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66

Pastor Eschels saß mit Gondelina und Elisabeth Eickemeyer nach dem Abendessen in seinem Arbeitszimmer. Da wurde die Tür aufgerissen und Rasmus Claasen trat ungestüm ein.

»Dein Wunsch ist erfüllt, Peter-Ohm, der Damm steht!«

Pastor Eschels sah ihn verwundert an.

»Von gestern auf heut – was heißt das?«

Rasmus Claasen berichtete kurz, was Bremer auch zu der Morsumer Kolonne gesagt hatte, und fügte unmutig hinzu: »Was heißt das anders als: ich brauche euch nicht mehr!«

»Ihr Morsumer habt ihn immer merken lassen: wir brauchen dich nicht«, warf Gondelina trocken ein. »Wenn es euch nicht paßte zu arbeiten, ginget ihr heim. Er hatte nie eine Möglichkeit, euch zur Arbeit zu zwingen. Das mag ihn auch oft geärgert haben. Nun zahlt er's euch zurück in gleicher Münze.«

»Und dich freut's.«

»Gondelina! Erasmus! Streitet euch nicht, Kinder«, sagte der Alte friedfertig. »Im Grunde seid ihr – sind wir ja alle der gleichen Meinung: wir können den Damm nicht wünschen, aber wir haben ihn alle dennoch gewollt, und also steht er nun.«

Rasmus Claasen sah finster vor sich hin, aber er ließ es dann doch geschehen, daß Gondelina ihn mit Elisabeth Eickemeyer bekannt machte, und zog sich einen Stuhl zum Tisch.

»Ja, auch ich habe ihn gewollt, sofern ich daran mitgearbeitet habe«, sagte er mit Überwindung. »Aber als Mutter heute über Tisch etwas zu Volquart sagte, und der Junge antwortete ihr auf hochdeutsch –« er vollendete den Satz nicht, doch die Hand, die auf seinem Knie lag, ballte sich unwillkürlich zur Faust. »Als ich ihn darauf zur Rede stellte, gab er mir zurück: ›Mit Sylter Friesisch allein kommt man heut nicht mehr zur Nösse.‹ Da fühlte ich doch, wie sauer es mir ankommt, Sylt sein Grab zu graben – mit meiner eigenen Hand –« und er hob seine Faust und betrachtete sie, als sähe er sie zum erstenmal in seinem Leben.

»Sie sind alle in Deutschland untergegangen, alle die einzelnen Völkerschaften«, erwiderte Eschels unwirsch, »und haben sich noch alle damit abgefunden.«

»Ich sage ja nicht, daß wir uns nicht auch damit abfinden werden – bleibt uns doch nichts anderes übrig, das sehe ich wohl. Und mit einer Notwendigkeit ist der Sylter noch allemal fertig geworden. Ich sage nur, daß es mir sauer ankommt.«

»Gewinnen Sie nicht auch manches dabei?« fragte Elisabeth begütigend.

»Wir haben bei diesem Handel mehr zu verlieren als zu gewinnen, Fräulein Eickemeyer. Was wir günstigstenfalls gewinnen können, sind wirtschaftliche Vorteile. Was wir verlieren –« er brach ab, und trotz seiner bösen Stimmung mußte er plötzlich lachen. »Lassen Sie sich von Eschels erzählen, was die Borres hier im Dorfbild bedeuteten. Vor drei Tagen traf meine Schwester diese Paula Borre in Flensburg. Paula, die durch ihre Tapsigkeit die ganze Familie ausgerottet hat. Die ging in Flensburg in seidenem Kleid über die Straße. Ja, sie hätte eine gute Stellung. In einer Schuhfabrik. Sie packe Schuhe in Kartons. Mit Seidenpapier dazwischen. Oh, sie könne wohl gut davon leben. Und der Sohn? fragte meine Schwester. Peter? Ja, der wäre auch gut zu Schick. Der wäre in den großen Ferien bei dem Grafen v. Arnim-Muskau gewesen. Wie er dazu käme? Nun, er wäre von der Schule aus dahin geschickt, weil er so mieserig aussähe. Acht Pfund hätte er da zugenommen. Hätte mit einem andern Jungen zusammen einen eigenen Diener gehabt – ja, das ist Paula Borre auf dem Festland, in der Stadt.«

Elisabeth Eickemeyer sah ihn fragend an.

»Ich verstehe nicht –«

»Sie verstehen nicht, was ich damit sagen will?« und in sein Gesicht stieg eine dunkle Röte. »Sie haben Paula Borre nicht gekannt, deshalb verstehen Sie mich nicht. Sie war hier – sie war –« er suchte nach einem Ausdruck und sagte dann kurz und bündig: »– sie war zu gar nichts. Nett anzusehen, gewiß. Auch nicht ganz dumm. Auch nicht ganz faul. Aber sie leistete nichts. Alles verkam unter ihren Händen. Und nun dort drüben geht es ihr gut. Besser als meinen Frauen. Sie geht am Alltag in seidenen Kleidern und hübschen Schuhen. Sie braucht nicht einmal auf schlechte Wege zu kommen. Sie ist geschickt mit den Händen. Tag für Tag tut sie ihre Arbeit, bei der sie nicht zu denken braucht, und der Junge, der besser gar nicht lebte, der wird von einem Grafen hochgepäppelt, bis er groß genug ist, daß er stempeln gehen kann. Ja, sehen Sie denn nicht, daß solch ein Beispiel uns andern die Achtung vor dem Wert der Arbeit tötet? Die Badegäste da in Westerland, die sind manchmal von außen her nicht anders anzusehen. Aber wir wissen doch alle, daß die nur ein paar Ferienwochen so leben und hernach heimfahren und wieder ihre ehrliche Arbeit leisten. Wenn aber die Festlandsbahn erst fährt, und wir dann täglich sehen müssen, wie solche, die zu gar nichts sind, drüben ihr gutes Leben haben – und wir sollen die Steuern bezahlen – nein, das taugt uns nicht.«

»Und doch«, sagte Elisabeth zögernd, »war mir Herders Wort immer lieb: ›Ihr Völker, duldet euch! Ihr Menschen verschiedener Sitten, Meinungen, Charaktere, helft und vertragt euch! Seid Menschen!‹«

»Ist doch nichts«, fügte Pastor Eschels hitzig hinzu, »ist doch nichts in der Welt gut oder böse an sich, Rasmus. Was wir Menschen daraus machen, ist Gottes Werk oder des Teufels.«

Rasmus Claasen sah auf Elisabeths Hände, die sie vor ihm auf dem Tisch leicht ineinanderfaltete, und er wunderte sich, wie anders ihre Finger sich bewegten als die seiner Frauen daheim.

»Ich kam, dir eine Freude zu machen, Oheim, nicht, eine Predigt anzuhören«, sagte er nun abwehrend. »Die ist nicht nötig. Überzeugt mich auch nicht. Wird dermaleinst Deutschland auch nicht leicht ankommen, wenn es seinen Damm nach Europa bauen soll.«

Pastor Eschels las die gleiche Hamburger Zeitung wie sein Neffe, so wußte er, worauf dieser anspielte.

»Ob dieser Dammbau je Wirklichkeit werden kann, das zu beurteilen ist mir hier von Morsum aus nicht möglich, und wenn ich zwanzig Zeitungen täglich läse. Dazu müßte ich in der Großstadt leben und europäisches Leben um mich spüren, nicht nur von Deutschland wissen. Aber setzen wir einmal den Fall, so sehe ich, daß nur das Volk, das die Geschehnisse vorausbegreift und mit dem Willen auch ergreift, Gutes davon haben wird. Niemals das Volk, das sich schieben läßt, statt selbst zu schieben. Als Deutschland den Krieg begann, hatten seine Führer mehr Angst vor dem eigenen Volk, als vor den Feinden –«

Jetzt sah Rasmus Claasen von Elisabeths Fingerspiel auf und seine Augen waren hellwach. »Und – mit Recht – ?«

»Das weiß Gott allein«, sagte der Herr Pastor mit einem tiefen Seufzer. »Jedenfalls aber kam es dadurch in die Lage, daß es sich von den Ereignissen schieben ließ, anstatt ihnen zuvorzukommen. Dies aber und das Schicksal, das es sich dadurch bereitete, sollte Sylt sich als Warnung dienen lassen! Was die abgeschlossene Entwicklung Griechenlands und Roms meinem historischen Sinn, das ist das nunmehr vollendete Lebensbild Sylts meinem lebendigen Gefühl –«

»Das vollendete – so sagst du selbst damit: Sylt ist tot!«

»Und sage dennoch: Es lebe Sylt!« gab der Alte gelassen zurück. »Kann doch ein jeder Baum mehr als nur einmal in seinem Leben grünen, und wenn er im Winter auch noch so tot aussah. Freilich hat's keinen Zweck, die alten Blätter künstlich festhalten zu wollen. Und wenn ihr euer Sylter Friesisch heute noch pflegt, müßt ihr dessen eingedenk sein, daß es euch nur noch mit der Vergangenheit, nicht aber der Zukunft verbindet – dein Junge hat recht: es reicht über die Insel nicht hinaus. Heute aber gilt's für euch, neue Blätter und neue Frucht zu treiben! Geh in den Lesesaal. Sieh dir den alten Globus an, den Gondel dafür schenkte. Wie klein ist Europa! Wie winzig Deutschland! Sylt ist ein Pünktchen. Morsum ein Nichts. Das Kleine und Besondere aber geht immer mehr im Größeren und Allgemeinen auf –«

»– oder unter!« vollendete Rasmus Claasen hart, schob seinen Stuhl zurück und verabschiedete sich kurz.


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