Jakob Boßhart
Ein Rufer in der Wüste
Jakob Boßhart

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Fünfzehntes Kapitel

Begegnungen

Reinharts Freunde hatten ihn gebeten, vor seinen Feinden auf der Hut zu sein. Aber er achtete nicht auf ihre Warnung. Einst in seiner Kinderzeit wurde auf dem Golsterhof die Scheune inwendig herausgebrochen. Nur oben schwebte ein schmaler Balken durch den leeren Raum. Reinhart stieg im Knabenwagemut auf einer Leiter hinauf und schritt aufrecht über die schwindlige Brücke und zurück, hoch über der steinharten Tenne. Er merkte, daß ihm der Tod immer mit der Hand an der Ferse nachrückte, aber er empfand keine Furcht, es war ihm, er schreite durch die Luft, und sie trage ihn getreulich, weil er ihr traue. So auch war ihm jetzt. Er fühlte die Gefahr, aber scheute sie nicht.

Äußerlich wurde er immer stiller, ganz in sich gewendet, innerlich brannte er wie eine Flamme. Am Vormittag arbeitete er auf dem Bureau der Einwohnerarmenpflege, um sein Brot mit nützlicher Arbeit zu verdienen. Denn, daß jeder für die Gesamtheit Arbeit leiste, gehörte jetzt zu seinem Lebensgesetz, zu seinem Begriff von Solidarität. Nachmittags saß er an seinem wackeligen Miethaustischchen und schrieb seine Gedanken fiebernd zu Aufsätzen zusammen, die er an die Redaktionen der Zeitungen aller Farben verschickte. Es loderte in ihm das Feuer des Erleuchteten, des Apostels, des Weltbeglückers, des Narren. Die Aufsätze erschienen nirgends, sie wurden vom Korb verschlungen oder schlichen sich kleinlaut mit ein paar mageren Zeilen zum Verfasser zurück. Da drang er einmal in eine bürgerliche Parteiversammlung ein und benützte einen Augenblick, da die Debatte versandet war, um seine Gedanken über die Weltnot auszusprechen. Es entstand zuerst ein großes Erstaunen, dann hörte man die Abfertigung: »Das ist ja der junge Stapfer, der Weltverbesserer!« Bald war er wieder mit sich allein auf der Straße. »Die Parteien haben keinen Glauben, nicht einmal an sich selber, drum wollen sie mich nicht hören,« klagte er. Er kam sich vor wie ein Gefangener zwischen hohen Mauern: wohin er sich wendete, überall schlug er sich wund. Aber er wollte anrennen und immer wieder anrennen. Es galt ja die Rettung, wollte man ihn nicht hören, so sollte man ihn lesen. Er wollte all seine Glut in ein Buch zusammenpressen. Er aß kaum, und die Unruhe verzehrte ihn. Er fühlte es selber und sagte sich: »Ich bin nur ein Beispiel, ein Paradigma, und mein Los ist, abgewandelt zu werden.« Manchmal, wenn er an seiner Öllampe halb wach saß, hatte er Gesichte. Einst sah er sich an einen Galgen erhöht, das Blut floß ihm aus einer breiten Brustwunde. Ringsum stand viel Volk und staunte nach ihm. Einer erhob sich und schrie: »Erhöhen wir uns alle!« Und wirklich, jeder schlug unter Jubelrufen sein Kreuz auf, und fernher, aus den Wolken oder aus dem Gebirge, klang es vernehmlich: »Erlösung.« Ganz von Glück durchströmt wachte er auf und schrieb dann die ganze Nacht durch.

Zwischen die Tage der Glut schoben sich Tage der Asche. Er war dann wie ausgebrannt. Die Papierblätter, die vor ihm lagen, erschienen ihm wie leeres Stroh und erfüllten ihn mit Ekel. Er floh sein Zimmer und irrte mit blinden Augen durch die Straßen oder suchte Joseph Schmärzi auf, der den Sommer über in einer öffentlichen Anlage, die sich in der Gabelung zweier zusammenströmender Flüsse befand, arbeitete. Er sah Joseph zu, wie er den Rechen gelassen durch den Kies schleifte, den Rasen mit einem Maschinchen mähte, gefallenes Laub wie Glasscherben zusammenscheuerte. Einmal stand er unten auf der Landspitze und versenkte sich ins Wasser. Der Fluß, der aus dem See kam, war klar und blau, der andere, ein Bergler, trüb und wirr. Unvermischt flossen die zwei ungleichen Wanderer eine Zeitlang nebeneinander hin, nach und nach aber verbrüderten sie sich, und der trübe ging ganz im klaren auf.

»Die Klarheit wird immer Sieger sein,« dachte Reinhart. Das gab ihm wieder Mut, und er wollte nach Hause an den Schreibtisch eilen, von einer Bank, die auf der Landzunge unter einem Baume stand, erhob sich eine Dame und kam auf ihn zu, unentschlossen, wie im Zickzack. »Entschuldigen Sie, ich habe Sie gesehen, schon ein paarmal, hier an diesem Platz. Ich bin öfter hier, aber ich habe es noch nie gewagt.«

»Sie, Imma?« rief Reinhart und faßte ihre Hände. Sie war dem Weinen nahe. Sie setzten sich.

Seine erste Frage war, ob sie krank sei. Sie sah schwindsüchtig aus und klein, wie ein vierzehnjähriges Schürzchen.

»Ich hätte nicht fortgehen sollen,« klagte sie. »Ich schäme mich so.«

»Sie haben Vater Enzio verlassen?«

»Ich hielt es zu Hause nicht mehr aus. Die Welt hat mich verführt und dann bin ich mit ihm gegangen.«

Er begriff: »Mit Klas?«

»Ja, er hat mich doch geholt. Sie wissen von allem nichts? Seit er sich meinetwegen die Schnur um den Hals legte, hatte er Macht über mich. Jetzt aber möchte ich wieder heim. Es ist ja alles häßlich, häßlich! Mein Vater würde sagen: Samsara.« Ihre Stimme zitterte, ihre Seele mochte weinen. Auf Reinharts Frage, ob sie Mangel leide, antwortete sie verneinend, sie habe den Schmuck mitgenommen, den verwalte Klas und verkaufe ihn nach und nach. »Aber ich möchte heim, es ist häßlich!« wiederholte sie eindringlich.

»So reisen Sie doch!«

»Er laßt mir kein Geld und überwacht mich.«

»Ich habe noch Ihren Ring, verkaufen Sie ihn. Ich bringe Sie heim, gleich jetzt.«

»Nein, er holt mich hier immer ab, er kann jeden Augenblick da sein, wenn er Sie sieht, bekomme ich schlechte Tage. Er liebt mich wie ein wildes Tier und ist auf sie eifersüchtig und böse, furchtbar. Er verfolgt Sie. Merken Sie es nicht? Meinen Ring müssen Sie behalten, warum haben nicht Sie mich erlöst?«

Es war beklemmend.

»Geben Sie mir Ihre Adresse,« begann sie wieder, »ich schreibe Ihnen, wenn er einmal für einen Tag verreist, dann holen Sie mich, ich wohne Salpetergasse 6. Kommen sie aber beileibe nicht ungerufen zu mir, es könnte ein Unglück geben. Er ist furchtbar wild. Und nun gehen Sie, es ist sechs Uhr, er wird kommen.«

Als Reinhart die Anlagen verließ, stieß er auf Klas. Der Riese stellte sich ihm in die Quere und funkelte ihn mit seinen heißen Augen an. »Haben Sie – Imma getroffen?«

Reinhart bat ihn: »Bringen Sie sie heim zum Vater.«

Klas fuhr auf: »Hat sie Ihnen etwa geklagt?«

Reinhart merkte, daß er unbedacht gesprochen hatte und suchte sein Wort zu mildern: »Ich glaube, sie hat Heimweh.«

»Das geht Sie nichts an. Überhaupt! Hüten Sie sich!« Damit schritt er rasch an Reinhart vorüber.

Es dämmerte, als Reinhart zu Hause ankam. Die Hausmeisterin berichtete ihm auf dem Flur, es warte ein Herr auf ihn, seit mehr als einer Stunde. Reinhart ahnte, daß es kein gewöhnlicher Besuch war und trat neugierig ins Zimmer. Am Fenster stand eine massige Gestalt und wandte sich langsam zu ihm. Er erkannte seinen Vater.

»Da lebst du also?« sagte Ferdinand, Reinhart die Hand reichend. »Es ist nicht paradiesisch bei dir.«

Reinhard machte Licht. Ferdinand hatte sich wenig verändert, nur etwas grauer war er geworden. Er begann zu reden. »Ich habe von deinem Auftreten in unserer Versammlung gehört und dich aufgespürt. Mit Hilfe der Polizei, ha! So darf es nicht weitergehen. Ich bin der Ansicht, wir sollten Frieden schließen, wir zwei. Ich glaube, wir würden uns jetzt besser vertragen, wir stehen in verschiedenen Jahrhunderten, es ist nicht ein Zwiespalt zwischen dir und mir, sondern zwischen zwei Zeiten, warum sich also persönlich anfeinden?« Da Reinhart schwieg, wendete er das Gespräch. »Ich habe wieder geheiratet, ich weiß nicht, ob es dir bekannt ist. Eine tüchtige, gute Frau. Sie hat mir Geld gebracht. Ich mußte seinerzeit mit meinen Gläubigern ein Abkommen treffen, nun habe ich sie fast ganz befriedigt, und was noch fehlt, sollen sie später erhalten. Auch dem Hof habe ich nachgeholfen. Alles soll ausgeglättet werden. Die Fabrik geht guten Tagen entgegen. Es ist Krieg in der Luft. Seit der deutschen Riesenheeresvorlage vom letzten Jahr besteht kein Zweifel mehr. Nur Brillenpolitiker sehen das Wetter noch nicht kommen. Ich habe große Einkäufe in Wolle gemacht, wir werden daran viel verdienen, sehr viel. Du siehst also, ich will dich nicht ins Elend locken. Auch meine Frau wird sich freuen, wenn du heimkehrst. Ihr werdet euch schon verstehen. Sie ist nicht mehr jung und sieht klar in die Welt. Mit dem Geschäft sollst du nichts zu tun haben, wenn du nicht willst. Nun sprich!«

Reinhart kämpfte mit sich. Dann sagte er fest: »Ich kann nicht. Ich muß auf meinem Dornenweg weiter gehen.«

»Überleg dir's,« erwiderte der Vater, »ich nehme das nicht als dein letztes Wort.« Er war mild wie noch nie. Er schob, ohne daß Reinhart es gewahrte, einen Tausendfrankenschein auf den Tisch und verabschiedete sich wie von einem alten Freund. Reinhart war wie zerschlagen. Als er die Note entdeckte, wollte er dem Vater nacheilen. Obschon er jetzt manchmal hungerte, war ihm dieses Geld widerlich. Aber er dachte an Trudes Gehapparat und ließ den Schein liegen. Er setzte sich an seine Arbeit. Seine Gedanken gingen aber ungewollte Wege, hätte er sich nicht mit dem Vater aussöhnen sollen? Ja, war das denn möglich? Sie hatten ja keinen gemeinsamen Gedanken mehr, sie lebten wie auf verschiedenen Steinen und hatten keine Wahl. Das mußte getragen werden. Er wurde in seinem Sinnen durch ein Gepolter über ihm gestört: Der Totengräber war heimgekehrt. Grollend, den Zimmerboden erschütternd, klang seine Stimme, aber der Zank war diesmal ganz kurz und lief ohne Hiebe ab. Ein paar Minuten später stolperte Unold, ohne angeklopft zu haben, in Reinharts Zimmer. »Du hast mir die Suppe eingebrockt. Gesteh's nur!«

Aha, richtig, ja, ja!« besann sich Reinhart. »Ich habe Sie verzeigt. Diese Mißhandlungen müssen aufhören.«

»Hab' ich's nicht immer gesagt, du Spitzel, du Spion, du Spürhund! Wenn man mir das Kind wegnimmt, mach' ich dich kaputt und grab' dir das Loch noch selber. Zahlst du mir etwa den Lohnausfall?« Er war hart an den Tisch herangetreten. Auf einmal nahmen seine wässerigen Augen einen starren Ausdruck an. Er hatte den Bankschein auf dem Tisch entdeckt und schlang ihn gierig in sich hinein. Es erwachte etwas Teuflisches in ihm: »Hören Sie, junger Mann,« brachte er drohend hervor, »Sie haben mein Kind in Verruf gebracht, die Ehre, verstehen Sie, die Ehre! Das muß wett gemacht werden. Oder ich zeige Sie an, beim Eid. Wollen Sie sie etwa heiraten, hä? Da diesen Lappen verlang ich. Um weniger tu' ich's nicht! Sie können nun wählen! Entweder ins Zuchthaus, oder ... Sie kommen noch gut weg! Man kann eine Anzeige machen, auch wenn man kein Spitzel ist.« Reinhart, der gestanden hatte, setzte sich und erwiderte ruhig: »Sie wollen sich ein bißchen im Erpressen üben, Unold? Machen Sie nur Ihre Anzeige, oder nehmen sie diesen Schein, wenn Sie meinen, ein Recht darauf zu haben. Was nehmen Sie ihn nicht?« Das Gesicht des Totengräbers verzog sich zu einer widerlichen Fratze. Plötzlich lachte er grell auf: »Es war ja nur ein Spaß, Sie dummer Esel! Aber das Loch grab' ich Ihnen doch einmal, und einen Fuß tiefer als andern! Schon wegen der Anzeige! Und treff' ich Sie einmal bei Nacht und Nebel, Sie Spitzel!« Damit schob er sich schief zur Tür hinaus. Draußen knurrte er noch etwas Unverständliches und stapfte in seine Wohnung hinauf, wo er sein Grollen fortsetzte.


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