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Lange Reihe 42

Dem Haus Lange Reihe 42 gegenüber führt ein großer, feuchter Tordurchgang in ein Gewirr von Höfen und Hinterhäusern. Die Kinder lärmen durch den Flur, aus einem oberen Stockwerk keift eine weibliche Stimme. Vor dem Tor stehen meist Arbeiterfrauen, Säuglinge an der Brust, und besprechen das Neueste. Aber heute sitzen nur junge Burschen da.

Einer spielt auf einer Mundharmonika, und eine Stimme grölt dazu: »... denn deine Li-hibe war Heuchelei. Hier ist der Gesangverein »Harmonie« versammelt, er ist tatsächlich im Vereinsregister eingetragen, und die Mitglieder verkehren nur in ihren Stammlokalen. Jenen Sarkasmus, der über die Unsicherheit ihres Gewerbes hinweghelfen soll, brauchten die jungen Kerls nicht nur bei der Konstituierung ihres Schutzverbandes, alle Unternehmungen und Pläne werden mit derselben Schnoddrigkeit besprochen: Nur wenn sie wirklich an ein »Ding« herangehen, fällt dieser Ton, und in ernster Verbissenheit, hinter der die Angst lauert, wird »gearbeitet«. Dann herrscht jene gereizte Stimmung wie jetzt eben, und die sentimentale Melodie der Mundharmonika paßt sehr gut dazu.

»Hans steht Schmiere, und damit basta!« sagt Peter Moll und zieht an seiner kleinen Zigarre. Sein Gesicht ist gleichgültig, er scheint der Sache nicht viel Bedeutung beizumessen. Die anderen allerdings haben keine rechte Lust, widerspruchslos diesem schmalen blassen Jungen zu gehorchen.

»Brech dir man bloß keenen Zahn aus!« Der Kerl läuft ihm immer in die Quere, dieser kleine, flinke Kerl mit dem Boxergesicht, der sich dauernd seine Hosen hochzieht, als hätte er keine Hosenträger. »Weil deine Leute nicht wollen, soll Hans reinrutschen. So siehst du aus!«

Peter Moll sieht ihn gleichgültig an. »Ich würde dir raten, deine Finger von unseren Angelegenheiten zu lassen!« Der Kleine feixt, Peters Gesicht wird etwas röter, seine Stimme etwas lauter: »Du hast von unserer Kiste erfahren. Gut. Das wird den teuer zu stehen kommen, der seine Schnauze nicht gehalten hat.«

Der Kleine dreht sich um und krümmt sich vor Lachen. Die anderen spüren schon die saftige Bemerkung, die sich da vorbereitet, und beugen sich mit erwartungsvollen Gesichtern etwas vor.

Aber die Bemerkung kommt nicht. Der Kleine richtet sich auf, starrt plötzlich sehr ernst und etwas erstaunt auf die andere Straßenseite. Die anderen folgen seinem Blick, ja, das ist hier in der Langen Reihe wirklich ein seltener Genuß. Da drüben geht, sicher und unberührt, eine elegante Frau. Eine junge, elegante Frau. Ihr federnder, energischer Schritt hat keine Ähnlichkeit mit dem schleppend-müden Gang der Arbeiterfrauen. Es ist schon ziemlich dunkel, aber sie sehen noch das knappe blaue Kleid, die hellen Strümpfe, sie spüren den Duft, der diese fremde Frau umschwebt. Sie sieht nicht über die Straße, ihr blankes Gesicht betrachtet die Häuser zur Linken.

Peters Widersacher hat seinen Disput vergessen. Er wiederholt die Bewegung, die vor einer Weile streitlustig aussah und jetzt unternehmungslustig, er zieht seine Hosen hoch. »Die angle ich mir!«

Aber ehe er über die Straße gehen kann, pfeift ihn eine scharfe und völlig ungewohnte Stimme zurück: »Das Mädel gehört mir, Finger davon!«

Der Mundharmonikaspieler hört mitten im Lied auf und läßt den Mund offen. So was hat die Runde noch nicht erlebt. Und der Kleine bleibt tatsächlich stehen, schwer festzustellen, worüber er mehr erstaunt ist: über die ungewohnte Energie Peter Molls oder über das überraschende Verschwinden der jungen Dame im Hause Lange Reihe 42. Plötzlich rutscht die feindselige Stimmung wieder über in den Geselligkeitsverein »Harmonie«, die keifende Stimme einer Frau im Treppenhaus ist wieder zu hören, dann befiehlt Peter: »Los!«, laut und sicher, er hat einen kleinen Sieg errungen. Langsam trottet die kleine Schar durch den Torweg, an der Spitze ihr augenblicklicher Häuptling. Hat er eben die Freundin seines Bruders geschützt? Etwas anderes als Ritterlichkeit veranlaßte ihn, den kleinen Roscher, seinen Feind, zurückzupfeifen. Hm, Beate Angermund, das beschäftigt ihn augenblicklich mehr als der geplante Beutezug auf das Seidenhaus Trunk & Co. Was Paul Moll kann, kann Peter Moll noch allemal!

Roscher aber geht nicht mit den anderen durch den Torweg. Er gehört ja nicht zur »Harmonie«, und er hat wohlausgebildete Racheinstinkte. Langsam schlendert er nach der anderen Seite.

Beate aber, die nichts von jener Gefahr ahnt, von der sie hier bedroht ist, steigt die ausgetretenen Stufen hoch und riecht den abgestandenen Dunst der übervölkerten Wohnungen, den Dunst von Schlaf, Not, Schmutz. Im vierten Stock wohnen sechs Familien; ganz hinten, durch die Bodenluke verdeckt, hängt ein Zettel an der Tür. In merkwürdigen Buchstaben, als wären sie aus einem Buch oder aus der Zeitung abgepaust, steht darauf: Josef Winter.

Sie klopft, Kindergebrüll antwortet. Hinter der Tür erkundigt sich die Stimme einer Frau: »Wer ist draußen?«

»Beate Angermund.«

Frau Winter trocknet sich die nassen Hände an der Schürze ab, sie lacht.

»Bei uns ist es nicht gerade schön, das werden Sie sich schon denken können!«

Sie wischt mit einem nassen Fetzen die Linoleumdielen der Küche auf, eine zerschlissene und zerkratzte Diele. Wenig Möbel, viel Geschirr auf Ofen und Tisch, unaufgewaschen, Strümpfe auf der Leine, die quer durch die Stube gespannt ist. Der Schrank, Kommode, merkwürdig geschnitzte Stühle stehen fremd, etwas verbraucht und etwas hochmütig zwischen dem anderen Zeug, das selbst gefertigt ist oder billiger Warenhausramsch. Nur die Aluminiumtöpfe, schnurgerade ausgerichtet auf dem Sims der Größe nach, glänzen festlich. Über dem gebrechlichen Sofa hängt ein Muttergottesbild. Wie kommt das in die Stube dieser radikalen Arbeiterfamilie?

Beate wundert sich und möchte die kleine Frau fragen, warum das Bild aus Silber- und Goldfäden in diesem kleinen, dunklen Loch einen so bevorzugten Platz einnimmt. Sie muß sich auf das Sofa setzen, weil Frau Winter erst die Stube fertigwischen will, quietschend knicken die Sprungfedern zusammen, und das leichte Mädchen sinkt tief ein.

Die beiden Jungens, die hinter dem Kohlenkasten basteln, beachten sie nicht. Sie sehen manchmal mit einem scheuen Blick zu ihr herüber, dann bohren und schnitzen sie aber sofort eifrig weiter. Bei der Begrüßung mußten sie der fremden Dame ihre kleinen festen, schmutzigen Jungenshände hinhalten, sie taten das mit einem durchaus nicht freudigen, eher sogar mißtrauischen Gefühl.

»Ich wische erst mal fertig«, sagt Martha Winkler.

Der Geruch trocknender Wäsche, Muff alter Windeln, schlechter Brotdunst stockt im Zimmer. Beate erstickt fast. Auf ihren Wunsch öffnet die Frau das Fenster. Die Dachrinne läuft am Fenster vorüber, ein Mansardenzimmer. Drüben versperrt ein Fabrikgebäude jede Aussicht. Auf dem kleinen Dachvorsprung zwischen Fenster und Regenrinne sind Socken und Taschentücher auf eine Leine gespannt.

Auf der Straße sind die Laternen angezündet worden. Der Schein fällt bis hier oben hin. Im Zimmer brennt nur eine kleine Petroleumlampe. Sie steht auf der Ofenplatte, damit die Jungens etwas sehen können.

»Hat Paul heute Nachtschicht?« Die Frau läßt frisches Wasser in einen Eimer. Den einen Arm in die rechte Hüfte gestemmt, den anderen am Wasserhahn, wartet sie auf Antwort. Es ist, als hätte ich ihr das Stichwort in den Mund gelegt, denkt Beate.

»Eigentlich müßte er heute Nachtschicht haben, aber wenn es sich in den letzten Tagen geändert hat, dann weiß ich nicht Bescheid.« Sie holt tief Atem. »Denn Paul will mich nicht mehr sehen.«

»So? Habt ihr euch verkracht?«

Eine Doktorfrage, denkt Beate, und wenn ich lächeln kann, dann ist wohl alles auch schon wieder gut. Sie fühlt sich, untätig und die Hände im Schoß, auf diesem Sofa nicht mehr wohl. Ihr kommt der verrückte Einfall, sich in die Stube zu knien und aufzuwischen. Arbeiten, eine Aufgabe, ein Ziel haben, ja, damit überwindet man die Lethargie, die Schwermut, das Grübeln.

»Nein, verkracht eigentlich nicht. Ich wollte Ihnen mal die ganze Geschichte erzählen. Wischen Sie ruhig erst die Stube fertig.«

Frau Winter schwemmt das Wasser durch die Küche.

»Holen Sie sich den Jungen wieder, Fräulein. Sie kriegen keinen besseren. Und zeigen Sie ihm nicht, daß Sie was Feineres sind.«

Was Feineres? Habe ich mich so aufgespielt? Nein. Sie bückt sich zu den beiden Jungens, die etwas zur Seite rücken, sie anschielen und sich nicht stören lassen. Sie bauen einen Radioapparat. Das helle blonde Haar des kleineren schimmert gerade unter ihren Lippen. In einer anderen Stube schreit die kleine Schwester, dieselbe, die schon Beates Ankunft mit ihrer dünnen Stimme begleitet hat. Beate geht hinüber, im Schlafzimmer liegt das Kleinste, ihr krankhaft großer Kopf guckt unter dem dicken Überbett der Eltern hervor. Beate kann sich kaum umdrehen, so schmal ist das Zimmer.

»Andere Zimmer haben wir nicht«, ruft die Bergarbeiterfrau. Wenn ein Auto unten vorüberfährt, zittern die Wände wie jetzt eben. Vor der Tür hält ein Wagen.

»Sind Sie katholisch?« fragt Beate und zeigt auf das Muttergottesbild.

»Nee, wir sind schon lange nicht mehr in der Kirche. Das Bild haben wir noch von Josefs Eltern. Was sollen wir damit machen. Das können wir doch nicht wegschmeißen!« Sie zuckt mit den Achseln. »Und eigentlich ist es auch ganz schön.«

Draußen klopft es, Frau Winter geht hinaus. Die Tür wird geöffnet, die Jungens horchen gespannt. Schlurfen vieler Männerschuhe, dann eine leise Stimme, der furchtbare Schrei einer Frau, jemand fällt auf die Diele.

Beate stürzt zur Tür. Männer in dunklen Uniformen stehen im Gang. Sie weiß sofort, was passiert ist. In dem Vorsaalflur kauert Frau Winter neben einer Bahre. Beate muß sich an der Tür festhalten. Grubenunglück? Zeche Prinz Heinrich? Paul? Ein Sanitäter kommt in die Küche.

»Ist noch jemand verunglückt?« stammelt Beate.


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