie sich eines ans andere, um sich auf der weiten Ackerfläche nicht gar so unsicher zu fühlen. Ein kleiner, erst vor kurzem angelegter Obstgarten am Ende des Wohnhauses ist noch nicht imstande, ihr armseliges Aussehen vor der Welt zu verbergen. Ein alter Ahorn auf der einen und eine ebenso alte Weide auf der andern Seite des kleinen Hofes neigen sich einander zu und scheinen miteinander plaudern zu wollen, wie zwei gemütliche Grauköpfe, die sich von Jugend auf kennen. Längs des Zaunes und des Feldweges sind vereinzelte junge Bäumchen gepflanzt, Eschen und Kastanien, aber die sind noch ganz klein; nur wenige blasse Blättchen zittern auf ihren schlanken Zweigen. Hinter dem sandigen Acker werden schmale Streifen mit niedrigem Gebüsch bewachsener Viehweiden sichtbar und zwischen diesen liegen wieder Felder, auf denen noch die grauen Holzgestelle zum Aufstapeln der Korngarben stehen; ganz im Hintergrunde aber, kaum aus der Morgendämmerung auftauchend, zieht sich die dunkle Linie des Waldes hin ...

Über den schmalen Feldweg, der sich vom Walde her zwischen den Äckern und Viehweiden hinschlängelte, kam eiligen Schrittes ein Mann gegangen. Er war in mittleren Jahren, groß von Wuchs, mit feistem, von dichtem, rotblondem Bart umrahmtem Gesichte. Den grauen Überrock hatte er aufgeknöpft, dennoch schien er sehr erhitzt zu sein. Jetzt betrat er den Hof und sah sich forschend nach allen Seiten um.

»Ist der Wirt zu Hause?« fragte er eine Frau, die soeben, zwei Eimer mit dampfendem Viehtrank am Achselholz auf der Schulter tragend, aus dem Hause trat.

»Freilich ist er zu Hause, – wo sonst? Für die Arbeit im Moor ist's ja noch zu früh. Mein Alter füttert dort im Stall die Pferde, aber der Wirt ist noch nicht herausgekommen.«

Der Fremde hörte gar nicht mehr auf die Frau. Durch die niedrige Tür, an deren Schwelle statt einer Stufe ein flacher Stein lag, trat er ins Haus. Das erste Zimmer war niedrig und halbdunkel, denn das kleine vierscheibige Fenster ließ nur wenig Licht herein. Nicht weit vom großen Kachelofen an der mittleren Wand befand sich eine Tür, die in das zweite Zimmer führte. Der Fremde klopfte an. Die Tür wurde von einem jungen Manne geöffnet, der eben erst aufgestanden zu sein schien. Sein wettergebräuntes, von einem dichten Kranz blonder Haare umgebenes Gesicht war sehr ernst, den derben, rauhen Händen sah man die harte Arbeit an.

»Ach, Nachbar Sihle!« rief er, »sieh' mal an, du bist schon so weit gewandert und ich krieche eben erst aus den Federn! Hab' mich heut' verschlafen.« Und er begann sich schnell anzukleiden.

»Na, das macht ja nichts; es geht einem halt manchmal so,« erwiderte der Gast und setzte sich an den Tisch, auf dem eine Lampe mit grüner Kuppel stand und einige Bücher und Zeitungen umherlagen. Dieses Zimmer war etwas geräumiger und bequemer als das erste.

»Du scheinst viel zu lesen,« meinte Sihle, die Zeitungen betrachtend und eines von den Büchern aufschlagend; »Grundzüge der Landwirtschaft« stand auf dem Titelblatt.

»Ja, des Abends. Viel Zeit dazu hab' ich freilich nicht, – wenn man den ganzen lieben Tag gearbeitet hat, wird man auch bald schläfrig, da geht's denn manchmal schon recht früh ins Bett.«

Andreas Linde, der junge Waldhofbauer, hatte seine Morgentoilette beendet und setzte sich nun zu dem andern an den Tisch. In seinen ernsten blauen Augen lag die Frage, was der Nachbar eigentlich von ihm wollte. Dieser schien das zu bemerken, sah zur Seite und schwieg, während seine Finger mit einem Zeitungsblatte spielten. Er schien nicht recht zu wissen, womit er anfangen sollte.

»Ich hab' mit dir zu sprechen, aber – so, daß uns niemand hört; es geht nur uns beide an,« sagte er schließlich, stand auf und schloß die Tür, die halb offen geblieben war.

»Wir sind hier ungestört, niemand kann hereinkommen als höchstens meine Mutter,« meinte der junge Bauer etwas verwundert.

»Wenn auch, – bei geschlossener Tür ist's gemütlicher. Die Weiber brauchen nicht alles zu wissen.« Sihle lachte gezwungen, setzte sich und begann wieder unruhig mit der Zeitung zu spielen.

»Dann – bist du wohl wegen meiner Schuld gekommen?« fragte Andreas etwas zaghaft.

Im Frühling hatte er vom Nachbarn 60 Rubel geliehen, die er bisher noch nicht zurückbezahlt hatte. Aber das war doch kein Geheimnis. Die Mutter und sogar der alte Knecht wußten ja, daß er das Geld damals zum Pferdekauf gebraucht hatte.

»N–nein, ganz was anderes,« antwortete Sihle; »mit der Rückzahlung hat's ja keine Eile. Aber weißt du, wir sprachen einmal von der Waldecke da, – die Sache kann sich machen, ich kann dir das Landstück abtreten.«

Lindes Augen leuchteten auf, er wurde lebhafter. »Ach, Nachbar, das wäre mir wohl sehr angenehm. Die Waldwiese wäre mir von großem Nutzen; dann hätte ich doch ein Stück wirklichen Wiesenlandes. Was hab' ich denn jetzt? Nichts als Moor! Und die Waldecke könnte ich auch gut gebrauchen. Dagegen für dich ist das Landstück ganz überflüssig, fernab von deinen übrigen Ländereien –«

»So ist es!« pflichtete der andere bei; »reden wir aufrichtig, als gute Nachbarn. Für dich hat dies Stück zehnmal mehr Wert als für mich, denn einen besseren Platz für eine Mühle findest du nirgends.«

Dabei lachte Sihle, Andreas aber blieb ernst. Es war ihm unangenehm, daß der Nachbar seinen Plan erraten hatte.

»Diese Waldecke, die an deinen bisher ganz wertlosen Kiefernhügel heranreicht,« sprach Sihle weiter, »ist wie ausersehen für eine Mühle. Wenn der Waldbach auch schmal ist, – fließen tut er doch, selbst im allertrockensten Sommer. Ja, an deine Ländereien angefügt, gewinnt meine Waldecke an Wert. Ich dagegen kann nichts Rechtes aus ihr machen.«

»Das mit der Mühle –« erwiderte Andreas ein wenig verlegen, »ich hatte allerdings den Plan, ich will's nicht leugnen. Ob ich ihn ausführen kann, weiß ich freilich nicht. Vielleicht mit der Zeit, wenn mein Moor etwas trägt –«

»Das wird wohl nicht so bald der Fall sein,« fiel ihm Sihle ins Wort, »aber darauf brauchst du ja auch gar nicht zu warten. Wer ein sicheres Einkommen hat, wie du, kann doch Geld zu leihen bekommen.«

»Mag sein. Vor allem muß ich jedenfalls das Land haben. Könnten wir uns vielleicht gleich darüber einigen?«

»Ja, ja, das wollte ich ja, wenn wir –« Sihle stockte und sah zum Fenster hinaus, als wollte er den fragenden Blicken des jungen Bauern nicht begegnen. Endlich fuhr er fort: »Du botest mir einmal für das Land 300 Rubel, – damals ging ich nicht darauf ein, – ich hab's mir überlegt, ich kann den Preis annehmen.«

»Wirklich, Nachbar? Eine angenehmere Nachricht konntest du mir gar nicht bringen!« Andreas sprang in freudiger Erregung auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Nun sollte er also der Erfüllung seines langgehegten Wunsches näherkommen! Drüben am Waldbach sollten die Mühlräder lustig rauschen und ihm viel, viel mehr Gewinst eintragen als die Arbeit im dunklen, ernsten Moor und auf dem armseligen versandeten Acker! Alles, alles sollte anders werden in Haus und Hof!

»Natürlich,« begann Sihle wieder, »wenn man in Betracht zieht, was ich von andern Käufern für mein Land erhalten könnte, so sind die dreihundert Rubel so gut wie nichts; sechs- bis siebenhundert würde mir jeder mit Freuden dafür geben. Die Bäume allein sind ja schon ein schönes Stück Geld wert. Aber du bist mir nun mal grade recht als Käufer, das ist dein Glück. Und dann – vielleicht wirst du mir nun auch einen Gefallen erweisen –« Sihle rückte näher zu Andreas heran und begann so schnell und leise auf ihn einzureden, daß dieser nur einzelne Worte verstand: »Kleine Unannehmlichkeit – so eine Sache mit dem verstorbenen Dalge – vielleicht schon erfahren – will durchaus von mir – hast du noch nichts davon gehört?« Sihle blickte forschend zu Andreas auf, der völlig verständnislos vor ihm stand.

»Was soll ich gehört haben?« fragte der junge Bauer verwundert, »was ist mit Dalge? Der ist doch schon längst tot, wie kannst du mit ihm Unannehmlichkeiten haben?«

»Und gar was für welche!« Sihle versuchte zu lachen, aber es gelang ihm nicht recht. Er näherte sein erhitztes Gesicht wieder dem jungen Bauern und flüsterte:

»Dalge selbst ist zwar tot, ja, aber seine Frau und seine Tochter leben noch. Und denk' dir nur, Freund, plötzlich verlangen sie von mir, ich solle ihnen das Geld zurückgeben, das Dalge mir zum Aufbewahren anvertraut habe! Was das wohl für Geld sein soll? Was ich hatte, hab' ich ihnen gegeben, was wollen sie denn noch? – Das wissen sie wohl selber kaum!« Er machte eine ärgerliche Handbewegung, strich sich den Bart und warf einen lauernden Blick auf Andreas.

»Nun – und –?« fragte der, »ich versteh' noch immer nicht. Sie verlangen Geld von dir?«

»Na ja, sie verlangen es, aber die Sache ist doch eben die, daß ich ihr Geld längst nicht mehr habe. Die Frauenzimmer verstehen ja nicht zu rechnen! Die bilden sich was ein und geben mir nun keine Ruhe.«

Sihle lachte wieder höhnisch auf.

Andreas dachte nach. »Ja, gehört habe ich wohl,« sagte er dann, »daß du Dalges Ersparnisse aufbewahrt hast –«

»Ich hatte,« unterbrach ihn der andere, »das leugne ich ja gar nicht. Aber allmählich hat Dalge sein Geld wieder zurückgenommen, so einen Hunderter nach dem andern. Ich begreife selbst nicht, wo er es gelassen hat. Ich hielt das Geld ja nicht zu Hause, hatte es sicher in der Bank angelegt, aber eins, zwei, drei, war alles wieder herausgenommen.«

»Das kann alles sein, Nachbar, aber was geht das mich an?« fragte Andreas jetzt.

Sihle warf einen mißtrauischen Blick auf die Tür und flüsterte weiter:

»Was es dich angeht? Das wirst du bald genug erfahren. Die Witwe will mich klagen und du sollst Zeuge sein.«

»Ich – Zeuge?«

»Jawohl. Mir scheint, du bist einmal dabei gewesen, als Dalge mit mir von seinem Gelde sprach. Er fragte mich – – erinnerst du dich denn nicht? Es war im vorigen Sommer, kurz vor seinem Tode!«

»Ja, jetzt erinnere ich mich,« antwortete Andreas nachdenklich, und er gedachte eines Sommersonntags, an dem er Sihle einen Besuch gemacht hatte; der hatte ihn mit selbstgebrautem Bier bewirtet. Ja, ja, er entsann sich jetzt ganz genau, wie alles gewesen war: das Zimmer hatte etwas verwahrlost ausgesehen, die schmutziggraue Tapete hatte hier und da in Fetzen herabgehangen und Sihle hatte erzählt, er wolle die Wände neu bekleiden lassen, mit schönen, bunten Tapeten, die mit roten Blumen und fremdartigen Vögeln bemalt sein müßten, – und als sie so an dem weißgedeckten Tisch gesessen hatten, war die Tür langsam geöffnet worden und Dalge war hereingekommen, hatte um Geld gebeten und geklagt, daß er nun wohl bald sterben werde. Sihle hatte ihm dann fünfzig Rubel gegeben und Dalge hatte so wehmütig gesagt, die noch übrigen vierhundert müßten für seine Frau und seine Tochter zurückbleiben und Sihle solle sie ihnen geben, wenn sie ihrer bedürfen würden. Sihle hatte dann noch den Kranken zu trösten versucht, daß es mit dem Sterben wohl Zeit habe, der aber hatte mit traurigem Kopfschütteln das Zimmer verlassen. Ja, so war das alles gewesen. Aber was sprach Sihle denn jetzt vom Zurückzahlen und Klagen? Was wollte er eigentlich?

»Ich habe leider nichts Schriftliches darüber,« begann Sihle jetzt wieder, »aber ich glaube wirklich, du warst dabei.«

»War das damals, als deine Stube neu hergerichtet werden sollte?«

»Jawohl, jawohl, grade damals! Erinnerst du dich, daß ich dem Dalge damals Geld gab?«

»O ja, – fünfzig Rubel.«

Sihle schlug die Augen nieder. »Nur fünfzig?« fragte er eindringlich, »ich denke doch, weit mehr?«

»Nein, fünfzig Rubel,« erklärte Andreas mit Bestimmtheit, »du zähltest sie vor mir auf den Tisch hin.«

»Das versteh' ich wirklich nicht! Dann muß es wohl ein anderes Mal gewesen sein, daß ich ihm auch noch den Rest zurückzahlte. Zu dumm, daß ich vergessen hab', wer eigentlich damals dabei war! Hab' immer geglaubt, du seist es gewesen.«

Sihle strich sich wieder durch den struppigen Bart und fragte nach einer Weile lauernd:

»War damals – in deiner Gegenwart – auch noch von dem übrigen Gelde die Rede?«

»Ich denke wohl; du behieltest mit Dalges Einwilligung noch eine Summe bei dir.«

»Wieviel?«

»Vier Hunderter.«

»Unsinn! auch nicht einmal einen Kopeken!« Sihle sprang zornig auf; »mein Lieber, du hast dich verhört oder dir später was einreden lassen! Gar nichts behielt ich, ga–ar nichts! Das kannst du auch nicht bezeugen! Du hast nur gesehen, daß ich ihm Geld ausgezahlt habe, und damit abgemacht. Und ausgezahlt habe ich's ihm, darauf kannst du dich verlassen!«

Wieder warf Sihle einen forschenden Blick auf Andreas, der aber sagte:

»Was ich gesehen und gehört habe, kann ich bezeugen, sonst nichts.« Er hatte noch immer nicht ganz begriffen, was der Nachbar von ihm erwartete, aber ihm kamen so seltsame Gedanken darüber, die ihn erröten machten.

»Natürlich nur, was du gesehen hast!« bestätigte Sihle eifrig, »das meine ich ja auch. Wenn man dich also vor Gericht fragt, ob ich das Geld zurückgezahlt habe, sagst du einfach ja. Ob es viel war? Jawohl, wenig war es nicht. Und die Sache ist in Ordnung!«

»Aber wie, wenn man mich fragt, was ich überhaupt von der Angelegenheit weiß? Kann ich denn verschweigen, daß du damals noch vier Hunderter zurückbehalten hast?« Andreas war ganz aufgeregt.

»So sprich doch wenigstens leiser!« rief Sihle ihm ärgerlich zu, »du schreist ja, als wenn das Dach über deinem Kopfe brennen tät'.«

»Sag endlich klar heraus, was du eigentlich vor hast und was das alles bedeutet!«

»Ach, mit dir kann man ja nichts Wichtiges verhandeln,« brummte Sihle, »und es wär' doch auch für dich vorteilhaft gewesen. – Na, setz' dich, ich will versuchen, es dir klar zu machen.« Er neigte sich zum Ohr des ganz verstört dreinblickenden Andreas und sprach lange auf ihn ein.

»Nachbar, was willst du tun?« rief der junge Bauer plötzlich entsetzt, »du willst der Witwe die vierhundert Rubel stehlen?«

»Mensch, wer spricht denn vom Stehlen? Ich hab' das Geld doch längst zurückgezahlt, hast du das denn noch immer nicht begriffen? Ich brauche nur jemand, der das vor Gericht bezeugen kann, und mein Pech ist es, daß niemand dabei war. Sei doch nicht dumm, Freundchen; du brauchst meinethalben nur zu sagen, du wüßtest von nichts, mehr verlange ich ja nicht von dir!«

»Ach, Nachbar, sprich lieber gar nicht mehr davon!« bat Andreas, »ich hätte wirklich nie gedacht, daß du so einer bist.«

»Was denn für einer?« fuhr Sihle auf, doch er lenkte gleich wieder ein: »Hör' einmal, Linde, ich will dir noch etwas sagen. Wir sprachen vorhin von meinem Walde – ich würde ihn dir – fünfzig Rubel mehr oder weniger bedeuten für mich nicht viel – aber nur unter der Bedingung – – – Siehst du, ich hab' mir gedacht: na, hilfst halt dem jungen Mann auf die Füße, er wird ja seinem eigenen Vorteil nicht im Wege stehen wollen. Aber wenn du eigensinnig bist, wirst du niemals die Mühlräder am Waldbach klappern hören, das bedenke! Plag' dich dann nur weiter in deinem Moor und in deiner Sandwüste!«

»Aber Nachbar, was hast du denn? Ich verlange das Land ja nicht umsonst, ich will's dir doch ehrlich abkaufen!«

»Aha, also die Mühle geht dir nicht aus dem Sinn?« spottete Sihle, um gleich wieder mit großer Beredsamkeit zu versichern, er sei ganz gewiß kein Betrüger, die Witwe Dalge sei nur von Menschen, die ihm übel wollten, aufgehetzt worden, weil er eben nicht beweisen könne, wie es gewesen; und Andreas könne ihm so leicht aus der Klemme helfen, und es wäre doch gar nichts Unrechtes dabei, und er werde es ihm nie vergessen.

Im Nebenzimmer wurden jetzt Frauenstimmen laut. Andreas erkannte die Stimme seiner alten Mutter. Schweigend erhob er sich und zog die Arbeitskleider an, dann verließ er mit seinem Gaste das Zimmer. Mit ängstlich fragenden Blicken sah die Mutter ihn an, als er an ihr vorüberschritt.

Der Nebel hatte sich geteilt. Aus dem Moor tönten Axtschläge; dort war Lindes Knecht, der alte Gailis, schon bei der Arbeit.

»Also bleibt's, wie ich gesagt habe?« fragte Sihle den stumm neben ihm einherschreitenden Genossen; »du mußt doch einsehen, daß es so am besten ist, du mußt doch endlich auch zu etwas kommen!«

Andreas schwieg noch immer. An der alten Scheune trennten sie sich, Sihle ging heim, Andreas wanderte sinnend dem Moore zu.

Über dem Moor lag der Nebel noch ebenso schwer und still wie vor Tagesgrauen. Der Herbsttag, des vergeblichen Kampfes gegen das Dunkel der Nacht müde, glich einem schlummernden, mit kaltem Schweiß bedeckten Kranken. Der Sumpfgeruch und die Feuchtigkeit legten sich dem jungen Bauern beklemmend auf die Brust. Ihm schien's, als würde er in dieser Luft sein Lebtag zu keiner Freude, keiner Hoffnung kommen, als erwarte ihn hier nichts als Unglück, Trauer und Tod. Es wunderte ihn nur, daß die Einsamkeit und Armseligkeit des Moors ihm bisher nie so aufgefallen war wie heute. Seltsam! bisher hatte er hier bei der schweren Arbeit ganz anders empfunden: in den Armen, im ganzen Körper hatte er eine solche Kraft, eine solche Kampfeslust gespürt, und ringsumher hatte er nicht mehr das Moor gesehen, sondern weite Felder, auf denen dichtes Korn wogte, und Wiesen mit frischem, saftigem Gras, bunt von weißen, blauen, roten Blumen. Er hatte schon das lustige Klingen der Sense zu hören gemeint, die das Gras in breiten, grünen Wellen zu Boden strecken sollte, und dort am Abhang hatte nicht mehr die halbzerfallene Hütte gestanden, sondern eine neue, große Scheune mit einem Schindeldach, das weiß in der Sonne glänzte. Die Scheune war schon bis zur halben Höhe mit duftigem Heu angefüllt gewesen, und doch hatte auf der Wiese noch Schober an Schober gestanden. Und hier, wo jetzt die verkrüppelten Weidenbäume wuchsen, hatte er bereits die aufgeschichteten goldgelben Korn- und Hafergarben zu sehen geglaubt. Dort aber, inmitten des sandigen Ackers, der auch längst nicht mehr so dürr und armselig aussah wie jetzt, hatten seine Träume ihm ein stattliches neues Wohnhaus gezeigt, in welchem er sich ein hübsches Zimmer einrichten wollte, ein Zimmer ganz für sich allein. Am Fenster, vor dem eine schattige Linde stehen mußte, sollte sein Tisch Platz finden und auf dem sollten viele Bücher und Zeitungen liegen; an den Wänden mußten ein paar schöne Bilder hängen. In diesem Zimmer würde er abends nach beendetem Tagewerk ausruhen, lesen und träumen; wenn der Wintersturm um das Haus brauste, sollte es da drinnen so recht warm und traulich sein.

Und während er solche Luftschlösser gebaut hatte, war die Arbeit tüchtig vorwärts geschritten, ungeachtet des Schlammes, in dem der Fuß versank, der Schweißtropfen, die von der Stirn rieselten, und der Risse, welche die widerspenstigen Wurzeln und Äste seinen Händen beibrachten. Unermüdlich hatte er gearbeitet, mit Anstrengung aller Kräfte hatte er einen Wurzelknollen nach dem andern aus dem Boden gerissen und sich jedes Fußbreits Erde gefreut, das er freigelegt, das er dem Moor abgerungen hatte. So war es manch lieben Tag gewesen vom Morgen bis zum Abend, und der alte, gutmütige Knecht hatte seinen jungen Herrn oft genug bewundert.

»Kraft habt Ihr, Wirt!« hatte er oft gesagt, »freilich, als ich so jung war, konnte ich auch was Tüchtiges leisten, aber jetzt ist's damit aus. Die alten Knochen wollen nicht mehr so recht, ich kann's mit Euch nicht mehr aufnehmen.«

Und Andreas hatte ihn getröstet, er solle nicht zu viel von sich verlangen und nur so viel arbeiten, als seine Gesundheit vertrug.

»Ja, ja, Wirt,« hatte der Alte dann wohl treuherzig gemeint, »aber auch Ihr selbst müßt an Eure Gesundheit denken. Oft, wenn ich Euch so zuschau', wird mir ganz bange, Ihr könntet Euch Schaden tun.«

»Ach, red' doch keinen Unsinn!« hatte Andreas lachend geantwortet.

»Unsinn, sagt Ihr, aber ich hab's doch schon manchmal erlebt, daß einer sich überarbeitet hat.« Und dann hatte er erzählt, wie der und jener aus seinem Bekanntenkreise sich »überrissen« oder »überhoben« hatte und lange krank gelegen war, und Andreas hatte nur mit halbem Ohr zugehört und in allen Muskeln Kraft und Arbeitslust gefühlt. Warum war er denn heute so kraftlos und müde?

Andreas bewirtschaftete den Waldhof nun schon das dritte Jahr. Vor ihm war sein Vater der Wirt gewesen, der – nachdem er sich den größten Teil seines Lebens im Dienste des Gutsherrn geplagt – auf seine alten Tage den kleinen Hof gepachtet hatte. So wenig das Land auch trug, es war ihm schließlich doch gelungen, den Hof durch jährliche Abzahlung zu seinem Besitz zu machen. Freilich, den Sohn hatte er nicht in die Stadt zur Schule schicken können, so sehr sich der das gewünscht hatte; er hatte schon früh dem Vater daheim bei der Arbeit helfen müssen. Als dann Andreas des Vaters Erbe angetreten hatte, war er gleich darauf bedacht gewesen, sich neue Einnahmequellen zu verschaffen. Damals war er auf den Gedanken gekommen, das große, kaum als Viehweide zu brauchende Moor urbar zu machen, damals hatte er zu arbeiten und zu hoffen begonnen. Das kleine Stück, das im vorigen Jahr gerodet, trocken gelegt und besät worden war, hatte heuer schon gute Frucht getragen: die Ähren waren stark und hoch gewesen und schwer von Körnern. Also nur fleißig weiter gearbeitet, hatte Andreas sich da gesagt, es mußten ja bald bessere Zeiten kommen! Nach zehn Jahren sollte niemand mehr den Waldhof erkennen.

Aber Andreas hatte auch noch andere Luftschlösser gebaut. Damit war es so gewesen: An einem schönen Sonntage war er den Waldbach entlang gewandert und hatte sich vorgestellt, wie hübsch das sein werde, wenn der Bach sich nicht mehr durch den schwarzen Sumpfboden, sondern durch grüne, duftende Wiesen schlängeln werde. Auf dem mit Kiefern bestandenen Hügel, über welchen die Grenze zwischen seinem und des Nachbarn Sihle Besitztum sich hinzog, hatte er sich ins Gras geworfen und froh in den hellen Sommertag hineingeschaut. Die Kiefernstämme schimmerten rot, langsam floß das Bächlein dahin, friedlich und still, nur an einer einzigen Stelle rauschte das Wasser laut auf, als habe es ein auf dem Grunde liegendes Hindernis zu überwinden. Und da war dem jungen Bauern der Gedanke gekommen, den auch schon sein Vater einmal ausgesprochen hatte: hier wäre der richtige Platz für eine kleine Mühle! Schade, daß dieses Landstück im Gebiet des Nachbarn lag. Ob Sihle es wohl verkaufen würde? – So bald konnte die Mühle wohl nicht gebaut werden, – woher sollte er das Geld dazu nehmen? Aber später einmal, später, wenn das Moor in fruchtbares Land verwandelt worden war, dann ließe sich die Sache wohl überlegen. Damals war Andreas die Zukunft wie ein liebliches Bild erschienen: wie im Traum hatte er rundumher üppige Felder gesehen und das trauliche Klappern unermüdlicher Mühlräder gehört, und immer stolzer und prächtiger waren seine Luftschlösser geworden. Ach, schön war das gewesen!

Was war denn nun heute morgen geschehen? Der Nachbar, der bisher nichts vom Verkauf des Landstückes hatte hören wollen, hatte es ihm heute selbst angeboten, und gar unter so günstigen Bedingungen. Aber was hatte hinter diesem freundschaftlichen Angebote gesteckt? – Falsches Zeugnis hatte Sihle von ihm verlangt, anders konnte man es ja doch nicht nennen. Denn daß er das Geld dem Dalge zurückgegeben habe, war eine Lüge. Oder doch nicht? – Er beteuerte ja, er sei der Witwe nichts mehr schuldig. Konnte Andreas nicht vielleicht vergessen haben, wie das damals mit dem Gelde gewesen? Und er bemühte sich, jene Szene noch einmal in seinem Gedächtnis aufleben zu lassen: Dalge war hereingekommen, in Hemdsärmeln, war an den Tisch herangetreten, – Andreas sah ihn deutlich vor sich: blaß, mit eingefallenen Wangen, zitternd vor Schwäche und Kummer. Dann hatte Sihle ihm fünfzig Rubel gegeben, ganz gewiß nur fünfzig, und hatte selbst gesagt, daß er noch vierhundert Rubel zurückbehalte, und halb im Scherz gemeint, das Geld sei bei ihm ja sicher. »Darüber ist kein Wort zu verlieren,« hatte Dalge erwidert, »bei dir ist's sogar sicherer als bei meiner Frau selbst; Weiber verstehen mit Geld nicht umzugehen. Irgend ein Schwindler könnte es ihr herauslocken, – mein Gott, wie die Leute heutzutage sind! – Du aber wirst ihr zu helfen und zu raten wissen, wenn's nötig sein wird.« Damit war der Kranke zur Tür hinausgeschlichen. Einige Wochen darauf war er gestorben. In der kurzen Zeit konnte er doch unmöglich all seine Ersparnisse verbraucht haben? Was machte Sihle also für Geschichten? Und er, Andreas Linde, seines ehrlichen Vaters ehrlicher Sohn, sollte ihm dabei helfen, eine Witwe und ein armes Kind um ihr bißchen Hab und Gut zu betrügen? Er sollte falsches Zeugnis gegen sie ablegen? – Nein, zu so einer Schlechtigkeit war er nicht zu haben!

Dann war es also nichts mit dem Landkauf und der Mühle, und seine schimmernden Luftschlösser versanken im grauen Sumpfnebel. Die Zukunft erschien Andreas plötzlich so leer und trübe und all sein Mühen vergebens. Und er begann von neuem zu grübeln. Gab es denn keinen Ausweg? Konnte er nicht vielleicht – – – konnte er nicht nur das bezeugen, was er gesehen habe, nämlich daß Sihle dem Dalge Geld zurückgezahlt hatte? Das Weitere ging ihn ja schließlich wirklich nichts an. Wie kam er dazu, wegen der Streitigkeiten anderer Leute seinen Zukunftsträumen zu entsagen?

Die Mühlräder rauschten immer verführerischer in seinen Ohren, und das neue, von hohen Bäumen umgebene Wohnhaus zeigte sich immer lockender inmitten der grünenden Felder.

Nein, nein, nein! fuhr's Andreas gleich darauf wieder durch den Kopf, du hättest ja doch dein Lebtag keine Ruhe mehr, du hättest ja keine Freude an all den ersehnten Herrlichkeiten, den Fluch der Witwe würden die Mühlräder nicht übertönen und vor den Tränen der Waise könntest du dich in deinem neuen Hause nicht bergen, die würden dich Tag und Nacht verfolgen!

Aber der Nachbar hatte ja gelacht und behauptet, das sei Unsinn. In der Welt geschahen wohl noch ganz andere Dinge, und nur so ein dummer Bauernbursche wie er konnte sich wegen solcher Kleinigkeiten Gedanken machen.

Und wieder rauschten die Mühlräder am schäumenden Waldbache und das weiße Schindeldach des neuen Wohnhauses leuchtete aus dem frischen Grün ...

Die Arbeit wollte Andreas heute gar nicht von der Hand gehen. Ihm war, als sei er plötzlich alt und kraftlos geworden, als hätte seine Axt keinen Schwung, sein Spaten keine Schärfe. Wie fest saßen doch die Wurzeln in dem sumpfigen Erdboden, wie unlösbar hielten sie einander umklammert! War es denn früher auch so schwer gewesen, sie herauszureißen? Oder wollten sie ihm heute nur zeigen, daß er unnütz seine Zeit bei ihnen verlor, daß er sich für nichts und wieder nichts plagte und mühte?

Der alte Gailis hatte es bald heraus, daß es mit seinem Herrn nicht war wie sonst, und manch besorgter, forschender Blick flog aus seinen treuherzigen hellen Augen zu Andreas hinüber. Endlich entschloß er sich zu der Frage:

»Wirt, fehlt Euch was? Ich seh', Ihr seid heut' nicht so recht bei Kräften, – ich hab' Euch oft genug gewarnt, daß Ihr Euch einen Schaden antun werdet.«

»Mir fehlt nichts, Gailis.«

»Wißt Ihr, meine Alte hat so einen Kräutertee, – ich weiß nicht, was für Kräuter es sind, sie hat sie in der Johannisnacht gepflückt, – wenn man auf diesen Tee ein Glas Branntwein schüttet, – das gibt ein ausgezeichnetes Mittel gegen Überanstrengung und Müdigkeit und so. Ich selbst hab's schon oft erprobt. Ich sag' Euch, Wirt, neue Kraft fühlt man nach jedem Schluck! Ich werd' meiner Alten sagen, daß sie Euch ein Gläschen davon geben soll.«

»Danke, Vater Gailis,« erwiderte Andreas kurz, »ich bin wirklich ganz gesund.«

Gailis aber glaubte ihm nicht und dachte sich: er wird sich gestern beim Heben der großen Birkenwurzel zu viel getan haben. Er will's nur nicht eingestehen, die jungen Burschen wollen so was ja nie zugeben, – als wenn was dabei wäre! Meine Alte soll ihm nur den Trank richten, der wird ihm schon wieder aufhelfen. Übrigens – warum war denn der Nachbar heut' in aller Früh ins Haus gekommen und was hatte er gar so lange mit dem Wirte zu sprechen gehabt?

Gailis wagte eine Frage und Andreas antwortete etwas zögernd: »Der Nachbar? Na ja – hm, – ich schulde ihm das Geld – du weißt ja – damals zum Pferdekauf – die sechzig Rubel –«

»Aha! Da will er's jetzt wohl zurück haben? Ja, ja, mit seinem Reichtum soll's auch nicht gar weit her sein, man hört so mancherlei. Er kann halt das Kartenspielen nicht lassen. Es heißt, in letzter Zeit habe er zweimal große Summen verspielt, einmal in Riga, das andere Mal hier im Kruge. Und Dalges Witwe verlangt nun auch das Geld zurück, das ihr Mann ihm zur Aufbewahrung gegeben hat; man sagt, die Sache soll sogar vors Gericht kommen –«

»Ich kann ihm jetzt nichts zurückzahlen,« unterbrach Andreas den Alten, »er muß schon noch warten. Aber vorwärts, Vater Gailis, daß wir noch ein Stück rein kriegen, ehe der Frost kommt.«

Und dann arbeiteten sie schweigend weiter.

Es vergingen ein paar Tage, einer so grau und so trüb wie der andere. Seltsam, nicht nur im Moor, sondern auch daheim erschien dem jungen Waldhofbauern jetzt alles viel stiller, viel unfreundlicher als bisher. Er selbst war verdrießlich, wortkarg, so daß sein verändertes Wesen auch schon der Mutter aufgefallen war und sie ihn gefragt hatte, ob er krank sei oder Unannehmlichkeiten habe. Aber er behauptete immer wieder, ihm fehle nicht das geringste, und wurde schließlich ganz böse über »das ewige Gefrage«.

Gailis blieb dabei, daß sein Herr irgend ein Leiden verheimliche, und am Sonntag Morgen, als Andreas noch im Bette lag, trat der Alte mit einem Gläschen in der Hand ins Zimmer, langsam und vorsichtig, um keinen Tropfen des Zaubertranks zu verschütten, und sagte mit gutmütigem Lächeln:

»Trinkt nur, Wirt, Ihr werdet sehen, wie gut das tut.«

Andreas wollte ungeduldig abwehren, aber als er dem liebevoll besorgten Blick des braven Alten begegnete, erwiderte er freundlich:

»Trink lieber selbst, Vater Gailis! Es wird dir mehr nützen als mir.«

Doch Gailis bestand auf seinem Willen und war ganz unglücklich, daß Andreas von dem heilsamen Trank nicht wenigstens kosten wollte; betrübt sah er auf seinen Herrn nieder und die abgearbeitete, sehnige Hand, die das Gläschen hielt, begann leise zu zittern. Andreas bemerkte das, richtete sich auf und sagte:

»Na, also, wenn du durchaus willst –! Gib nur her!« Er stürzte den Kräuterschnaps hinunter und verzog das Gesicht; »brrr, Vater Gailis,« lachte er, »was du mir da für bitteres Zeugs zu schlucken gibst! Das brennt ja wie Feuer!«

Des Alten braunes Gesicht bedeckte sich vor Freude mit unzähligen Schmunzelfältchen.

»Ich hab's ja gesagt,« meinte er ganz stolz, »in Euch steckt irgend eine Krankheit, denn diese Arznei brennt nur dann, wenn sie an eine kranke Stelle kommt. Aber nun wird's auch gleich gut werden.« Zufrieden lächelnd ging er mit dem leeren Gläschen zur Tür hinaus.

Doch das Zaubertränklein half dem Waldhofbauern nicht. Er blieb still und verstimmt und kümmerte sich nicht einmal um die Bücher, hinter denen er sonst den lieben langen Sonntag zu sitzen pflegte. Auf dem Rücken liegend, starrte er nachdenklich zur Decke empor.

Am Nachmittage fragte Gailis in voller Zuversicht: »Na, fühlt Ihr Euch nicht schon bedeutend besser, Wirt?«

»Ja, ich glaube, mir ist wohler,« erwiderte Andreas zu des Alten großer Beruhigung, dann ging er – wie um allen weiteren Fragen auszuweichen – hinaus, schritt den Feldweg entlang bis zum Kiefernhügel und schaute prüfend über die altbekannte Gegend hin. Wollte er sich vielleicht überzeugen, ob drunten an den Bach wirklich eine Mühle gehöre und ob Sihle nicht doch einen zu hohen Preis für seinen Wald fordere?

Am Abend erinnerte Andreas sich, daß er wegen einiger Kleinigkeiten zum Kaufmann hinüber mußte. Gailis riet ihm, bei der Gelegenheit im Kruge ein Fläschchen Schnaps zu kaufen, denn seine Alte habe zwar noch etwas von dem Kräutertee, aber keinen Branntwein mehr und man müsse die Arznei doch für alle Fälle im Hause haben, der Wirt würde wohl noch ein Gläschen brauchen.

»Laß nur, Vater Gailis,« meinte Andreas, »diesmal wird es wohl von selber wieder gut werden!«

Beim Kaufmann traf Andreas ganz unerwartet mit Sihle zusammen, der ihn liebenswürdig aufforderte, mit ihm in den gegenüberliegenden Krug einzutreten; sie könnten ja eine Flasche Bier leeren und sich dann zusammen auf den Heimweg machen; Andreas willigte ein und folgte dem Nachbarn in ein kleines Stübchen, in dem sie die einzigen Gäste waren. Sihle ließ Bier bringen, füllte die Gläser einmal und noch einmal und immer wieder, ohne auf die Einwendungen des Waldhofbauern zu hören, bis dieser erklärte, nun aufbrechen zu müssen. Dann wurde Sihle ganz böse, behauptete, Andreas wolle nur den Tugendbold spielen, oder fürchte er, der baumstarke junge Bursche, sich wirklich vor ein paar Flaschen Bier? Heutzutage müsse ein Mann doch einen guten Schluck vertragen; wollte er denn Zeit seines Lebens das Muttersöhnchen bleiben, das vor allem zurückscheute, was andere Burschen unbedenklich taten?

Andreas stieg das Blut zu Kopfe und seine Gedanken verwirrten sich. Er trank und stieß nun auch seinerseits immer wieder mit seinem Partner an. Sihle war so freundlich und lustig, wie er ihn noch nie gesehen hatte, redete von diesem und jenem und kam schließlich ganz wie zufällig auf die Mühle zu sprechen, die Andreas bauen wollte. Einen besseren Platz dazu konnte man weit und breit nicht finden, meinte er, der Waldbach habe grade dort das richtige Gefälle und die genügende Menge Wassers, – kurz und gut, vier bis fünf Hunderter im Jahr werde die Mühle ganz sicher eintragen, darauf wolle er schwören, und das Geld zum Bau werde leicht zu beschaffen sein, denn wer würde für ein so sicheres Geschäft nicht sein Geld hergeben? Er selbst wolle gern mit dazu beitragen, schon um so in nächster Nähe einen rechtschaffenen Müller zu wissen, während er jetzt wer weiß wie weit mit seinem Korn fahren müsse.

Lindes Augen glänzten. Auch er sprach bunt durcheinander, denn er hatte einen tüchtigen Rausch, den ersten in seinem Leben. Sihle aber hörte nicht auf, frisches Bier zu bestellen, und sie tranken und tranken. Andreas merkte wohl, daß er nicht mehr klar im Kopfe war, auch fühlte er körperliches Unbehagen, doch die Kehle war ihm so trocken und brennend, daß er immer von neuem trinken mußte. Was alles er zusammengesprochen hatte, wußte er später nicht mehr; er erinnerte sich nur, daß auch von der unangenehmen Geldgeschichte zwischen Dalge und Sihle die Rede gewesen war und daß Sihle ganz sorglos und lachend davon gesprochen hatte, wie einer, dem es ganz lächerlich erschien, daß er sich mit solchen Dummheiten abgeben mußte, und daß er, Andreas, ihm in allem zugestimmt hatte.

»Geh'n wir heim, ich kann nicht mehr!« hatte Andreas schließlich mit schwerer Zunge gelallt; ihm war sehr schlecht zumute gewesen. Dann waren sie über den kleinen Fußpfad zwischen den Feldern nach Hause gegangen; Andreas hatte sich Mühe gegeben, sich gerade zu halten, hatte es aber doch nicht verhindern können, daß er bald nach rechts, bald nach links gestolpert war und sich zuweilen schwer auf Sihles Schulter gestützt hatte. Wann und wo sie sich getrennt hatten, wußte er nicht; beim Eintreten in die Stube hatte er einen Stuhl umgeworfen und die Mutter hatte ihm von ihrem Bett aus zugerufen, auf dem Tisch stehe sein Nachtessen. Aber er hatte nichts essen können, hatte sich auf sein Lager geworfen und war sofort in schweren Schlaf versunken.

Am andern Morgen hatte Andreas stechendes Kopfweh und die Glieder waren ihm so schwer, daß er am liebsten im Bett geblieben wäre, aber er wollte es der Mutter nicht zeigen, wie es um ihn stand. So erhob er sich denn stöhnend, kleidete sich an und machte sich bereit, zur Arbeit zu gehen. Da kam die Mutter herein, warf einen besorgten Blick auf sein blasses Gesicht und fragte:

»Wo warst du denn gestern abend so lange, mein Sohn?«

Andreas zögerte mit der Antwort.

»Warst du im Kruge, Andreas?« fragte die Mutter wieder. Lügen mochte er nicht, so brummte er denn, ja, er sei für ein Weilchen hineingegangen. Er merkte recht gut, daß die Mutter irgend etwas auf dem Herzen hatte, und schämte sich sehr, als er ihren traurigen Blick auf sich ruhen fühlte.

Nach einigem Schweigen erzählte die Mutter, gestern abend sei die Witwe Dalge mit ihrem kleinen Mädchen dagewesen und habe unter bitteren Tränen geklagt, daß Sihle sie um ihr kleines Erbteil betrügen wolle.

»Du sollst einmal dabei gewesen sein, als Sihle mit dem verstorbenen Dalge Geldangelegenheiten geordnet hat, und von dir erwartet sie daher Hilfe. Sihle hat zwar behauptet, du würdest zu seinen Gunsten aussagen, aber sie will das nicht glauben,« schloß die Mutter ihren Bericht. Andreas erwiderte kein Wort. Da begann die Alte wieder:

»Der Sihle muß doch ein schlechter Mensch sein! Die Frau wird doch kein Geld von ihm verlangen, wenn sie kein Recht dazu hat. Sie hat so geweint, die Arme! – Was weißt du von der Sache, mein Sohn?«

Diesmal antwortete Andreas, er sei in der Tat einmal dabei gewesen, als Dalge Geld von Sihle empfangen habe, weiter wisse er nichts. Auf genauere Erklärungen ließe er sich nicht ein und die Mutter ging traurig aus dem Zimmer.

Andreas ging auch heute mit dem alten Gailis ins Moor, aber die Arbeit fiel ihm schwerer als je und der Kopf schmerzte ihm bei jeder Bewegung so, daß er die größte Lust hatte, die Arbeit fortzuwerfen, sich in der Scheune im Heu niederzulegen und ganz still dazuliegen, ohne an etwas zu denken. Aber er schämte sich vor sich selber, vor Gailis, vor der ganzen Welt. Ach, wie war das Moor heute häßlich und düster, wie war dies Hacken und Graben ermüdend und unangenehm! Wie schön wäre es doch, hier ein paar Taglöhner arbeiten zu lassen, und selbst etwas anderes zu tun, etwas Reineres, Bequemeres! – Und wieder hörte er in der Ferne die Mühlwasser rauschen ...

Außer durch die schwere Arbeit und das körperliche Unbehagen fühlte Andreas sich durch den Gedanken bedrückt, daß er gestern betrunken gewesen war. Ein Glück, daß ihn niemand gesehen hatte, was hätten sonst die Leute dazu gesagt? »Der Waldhofbauer sitzt auch schon im Kruge,« hätte es geheißen, »und gar in Sihles Gesellschaft. Er ist jetzt überhaupt so befreundet mit dem, sitzt stundenlang mit ihm beim Bier!«

Was hatte Sihle doch über die Zeugenaussage gesagt und was hatte er, Andreas, darauf geantwortet? Hatte er nicht am Ende gar versprochen, gegen die arme Witwe zu zeugen? – Ach was, Sihle mußte ja wissen, was er tat. Man durfte auch nicht so ängstlich sein auf dieser Welt; andere Leute waren gewiß nicht so vorsichtig.

Und lauter und lauter klapperten die Mühlräder am Waldbache ...

Wenn Gailis bisher noch nicht ganz davon überzeugt gewesen war, daß sein Herr sich »überhoben« hatte, heute wurde es ihm zur Gewißheit. Konnte ein Mensch sich ohne Grund in wenigen Tagen so verändern? Lange hatte der Alte kopfschüttelnd auf Andreas geblickt, endlich bezwang er sich nicht mehr und begann ein Gespräch:

»Wirt, habt Ihr gestern meinen Rat befolgt?«

»Rat? welchen Rat, Vater Gailis?«

»Ich meine, ob Ihr den Branntwein gekauft habt, damit meine Alte Euch die Arznei bereite?«

»Ich hab's vergessen, mein Lieber,« erwiderte Andreas mit mattem Lächeln.

»Da haben wir's!« rief Gailis ärgerlich aus; »daß Ihr doch gar nicht an Eure Gesundheit denken wollt! Wenn's zu spät sein wird, werdet Ihr's bedauern.« Und dem jungen Bauern blieb nichts anderes übrig, als dem Alten zu versprechen, das nächste Mal werde er ganz bestimmt an die Arznei denken.

Nach dem Mittagessen legte Andreas sich nieder; er wollte ein wenig schlummern, vielleicht, daß ihm dann wohler würde. Gailis aber stopfte seine Pfeife und setzte sich zur alten Wirtin auf die Bank neben dem Ofen.

»Ihr solltet mit ihm reden, Frau Wirtin,« sagte er leise, mit dem Pfeifenstiel auf die Tür zu Andreas Zimmer weisend; »ihm fehlt weiter nichts, als daß er sich überhoben hat. Wenn ich davon anfange, lacht er mich aus. Die jungen Leute sind nu 'mal so. Die wollen nur ihrem eigenen Kopf folgen. Von einem Arzt wird er nichts hören wollen, wenn er also wenigstens die Arznei von meiner Alten nehmen tät'!«

Die Wirtin gab ihm recht, versprach, mit dem Sohne darüber zu reden, und ging zu Andreas hinein. Der lag wachend auf seinem Bette; so sehr er sich nach Schlaf sehnte, er konnte nicht einschlummern. Verworrene Gedanken quälten ihn, das Leben erschien ihm unsäglich öde und kalt, ohne Freude, ohne Schönheit. War es denn überhaupt der Mühe wert, so zu kämpfen und sich zu quälen? Wie mancher andere kam ohne jede Anstrengung zu Hab und Gut und ließ sich's wohlgehen, nur er mußte sich vom Morgen bis zum Abend plagen, ohne irgend welchen Erfolg zu sehen. Der Nachbar hatte vielleicht doch recht – – –.

Da trat die Mutter ins Zimmer und setzte sich zu ihm auf den Rand des Bettes. Sie sah nachdenklich und traurig aus, wie sie so vor ihm saß, den grauhaarigen Kopf ein wenig vorgeneigt, die abgearbeiteten, welken Hände im Schoß gefaltet. Andreas betrachtete sie von der Seite. Wie alt sie doch schon war, seine liebe Mutter! Wieviel Runzeln und Falten das gutmütige Gesicht durchzogen! Und wie gebeugt sie dasaß, als trage sie eine unsichtbare, aber schwere Last. Jetzt wandte sie sich ihm zu.

»Was fehlt dir, mein Junge?« fragte sie leise.

»Mir? Nichts, Mutter.«

»Bist du krank?«

»Nein doch, nur der Kopf schmerzt mich ein wenig; ich hab' gestern abend ein paar Glas Bier getrunken, – vielleicht kommt es daher.«

Die Mutter seufzte. Andreas wußte nichts weiter zu sagen. Die Mutter tat ihm herzlich leid, aber es war ihm auch unangenehm, daß sie sich um ihn so bekümmerte, ihn so ausfragte; was dachte sie wohl im Grunde von ihm?

»Andreas, mir ist, als stehe uns etwas Böses bevor,« sagte die alte Frau plötzlich und er sah, daß ihre Hände leise zitterten.

»Was Böses? Was denn? Ach Mutter, was du doch redest! Sei doch nicht so traurig, Mütterchen! Was hast du denn für einen Grund?«

»Ich weiß nicht, mein Junge; mir ist das Herz so schwer, so schrecklich schwer.« Ihre Schultern zuckten und eine große Träne rollte langsam über die runzelige Wange und fiel auf die grobe, graue Wolljacke, wo sie in viele winzige, glänzende Perlen zersprang.

»Aber Mütterchen! Nun weinst du gar!« rief Andreas ganz bestürzt, »warum denn nur?« Sein Herz zog sich so schmerzlich zusammen, daß er am liebsten selbst zu weinen angefangen hätte.

»Ich werd' ja nicht weinen, mein Junge,« schluchzte die alte Frau, »ich wollte nur – einmal mit dir reden – aber schlaf jetzt lieber, erhole dich!« Und sie legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte ihn sanft nieder, als er sich erheben wollte. Doch Andreas machte sich frei und sagte:

»Nein, Mutter, ich kann ja doch nicht einschlafen. Ich geh' lieber fort.« Er ging zur Tür hinaus, die Mutter aber schlug die Schürze vor die Augen und weinte bitterlich.

»Sie sorgt sich wegen der dummen Geschichte mit Sihle,« sagte sich der junge Bauer, als er wieder mit Axt und Spaten im Moor hantierte; »die Witwe Dalge wird ihr mehr erzählt haben, als sie mir sagt.«

Ein eigenartiges Gefühl überkam ihn: teils Mitleid, teils Ärger, und er hieb auf die verkrüppelten Weidenstümpfe los, daß Gailis schon wieder zu zweifeln begann, ob er sich wirklich »überhoben« habe; oder hatte vielleicht das eine Gläschen des Wundertrankes schon geholfen? Der letztere Gedanke war ihm sehr angenehm und er lächelte förmlich stolz, wenn er auf seinen Herrn blickte. Dessen Kraft aber hielt nicht lange vor: bald wurden die Axthiebe wieder schwächer und Andreas machte immer längere Arbeitspausen, während welcher er verdrossen vor sich hinstarrte. Und so blieb es auch an den folgenden Tagen.

Es war Samstag Abend geworden. Als Andreas und Gailis mit der Arbeit aufhörten, um heimzugehen, kam plötzlich Sihle auf sie zu. Er und der Waldhofbauer blieben zurück, während Gailis allein dem Hofe zuschritt. Da tauchte in dem treuen Alten ein neuer Gedanke auf und er glaubte plötzlich zu erraten, was an der Verstimmung seines Herrn die Schuld trug: er war dem Nachbarn ja Geld schuldig! Wahrscheinlich drängte der nun mit der Bezahlung und daher war der Waldhofbauer so niedergeschlagen! Aber war das nun nicht dumm von ihm? Konnte er denn nicht mit ihm, Gailis, offen darüber reden? Da war doch leicht zu helfen! – Und der Alte nahm sich vor, sobald als möglich selbst von der Sache anzufangen.

Die Mutter hatte von dem Knecht erfahren, wer sich auf dem Heimweg ihrem Sohne zugesellt hatte. Sie hätte gern ein Gespräch mit Andreas begonnen, aber der schien den ganzen Abend in seine Bücher vertieft zu sein, las und machte sich Notizen; plötzlich löschte er seine Lampe aus und ging zu Bett. Aber lange noch hörte sie, wie er sich auf seinem Lager hin und her wälzte.

Am nächsten Morgen, gleich nach dem Frühstück, kam die Witwe Dalge auf den Waldhof. Aber ihre Hoffnung, den Bauern selbst anzutreffen, war wieder vergeblich gewesen: er war soeben zur Kirche gefahren. Frau Dalge hatte gerötete Augen und sah recht verzagt drein; die alte Frau Linde führte sie in das Zimmer des Sohnes und dort sprachen und weinten sie lange miteinander.

»Nein, nein, es ist nicht so, wie Ihr glaubt, Mutter Linde!« sagte die Witwe schluchzend; »er soll nicht behaupten, daß er das Weitere nicht wisse, er weiß es recht gut! Mein armer Mann hat mir damals doch gleich alles erzählt, jedes Wort, das in Gegenwart des Waldhofbauern geredet worden ist. Aber Sihle wird ihn wohl auf seine Seite gekriegt haben.«

»Ach Gott, ist's denn möglich?« jammerte die alte Frau, »ich bin ja ganz außer mir!«

»Es ist, wie ich sage,« behauptete die andere; »nehmt ihn nur ernstlich vor, ermahnt ihn, daß er vom unrechten Weg ablasse.«

»Wie soll ich das anfangen? Gegen mich ist er immer lieb und gut gewesen, ich kann ihm nicht den geringsten Vorwurf machen. Ich hab' ja auch schon mit ihm gesprochen, aber er sagt, er wisse von Eurer Angelegenheit nichts.«

»Er will also helfen, eine schuldlose Witwe zu bestehlen? Glaubt er vielleicht, daß meine Tränen ihm Segen bringen werden? Daß mein Geld ihm von Nutzen sein wird?« jammerte Frau Dalge.

»Von wem sprecht Ihr?« fuhr die Waldhofbäuerin zornig auf; »mein Sohn hat noch niemals gestohlen und wird auch Euch nicht bestehlen! Wie könnt Ihr's wagen, so was zu behaupten?«

Die andere aber ließ sich nicht Einhalt gebieten und redete sich alles vom Herzen herunter, was sie drückte. Nur allmählich beruhigten sich beide; die Waldhofbäuerin übernahm es, den Sohn noch einmal auszufragen und der Nachbarin dann mitzuteilen, ob Sihle die Wahrheit sprach, wenn er behauptete, Andreas werde vor Gericht zu seinen Gunsten aussagen.

Bald nachdem Andreas aus der Kirche heimgekehrt war, trat die Mutter in sein Zimmer. Er wußte, was sie von ihm wollte, noch ehe sie ein Wort gesagt hatte. Als sie dann damit begann, daß die Nachbarin wieder dagewesen sei, ging er schweigend zur Tür hinaus und setzte sich draußen im Hof auf einem Holzstoß nieder. Da trat der alte Gailis zu ihm, sprach von diesem und jenem, von der morgigen Arbeit, vom Wetter, von guten und schlechten Menschen und näherte sich nur so ganz allmählich dem Kernpunkt seiner Rede.

»Nicht wahr, Wirt, der Nachbar verlangt sein Geld von Euch zurück?« fragte er schließlich fast verlegen.

Andreas sah den Alten erstaunt an; was wollte denn der wieder von ihm? »Ja–a,« antwortete er dann gedehnt, »sagte ich's dir nicht schon neulich?«

»Ja, ja, die sechzig Rubel,« meinte Gailis bedächtig; »Wirt, – ich – hätte wohl auch so viel, – es liegt bei meiner Alten in der Lade, – wenn Ihr wollt, – ich könnte Euch wohl aus der Verlegenheit helfen. Bei Euch ist's mir ja sicher.«

»Aber Vater Gailis, ich stehe ja ohnedies in deiner Schuld, du hast ja noch nicht einmal den fälligen Lohn erhalten –«

»Ach, wer spricht denn davon, Wirt! Wir können ja warten, – das sagt meine Alte auch. Mir gefällt das nicht, daß der Sihle Euch so drängt, und – daß Ihr jetzt immer traurig seid.«

Andreas war, als winke ihm unerwartete Rettung, als könne die Sache, die ihn so quälte, nun eine andere Wendung nehmen; daher widersprach er nicht, als Gailis jetzt seine Frau heranrief, die sich grade in der Tür des Kuhstalles zeigte. Langsam, die Hände in die blaue Arbeitsschürze gewickelt, kam die Alte näher.

»Du, Alte,« sagte Gailis, »wir sprachen ja gestern abend davon, weißt du, von dem Gelde, – bring es doch her!« Mit kurzem Kopfnicken ging die Frau ins Haus, um bald darauf mit einigen Papierscheinen wiederzukommen, die sie dem Bauern schweigend hinhielt.

»Aber –« meinte Andreas, indem er zögernd die Scheine einsteckte, »wir haben keinen Zeugen, daß Ihr mir das Geld gegeben habt.«

»Ach, was Ihr für Geschichten macht!« Gailis lachte belustigt auf; »keinen Zeugen! Und den dort oben?« Er wies gen Himmel. »Rechtschaffene Leute brauchen keinen andern Zeugen als den!«

»Na, immer ist das auch nicht so,« sagte jetzt bedächtig und mit einer gewissen Wichtigkeit die Frau; »denk nur an Nachbar Sihle, Mann! Wenn die arme Dalge keinen Zeugen schaffen kann, kriegt sie von dem keinen Kopeken.«

»Was du zusammensprichst!« rief der Greis ärgerlich, »Sihle! so was kann der tun, aber in unserm Fall kann davon doch keine Rede sein! Ich kenne unsern Wirt seit seinen Knabenjahren, ich hab' auch seinen Vater gekannt. Der Vater war kein Betrüger, und der Sohn wird auch niemals zum Betrüger werden.«

Andreas fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg; er bückte sich, als wolle er einen kleinen Stein vom Boden aufheben. Als er sich aufrichtete, waren der Knecht und dessen Frau bereits im Hause verschwunden.

Andreas versank wieder in Grübeln. Was war das für ein dummes Gefühl, das ihn plötzlich übermannt hatte und das er noch nicht loswerden konnte? – Wie das alles unbehaglich war! Im Zimmer saß wohl die Mutter und weinte ...

Er stand auf, schlenderte langsam zum Hofe hinaus und schlug gegen seinen Willen den Weg ins Moor ein. Er hatte dort zwar nichts zu suchen heute am Sonntage, aber schließlich – irgendwo mußte er doch bleiben.

Die Dämmerung breitete sich grau und schwer über der Gegend aus, kalter Wind blies dem einsamen Wanderer ins Gesicht. Am Rande des Moors blieb Andreas stehen. Schwarz streckten sich ihm die Wurzeln der ausgerissenen Birkenbäumchen entgegen, während die Wipfel auf dem nassen, schlammigen Boden lagen: die weißen Stämme erschienen ihm wie in Leintücher gehüllte Tote. Wieviel Arbeit hier doch noch zu leisten war! Wieviel Kraft und Geduld das noch kosten würde! Ja, wenn die Mühle gebaut werden könnte! Die Mühlräder, die Mühlräder, wie klapperten sie wieder so verlockend, wie rauschte das Wasser so verheißungsvoll dort drüben am Kiefernhügel! Ließen die Luftschlösser sich denn nicht verwirklichen? O, doch, aber wann? – Schließlich, – die Mühle würde ja auch nicht so im Handumdrehen zu erbauen sein, denn wenn Sihle ihm auch das Land billig verkaufen wollte, es gehörte doch noch vieles andere dazu.

Billig verkaufen? fragte ihn da plötzlich sein Gewissen; hast du vergessen, welchen Preis er von dir fordert? Und du warst nahe dran, ihn zu zahlen!

Andreas zitterte am ganzen Leibe. Tief im Herzen brannte die Scham. Er hatte Luftschlösser gebaut, während eine arme Witwe mit ihrem Kinde Tränen der Verzweiflung weinte. Und was hätte seine alte Mutter gesagt, wenn die Leute ihr erzählt hätten, daß ihr einziger Sohn falsches Zeugnis abgelegt habe, damit der Nachbar ihm das Land verkaufe? Er merkte es ihr ja an, daß sie sich jetzt schon quälte, daß sie um ihn bangte, sie wollte es ihm nur nicht ins Gesicht sagen. Und wie der brave, alte Knecht eben mit ihm gesprochen hatte, so voll Vertrauen, so überzeugt von seiner Rechtschaffenheit! Wenn der geahnt hätte, mit was für Gedanken sein Wirt umherging, so hätte er sich wohl gehütet, ihm seine kleinen Ersparnisse anzubieten. Das Allerschwerste aber wäre doch gewesen, mit sich selber fertig zu werden. Die andern alle konnten das Geschehene ja vergessen, vielleicht auch verzeihen, – aber er selbst, er selbst? Würde er es jemals vergessen können? Was war nur in ihn gefahren, daß er das alles nicht früher bedacht hatte?

Andreas setzte sich auf einen Baumstumpf, starrte ins schwarze Moor und überlegte. Dann stand er entschlossen auf und ging festen Schrittes zum Nachbarhof hinüber.

Ein paar Stunden waren verstrichen, als der Waldhofbauer sich abermals dem Moor näherte. Er wußte auch jetzt nicht, was er hier wollte, aber es zog ihn her. Sein Gang war leicht, seine kräftige Gestalt hochaufgerichtet und ein froher Glanz brach aus seinen Augen, als er jetzt zu den ausgegrabenen Bäumen hinübersah. Am liebsten hätte er trotz der späten Stunde die Axt und den Spaten geholt und zu arbeiten angefangen. Ach, wie sollte es jetzt wieder vorwärtsgehen, wie wollte er sich mühen und plagen und nicht aufhören, bis das Moor in blühendes Ackerland verwandelt war. Was tat es, daß Sihle ihn einen Dummkopf gescholten und ihm erklärt hatte, er werde ihm das Land am Waldbach nun nie und nimmer verkaufen, auch um tausend Rubel nicht. Andreas hatte dem Nachbarn grade heraus seine Meinung gesagt, hatte seine Schuld bezahlt und war nun frei! Die Mühlräder waren zwar verstummt, aber er war frei, frei!

Die Nacht war schon hereingebrochen, als Andreas sich auf den Heimweg machte. Da sank leise und langsam etwas Weißes vor ihm nieder, und da – und dort – und hier – Schneeflocken! Der erste Schnee! Andreas atmete in vollen Zügen die scharfe, erfrischende Luft ein; ihm war mit einemmal so friedlich und froh zumute, so wie in seinen Knabenjahren, wenn er jubelnd in den ersten Schnee hinausgestürmt war, um Schneeballen zu werfen.

Daheim angelangt, ging er noch eine Weile auf dem Hofe hin und her. Die Luft wurde kälter, der Schnee fiel dicht und dichter und knirschte schon unter den Füßen. Endlich trat Andreas leise ins Haus, setzte sich an seinen Tisch und begann zu lesen, er hatte ja in den letzten Tagen nicht einmal die Zeitungen durchgesehen. Zuweilen warf er einen fröhlichen Blick auf die dunklen Fensterscheiben, an denen der glitzernde Neuschnee klebte. Es ging schon gegen Morgen, als die Mutter, die er im Schlafe hatte stöhnen und seufzen hören, leise in sein Zimmer trat und ihn besorgt fragte:

»Gehst du denn nicht schlafen, mein Junge? Es wird ja schon bald tagen!«

Andreas hob den Kopf und sah der Mutter froh in die traurigen Augen.

»Mütterchen,« flüsterte er weich, indem er ihren grauen Kopf zu sich herabzog, »es ist alles gut geworden.«

Und dann bat er sie leise, während ihm die heiße Schamröte noch einmal ins Gesicht stieg, sie möge der Witwe Dalge doch gleich heute sagen, daß er vor Gericht für sie eintreten werde. Die Mutter legte still den Arm um seinen Hals, schmiegte ihre welke Wange an sein glühendes Gesicht und sagte nur:

»Ich wußte ja, mein Junge, daß du nicht anders handeln würdest, aber ich habe viel geweint und gebetet.«

Beide schwiegen eine Weile, bis die Mutter sich wieder erinnerte, daß Andreas ja noch gar nicht geschlafen hatte; sie bat ihn, sich doch wenigstens auf ein Stündchen noch niederzulegen. Andreas sträubte sich zuerst; er sei gar nicht müde, und nun müsse er doch gleich an die Arbeit, es gelte jetzt fleißig sein im Moor, ehe der Boden im Winterfrost erstarrte; endlich aber gab er den Bitten der Mutter nach, warf sich aufs Bett und lag bald in ruhigem, stärkendem Schlafe. Die Mutter freilich ging nicht mehr zu Bett; sie nahm ihr Strickzeug, setzte sich an den Tisch, arbeitete und warf von Zeit zu Zeit einen liebevollen Blick auf den Schläfer. Auf dem alten, runzeligen Gesicht lag tiefer Frieden.

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