Helene Böhlau
Die kleine Goethemutter
Helene Böhlau

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Neuntes Kapitel

Madam Schaket räsoniert. – Ein Gewittertanz. – Beth tröstet den Gewitterfreund und führt ihn – Beth überrascht Herrn Schaket und erlebt mit ihm große Dinge

Was ist das heunt morgen wieder vor eine Komödie!« sagte Madam Schaket lachend zu sich selbst. »Das Leben strudelt. Da soll eins auch noch die Ewigkeit erringe, ja, wo kommt die Zeit her!«

Herr Schaket ist gottlob, dachte sie weiter, auf seiner Praxis, aber ehe er auf und davon kommt! – Da könnte eins in einem fort mache und käme zu keim End.

Alles reißt an dem Mann! Unter der Hand zerfällt er einem. Die Schuhschnall geht los, die Knöpf springe – und gar der graue Rockelor mit dem wüste Krage, wo eins sich zu Tode bürste und reibe kann – da wollen wir guter Dinge sein, wenn der Mann nur so allenfalls fortkommt, – und in der Küch der Spitzbub mit seiner gottlosen Visage, mit der er den roten Rockelor betracht – wie der König von Frankreich – und unser roter Rockelor und wir sind ihm Dreck!

Also nennt das nit Aberwitz, sich so 'n Aufgeblasenen in die Küch zu setze, damit ein Lump den anderen flickt, den die allgewaltige Zeit sonst ganz sanft als Plunder bestattet 134 hätte. – Dazu muß noch ein Stadtsoldat auf den Spitzbub aufpasse – und alle beide müsse beköstigt werde, damit sie den ganzen Tag alles hinunterfresse! Das nennt der Mann spare! – Ein Narr – ein Narr! – Statt einen braven Handwerksmann ein paar Batze verdiene zu lassen, müssen zwei wildfremde Kerl her, die das Haus verarme, den Rock begutachte und uns dazu.

Zwei böse Mäuler machen im Handumdrehen zwanzig – und das kann mei armer, närrische Hering gar nit brauche für sei Praxis. Kann einem Materie genug begegne, um melancholisch zu werde.

Da klopfte es mit dem Türklopfer ganz bescheiden.

Ei, es sind Madamen! Nu, was bringen die gelaufe, grad jetzt, wo eins alle Händ voll zu tun hat – ei freilich, müssen die jetzt auch angerennt komme!

Madam Schaket trippelte mit ihren roten Pantöffelchen die Treppe hinab.

Und richtig, es waren zwei Madamen, die im verschwiegenen Lädchen sich Stoff zu Paniers kaufen wollten und Flor zu einer Fontange.

Nun begann ein gewaltiges Geschnatter, denn die Weiber hatten den gestrengen Herrn Medikus aus der Haustür gehen sehen. Das wußte die ganze Gasse und weit über die Gasse hinaus, daß Madam Schaket ihr Lädchen ganz im geheimen hielt. Da Weiber gern auf Schleichwegen gehen und in jeder ein gehörig Stück unzähmbare Wildheit steckt, 135 so wurde dieser Schleichweg mit Vorliebe begangen und mit Gewissenhaftigkeit alles Dazugehörige beobachtet, was bei keiner Gesetzmäßigkeit so in geziemender Ordnung der Fall gewesen wäre.

Madam Schaket hätte für das Kattunlädchen keine bessere Reklame wählen können als das Geheimnis. Ihr Geschäft ging gut, und die Kundschaft war wohleingeübt.

Jede Madam kam so gewiß spitzbübisch zur Tür hereingeschwänzelt, im Gefühl, auf verbotenem Wege zu gehen, an sträflicher Freiheit zu nippen, die Wildheit der weiblichen Natur zu genießen. Sie waren immer animiert und zu allerlei Dummheiten aufgelegt, kauften leichtsinnig ein wie im Jagdeifer und konnten es auch tun. Madam Schaket benutzte diese Unternehmungslust und Strudelei kaum, blieb bei ihrem ordnungsmäßigen Preis und ließ sich nur als Dreingabe die Ohren vollschwätzen, was hin und wieder ganz unterhaltsam war.

Satan, du machst mir was weis, das brauchten die Madamen im dumpfigen Lächeln nicht zu fürchten, wenn sie handelten.

Die beiden, die heute hereingewitscht waren, hatten aber außer ihrem Kauf noch etwas auf dem Herzen.

»Ei, denke Sie doch,« sagte die eine, »heut in aller Früh lag ein Bursch Ihne auf der Schwell, als der Spitzbub mit dem Stadtsoldaten kam, der gewiß Herrn Doktor Schaket ausflicke soll, denn dieser Spitzbub schien mir der 136 Statur nach Schneider zu sein. – Die habe miteinander den Burschen geweckt. – So ein besoffen jung Blut! Aus 'm Fenster sah ich's mit an – noch in der Nachthaub!

Wer's wohl hat sein könne? Der Stadtsoldat wird's wisse. Ich hörte, wie der und der Spitzbub mit dem junge Kerl verhandelten. Der stand in der Klemm und wußte nit, wie er sich verhalte sollte. Aber, dachte er, schwätzt ihr nur –und war auf und davon.«

Indem klopfte es wieder.

»Ich hab heunt viel Eile, denn wahrlich, mein Medikus wird ausgeflickt,« sagte Madam Schaket lachend. »Sein Humor ist mal nun so, da kann man nichts dagege tun. 's ist die unschuldigste Marott, die ein Mannsbild habe kann, und laßt euch gesagt sein, hochzuverehrende Madamen, Gott und der Teufel sitzen meist eng beieinander in eim, so Genie hat. Der gute Bürgersmann, der leere Kopf, legt ruhig sein Ei, und damit gut – der Genius aber mit den weiten weichen Flügeln, das ist ganz ein andere Sach. Mein Medikus hat recht: ein Schneider, der ein Spitzbub ist, ein Spitzbub, der ein Schneider ist, das ist der rechte Mann, der etwas kann.«

Da lachten sie alle drei.

Die beiden Madamen aber dachten: Ä sonderbare Frau.

»Ei, fort mit euch,« rief Katharinche. »Da ist nichts zu lache, so ist's und bleibt's.« Sie verteidigte Herrn Schaket, wo sie konnte.

137 Und nun tat sie die Türe auf – und herein kam mit seligem Gesicht, in dem im Augenblick aller Druck, alle Halbheit verschwunden war, in dem Liebe, Freude und die reinste Seele leuchtete, der Bursch, der nachts auf der Schwelle geschlafen hatte. Er hatte von daheim ein neues Blatt Papier, ein altes Weißbrötchen und seinen Stift geholt, um mit seiner Zeichnerei wieder zu beginnen.

»Das ist er ja!« rief die eine, die ihn auf der Schwelle gesehen hatte.

»Seid Ihr es nit, den der Stadtsoldat und der Spitzbub geweckt hatte?«

»Ja«, sagte der Gefragte leise und schaute vor sich hin.

Katharinche Schaket erschrak, und zum erstenmal stieg es ihr auf, daß der arme Mensch eine Liebe zu ihr gefaßt habe.

»Da hat er mir eine Nachricht von seiner Schwester Söhnlein bringe wollen – und ist darüber eingeschlafe.

Ei freilich, so ein Gesell! Ist auch so eine Art Wöchner, wie sie nachts am Klopfer hänge. Weshalb soll nit einmal einer dabei einschlafe.«

Der Bursch sah die Frau befremdet an und schwieg. Daß er auf der Schwelle geschlafen hatte, mochte ihr wohl nicht recht sein. Niemand mochte es gern, wenn man etwas tat, was sie nicht alle taten. War schon oft wegen mancher Dinge ausgefilzt worden – und hatte am besten gefunden zu schweigen, um nicht in das Gehege der anderen zu kommen, in dem er sich schlecht zurechtfand.

138 »Ein Rebellertag!« lachte Madam Schaket und war nur darauf bedacht, die Madamen möglichst bald fortzubringen, was ihr auch gelang, trotzdem die sich etwas spreizten, um noch das Ende von der Geschichte mit dem eingeschlafenen Burschen zu erfahren.

Sie erfuhren es aber nicht und mußten sich zufrieden geben.

»Guck,« sagte Madam Schaket zu ihrem Schlafgast, »so was tut man doch nit, die Leut soll man nit über sich rede lasse, das tut nit gut. Zuerst haben dich der Stadtsoldat und der Spitzbub vorgehabt, nu die Weiber.

In sein eigen Bett gehört man nachts und muß Gott lobe und preise, so man eins hat, und gehört nit vor das Haus der anderen Leut. Der Finger gehört in die Nas und nit in den Spinat, sagt man im Scherz. In die Nas gehört er auch nit, aber man sagt als so.

Also, mein Freund, hat Er mich begriffen?«

»Ja, du liebe Frau.«

Madam Schaket frug nicht, weshalb er auf der Schwelle geschlafen hatte, sie brauchte hier nur den Selig-Armen anzuschauen – seine ganze Liebe lag ihm in den Augen.

»Guck Er,« sagte sie, »heunt können wir nit weiter mirakeln mit dem Bildwerk, der Stadtsoldat würde Ihn so viel ausfrage. Wenn die beiden gottlob wieder fort sind, da zeichnen wir, daß es eine Freude und Wonne ist, und bringen ein köstlich Wunderwerk zustanne, aber nun muß 139 Er gehen. Schau Er, so ist's: wenn ein jeder tun wollte, was ihm grad einfällt, das gäb ein schön Gerausch auf der Welt. Weil aber ein jeder tun will, was ihm grad einfällt – müssen sie alle sich zufriede gebe. Sie gehören alle in ihr eigen Bett. – Sonst gibt's Spektakel.

Laß Er sein Zeichenwerk da – damit Er weiß, daß Er einmal wiederkomme darf, aber jetzt nit.«

Damit verabschiedete sie ihn. Er erwischte eine Falte ihres bauschigen Kleides und verbarg sein Gesicht darin, und der Duft des Kleides und ihres ganzen Wesens bedrängte ihn wie ein Sturmwind.

Sie löste zart das Kleid aus seiner Hand, hob das Blatt Papier, das Weißbrötchen und den Stift, was ihm alles entfallen war, auf und sagte: »Geb Er mir die Hand und geh Er nun.« Als die Tür ins Schloß gefallen war und sie allein auf der Treppe stand, dachte sie im Herzen: mein Gott, mein Gott – wie wird der mit seiner dummen Lieb fertig werde, so ein arm schwach Hirn – und so ein arm schwach Herz.

*

An diesem selben Tag kamen Gewitter herauf von allen Seiten trotz Anfang Oktober. Über die alte Freie Reichsstadt zogen und wuchteten Heerscharen schwarzer Wolkenberge und weißgrün helle Fetzen, die schnell dahinsegelten und wuchsen, als hätten sie es eilig, Unheil zu bringen. Es gärte und braute, als sollte die Erde gewaltig geängstet 140 werden. Die Luft lag schwer und still, und Schwüle bedrängte aller Herzen.

Der Garten hinter dem düsteren Haus war geheimnisvoll in dem Gewitterlichte. Das Grün stark und leuchtend und die Blumen glühend, das unheimliche Licht der schwarzen Wolken machte tiefe Schatten. Die Luft stand still, und es war nicht der Garten der Lebenden, aber der Garten abgeschiedener Geister.

Im Hause lag auch eine große Schwere, die Kinder unruhig, dem Weinen nahe – die Erwachsenen bedrückt.

Beth, dem stürmischen frohen Kinde war solcher Druck eine Plage, ohne daß sie wußte weshalb. Eine Traurigkeit lag im Hause. Jeder tat seine Arbeit müde und gleichgültig. An wen sie sich wendete, war maulfaul.

Beth verstand es ausgezeichnet, sich unsichtbar zu machen. Mitten im Familienzimmer konnte sie verschwinden. Hast du nicht gesehen, wirst du sehen, war sie zur Türe hinaus, und wenn das geglückt, stand die Welt ihr offen.

Auch jetzt war es ihr gut gelungen, der Vater schrieb vertieft am Schreibtisch, die Mutter nähte, die Magd Fränze hatte einen Strumpfberg vor sich. Die Kinder spielten träge, und die Schwester knuddelte mit den Nadeln. Die Augen waren ihr halb zu, und sicher waren die Nadeln naß geworden in den feuchten Händen.

Beth aber war glücklich draußen vor der Tür und im Nu die Treppe hinab, durch den Hof, durch die große 141 Torfahrt hinaus auf die Gasse, über der drohend die Gewitterwolken drückten.

So lief sie durch die Stadt, die heute ein fremdes Aussehen hatte. Alle Märchen und Geschichten wurden lebendig. Belagerte Burgen, gefangene tapfere Prinzen und Ritter – Drachen und Brände und verwunschene Königstöchter. Unter solch einem Himmel war alles möglich.

Aus den engen Gassen aber wollte sie hinaus, aus der Düsterkeit und Stille. Die Bürgersleute hatten sich in ihre dunklen kühlen Zimmer verkrochen. Niemand schwätzte, wer auf der Gasse ging lief, um heimzukommen, ehe das Wetter losbrach. Beth aber machte Sprünge, gab sich einen Ruck und rannte durch das lange dunkle und feuchte Gallentor.

Schatten zogen an ihr vorüber, und auf dem Fahrdamm rumpelte es wie die Postkutsche. Karren und Pferde, alles sputete sich, die schützende Stadt zu erreichen. Das Kind aber lief, und endlich stand es draußen.

Da lag die ganze dunkle Herrlichkeit vor ihr. Die großen alten Bäume rauschten, und sie sah die Wolkenberge ziehen, keine Häuser hoben sich wie in der Stadt, das düstere Himmelsmeer zu verbergen, das so gewaltig zog und wogte.

Ihr klopfte das Herz vor Freude und Schauer. So mutterseelenallein in dieser schweren Stille, nur das Rauschen der Bäume war, wenn ein Wind sich erhob, zu hören, aber es klang, als ängstigten sich die Bäume vor der schweren Wolkenlast über ihnen.

142 Noch fiel kein Tropfen, und nur in weiter Ferne rollte der Donner dumpf und grollend. Ein so gewaltiges Aufgebot von Wolkenheeren war selten über den Landstrecken zu sehen. Die große Gewitterschlacht tobte noch weitab; aber das Grauen lag drohend über der alten Stadt. Die spitzgiebeligen Häuser, die über die mächtige Stadtmauer ragten, erschienen Beth, als guckten die mit aufgestützten Ellenbogen auf den Wall hinaus und betrachteten sich das Gewitter, das in seiner Stille und stummen Bedrohung grauenhafter war, als bräche gewaltiges Donnergerumpel hinter flackernden Blitzen und Regenstößen drein.

So stand Beth unter den Eichen und Ulmen, blickte über die Stadt und hinaus in das schwer verschattete Land.

Da sah sie einen Menschen unter einer der Ulmen, die ihre dunklen Häupter im Winde rauschen ließen, an den Stamm gelehnt sitzen und auf die Giebel blicken.

Der rosa Giebel der Base Schaket schaute mit allen anderen, was wohl aus dem sonderbaren Wolkenbergtreiben werden würde.

Beth erkannte den Georg, den armen Burschen, mit dem sie am Ufer des Mains hingewandelt waren und der ihr so leid getan hatte, ohne daß sie recht wußte, weshalb.

Auch er erkannte das Kind, das so freundlich zu ihm gewesen, und fühlte sich wieder zwischen den beiden Ebenbildern froh, wie nie in seinem Leben, dahingehen.

143 Er sah befangen auf das Kind. Sein Gewissen war ihm schwer, der lieben Frau würde es nicht gefallen, daß er auf der Schwelle geschlafen hatte, um ihr nahe zu sein. Er spürte ganz wunderlich die Ähnlichkeit des Kindes mit der Frau.

Nun saß er und wollte das Haus finden, in dem sie wohnte – ihr nah sein, war das einzig Klare in ihm –, aber er hatte das Haus nicht gefunden, es waren gar zu viele, die da schauten; und so frug er das Kind ohne Gruß, als wäre es ganz selbstverständlich, daß es hier unter dem schweren Himmel vor ihm stand: »Welches ist, das über die Mauer guckt, wo ihr wohnt?«

»Was meint Ihr?« frug Beth. »Meint Ihr, wo das Haus ist, wo die Schakets wohnen? Guck, der rosa Giebel ist's – da seitlich –, der einzige, der rosa ist. Die Bas hat die schöne Farb gekauft, weil rosa ihre Lieblingsfarb ist. Er sollte so ins Land hinauslache.«

Ja, und da sah er den rosa Giebel und machte große Augen. Der Mund stand ihm vor Staunen offen.

»Verschlingt ihn nit,« sagte Beth.

Da stürzte endlich ein gewaltiger Donner hinter dem Blitz drein. Ein Sturmstoß und schwere Tropfen.

»Nun geht's los!« jubelte das Kind und schwenkte beide Arme.

Der Bursche war ganz benommen, möglich, daß er von dem aufziehenden Gewitter gar nichts gespürt hatte. Nun 144 war der mächtige Rumpler und der grelle Blitz überwältigend gekommen, gerade als er endlich die erste Heimat seiner Seele von weitem wiedergefunden.

Ein Regenschauer fuhr über die beiden hin, und die Baumkronen neigten sich tief.

Beth faßte, wie am Abend vorher, den Burschen an der Hand, als wollte sie ihn führen.

Ihr war Sturm, Regenguß und die ganze Gewitterherrlichkeit gerade recht. Sie war ja gekommen, darin umherzuschnalzen, aber daß der lange Mensch nicht mitschnalzen würde, schien ihr so, und deshalb hielt auch sie sich zurück in ihrem Jubel.

»Kommt, ich führ Euch in ein Schüppche, da könnt Ihr das Wetter abwarte.« Und sie lief mit ihm. Bald standen sie vor einem Schuppen, in dem Heu aufbewahrt wurde.

»Da wart,« sagte sie mütterlich, »ich komm alsbald.«

Und sie machte sich auf und sprang und rannte in dem wilden Wetter und sang: »Es rauschen die Bäum, es klinget wie Lieder.« Ganz aufgelöst vor Lust schrie sie, was ihr gerade einfiel.

Donner, Blitz und Wolken und sausende Regenströme fuhren über sie hin. Durchnäßt und angefaucht von den gewaltigen Kräften der wilden Natur, tanzte sie einen Freudentanz, wie vor Urzeiten so manches Menschengeschöpf, ehe sie langweilig geworden, sich in den donnernden, rauschenden Elementen getummelt hatte.

145 Der Bursch schaute ihren Sprüngen zu und hörte ihr Jubeln verwundert mit an. Er selbst steckte in seiner über ihn hergefallenen Liebesnot, die wie ein dichtes Netz ihm über den Kopf geworfen war, in das er sich bei jeder Bewegung hilflos mehr verstrickte. Dazu die Gewissensqual, daß er unerlaubt auf der Schwelle geschlafen hatte, daß die lieb Frau gescholten und daß er jetzt – nicht kommen durfte.

Schlimmer wie das Gewitter rings um ihn her erschien ihm das Durcheinander seiner Seele und Sinne. Es gibt als auch Gewitter in eim selbst, dachte er, aber doch war's ihm, als würde er zum erstenmal lebendig.

Ja, das volle, stürmende, rauschende Leben in voller Kraft spüren, da muß alles in Ordnung sein, da muß eins stehen wie ein Ringer, der einen gewaltigen Anprall auszuhalten hat, das Herz in starker Glut, das Hirn klar und bewußt, der Blick unbezwinglich. Dann kann eins in jedem Gewitter innerlich und äußerlich umherschnellen wie ein Fisch, wie das Kind in Sturm und Regengüssen.

Aber er, der Arme, schaute und schaute, als die Regen-, Sturm- und Wettertänzerin, der Blitz und Donner nichts machte, dann tropfend und lachend zu ihm hereinkam, und er blickte sie ganz verwirrt an.

»Du hast Courag',« sagte er und sah die lebendigen, sprühenden Augen leuchten, und wie ein Auge leuchtete auch der vor Freude breitgezogene Mund mit den jungen blitzenden Zähnen.

146 Und vor seinen Blicken wurde das tropfende Kind, das im nassen anliegenden Gewändchen wie eine schlanke zarte Säule vor ihm stand, wieder zum verjüngten Ebenbilde der lieben Frau. Er sah diese als Kind und zugleich als schönes, süßes Weib.

Wie kam er denn so in die Wunder mit einmal hinein? Es schien doch bisher immer alles ganz langweilig vor sich zu gehen.

Jetzt brach die Sonne wieder hervor und schien grell und stark über die alte Reichsstadt. Alles leuchtete wie eben geschaffen auf.

Der guten Stadt war endlich wieder ein kleines Elementenspiel in ihren Mauern zu ihrem Nachsommerpläsier beschert, und wenn es noch ärger gerumpelt und getobt hätte wie jetzt – gut war's, daß einmal aller Dunst und Stank, und was sich da in Dämmern und Enge verfilzt hatte, in die Höhe geblasen und ausgeschwemmt worden war.

Nun gingen die beiden nebeneinander unter den tropfenden hohen Bäumen. Beth schüttelte sich wie ein nasser Hund.

Der Bursch blieb stumm. Schwer trug er an seiner Unfreiheit. War's ihm doch, als läge ein Verbrechen auf ihm. Er konnte nicht unterscheiden: war's sehr schlimm oder ging's an, – wie so vieles. Endlich nahm er sich den Mut und sagte:

»Ich habe halt nachts von Eurer Tür nit fort gekonnt« – da fehlte ihm, was er sagen und wie er's sagen wollte, 147 und schwieg und brütete – am Haus der lieben Frau, wollte er sagen, anders konnte er sie nicht nennen. Jetzt, jetzt hatte er's: »Ich bin heut nacht vor Eurer Haustür eingeschlafe, die der gehört, die du so lieb hast.«

»Weshalb denn? Warst du so müde?«

Da wußte er nicht zu antworten und sah Beth traurig und hilflos an.

»Das is ein Durmel in mir!«

Beth sah die ratlos suchenden Augen voll Tränen.

»Du, das versteh ich nit,« sagte sie leise, »da muß noch was sein, was du nit sagst.«

Er blieb stehen und schlug die Augen nieder.

»Ich hab sie so lieb wie du, möcht bei ihr sein,« sagte er, »und darf jetzt nit komme, weil der Stadtsoldat und noch einer mich gesehen und geschimpft hat.«

Beth blickte erstaunt. Der hat was ausgefresse, irgend was und kann's nit sage; aber seine traurigen Augen gingen ihr zu Herzen. Sie mußte ihn wieder und immer wieder anschauen. Er sah so gut aus, wie große Leute eigentlich nie ausschauen. Und sie wußte weiter nichts zu tun als ihn zu führen, – und so führte sie ihn wie einen Blinden vorsichtig und behutsam, auch durch das dunkle, feuchte Gallentor, und er ließ es sich gern gefallen, hielt die kleine Hand, die wie ein Vögelchen in der seinen lag. Sein Herz wurde ruhiger, er fühlte sich wundersam beschützt und beruhigt.

148 »Ich werd schon sage, daß du wiederkomme darfst; komm nur bald.«

*

Den ganzen Tag aber konnte sie ihr Erlebnis mit dem guten Menschen nicht vergessen. Ihr Kleid und ihr Haar war längst trocken, und sie saß mit dem Strickstrumpf, der sich auch von der Schwüle erholt hatte, und strickte nachdenklich im Familienzimmer, denn das Pensum mußte erledigt werden, es kam auch noch ein Stündchen Spinnen daran.

Am Abend aber bat Beth die Mutter, noch vor Schlafengehen zur Base springen zu dürfen. Und da Madam Schaket einen Korb Pfirsiche zum Einkochen bekommen sollte, wurde es ausnahmsweise erlaubt.

»Aber nit lang bleibe!« rief die Mutter ihr nach. »Und keine Pfirsich fresse!«

So ging Beth mit ihrem Korb, an dem sie hübsch zu schleppen hatte, zur Base.

Es war schon dunkel, und die Sterne funkelten, vom Gewitter rein geputzt, in die engen Gassen herab. Der Korb war nicht leicht, und ihr Herz war voll. Sie wollte die Base bitten, gut mit dem Georg zu sein, ihn nicht auszufilzen, – und daß er wiederkommen dürfte. Sie wollte ihr's sagen, wie traurig er sei, daß er vor der Haustür geschlafen habe und wie lieb er sie habe, und ihr Herz war ganz feurig.

Wunderlicherweise fand sie die Haustür nur angelehnt. Sie trat ein. Welche Stille! Da ist die Bas vielleicht gar 149 nit daheim? So still ist's nie, wenn sie daheim ist. Es war totenstill, und das Öllämpchen brannte trübe. So stand sie und wagte sich nicht zu rühren.

Und endlich faßte sie Mut und ging vorwärts. Jemand mußte da sein, die Tür war doch offen – und war's ihr nicht, als bewegte sich's oben?

Sie schlich leise mit ihrem Korb die Treppe vollends hinauf und lauschte an der Wohnstubentür – Stille! Aber doch: im Schlafzimmer rührte es sich – das war sie gewiß.

Leise öffnete Beth die Tür. Im Zimmer war es dunkel, aber in der Schlafstube brannte Licht.

Da stellte sie ihren Korb nieder. Ihr schien es, als müsse sie leise sein – und sie wollte auch die Base überraschen.

Wie sie in die halb offene Tür trat, sah sie Herrn Schaket, der am weit geöffneten Fenster stand und in hocherhobenen Händen einen schönen Kelch mit rotem Wein hielt, den er jetzt mit ausgestreckten Armen hinaus unter den ausgestirnten Himmel reckte, – und sie hörte, wie er laut und feierlich mit einer schönen, andächtigen Stimme sagte: »Und er nahm den Kelch und dankte, gab ihnen den und sprach: Trinket alle daraus. Das ist mein Blut, welches vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden.«

Das Kind sieht, wie der Mann den Kelch weit hinaus mit beiden Armen unter den Sternenhimmel hält – und in tiefer Ruhe so verharrt. – Es sieht, wie er in die Sterne 150 blickt, ohne sich zu regen, und es erscheint dem Kinde eine ewige Zeit.

Es konnte sich nicht rühren. Es wagte es nicht – fühlte, wie es hätte leise fortgehen müssen, und konnte es nicht.

Es stand gebannt.

Nun sah es, wie der Mann den herrlichen Kelch an seine Lippen führte und mit geschlossenen Augen den roten Wein, der wie Blut leuchtete, trank.

Darauf kniete er nieder und stützte den Kopf auf das Fensterbrett. Der geheimnisvolle Kelch stand neben seinem Haupte.

Große Stille.

Das Zimmer sah fremd und feierlich aus wie eine Kirche. Geheimnisvolle Schauer durchrannen die Kleine.

Der ihr so wohlbekannte Mann war ihr unnahbar, als spräche er mit Gott, wie Moses mit Gott im feurigen Busche.

Den ausgestirnten Himmel, der in den Kelch geleuchtet hatte, mit seinen unerforschlichen Kräften, sieht es zum ersten Male mit den geistigen Augen.

In die tiefe Kindesdumpfheit dringt ein unbekanntes Licht aus einer anderen Welt als der alltäglichen.

Als Herr Schaket sich erhebt, sieht er ein blasses Kind in der Tür stehen mit einem rührend bangen Ausdruck – und Herr Schaket nimmt es wie schützend in seine Arme – tiefbewegt.

151 So liegt das Kind stumm am Freundesherzen, in dem die heiligsten Dinge des Lebens sich bewegen, und er spricht liebevoll mit dem Kinde, als wollte er das Beste geben, was er zu geben imstande war. Gott hatte einen seiner Engel geschickt, um es hierher zu führen zur heiligsten Stunde, meint er. Es ist, als wäre das Kind ihm von nun an anvertraut, und er müßte darüber wachen.

Was aber sollte er ihm sagen von allem, was ihm am tiefsten die Seele bewegte? – Schweigen, dachte er, schweigen. Und doch sagte er: »Nun hast du das Heiligste erlebt. Im Kelch das Blut Christi wandelt die Erde zum Himmel, Körper zu Seele, Leben zu seligstem Hinscheiden. Und wahrlich, man soll dies Unfaßbare in tiefer Einsamkeit erleben – oder in Zweisamkeit, die auch zur Einsamkeit im höchsten Sinne werden kann. So hast du das Hinscheiden mit mir erlebt und das Werden des Körpers zur Seele – die Vorstunde der höchsten göttlichen Geheimnisse.«

Das Kind lag angeschmiegt und ließ all das Ahnungsvolle, was eines wunderlichen Mannes Brust erschütterte, gleich dem Gewitter vor wenigen Stunden über sich hingehen. Und wie die Erde lebt und stark und mächtig wird durch alle Stürme, Wetter, Sterne und Sonnenschein, durch alles, was über sie kommt, damit sie Leben und Dasein hervorbringen kann, so auch das junge Erdreich, das der Mann zart umfaßt hielt und dessen stumme Seelenbewegung er spürte.

152 Nun hob Beth den Kopf, sah Herrn Schaket mit großen Augen an und gedachte ihres Versprechens, das sie dem seligarmen Burschen gegeben hatte.

»Und nu will ich dir was sage: Seid alle beide gut mit dem arme Georg und verzeiht ihm, daß er vor eurem Haus geschlafe hat.«

»Wie denn, mein Kind?«

Und Beth erzählte alles, was sie wußte, und daß der arme Bursche die Bas Katharinche so sehr lieb habe.

»Ja,« sagte Herr Schaket, »das verspreche ich dir. Wir wollen gut zu ihm sein.« Dann führte er das Kind zurück bis an die große Torfahrt in der alten grenellierten Mauer. 153

 


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