Helene Böhlau
Der gewürzige Hund
Helene Böhlau

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Nun war schon längst kein Eulennest mehr auf dem Bock der alten Reisekutsche, sondern Hans, der Gärtner, Pferdeknecht und Bediente des Freiherrn Schenk von Geyern, saß im dicken Flausrock, hohen Stiefeln, ganz reisemäßig ausgerüstet darauf und kutschierte einen neuen Vorspann nach dem andern. Und die Kutsche war fein ausstaffiert, gelb lackiert, das Lederzeug zum großen Teil erneut, die Polster mit grünem Tuch überzogen; das freiherrliche Wappen war auch aufgefrischt auf dem Kutschenschlag zu sehen, die Koffer aufgestapelt und geschnürt, wie sich's gehört. Und so schwankte sie daher wie der runde Körper einer Schneiderspinne, die auf langen, langen elastischen Beinen läuft. Myrtel mit ihrem lieben Herrn, der ihr Sorgen genug gemacht und so viel Tränen gekostet hatte, saß ganz bequem in die guten Polster geschmiegt, die aus einer Zeit stammten, in der die Schenk von Geyern noch 54 etwas draufgehen lassen konnten. So gar übel schien das Reisen nicht zu sein. Der Opalschmuck war verkauft.

Myrtels Tränen aber, die im geheimen vor der Abreise geflossen, waren nun versiegt, denn noch nie war Myrtels Ehemann so heiter und aufgeräumt gewesen wie in diesen Reisetagen. Der Sommeranfang war warm und schön. Sie fuhren durch Strecken unübersehbarer goldener Getreidefelder. Die hohen, schlanken Pappeln, die die Straßen einfaßten, sahen aus, als bildeten sie Spalier, um die Schenk von Geyernsche Reisekutsche würdig zu empfangen. Wenn das Paar so still nebeneinander saß, hörten sie, wie die Lerchen aus den Feldern aufstiegen und ihr Lied in den blauen Aether schmetterten. Das klang so selig und erdenwohl. Wenn es ein erträgliches Wirtshaus war, kehrten die Reisenden ein, schliefen in frischen, kühlen, fremden Betten, aßen an Gasttischen, sahen nie gesehene Gesichter, und wenn ihnen die Unterkunft mißfiel, schliefen sie in ihrem bequemen Reisewagen. Der Freiherr ließ dann wohl bei Sternenschein in warmer Nacht von Hans, dem Kutscher, das Dach des Wagens zurückschlagen, und sie lagen und sahen 55 in das Heer der Sterne. Das war ein großer, tiefer, erschütternder Eindruck, wie er jedem Feld- und Waldtier geläufig ist, jedem armen Hasen, der hinter seiner Scholle, das Schnäuzchen nach Osten gekehrt, im Sternenschein seine Nachtruhe hält. Wer weiß etwas vom Gottesdienst und dem innersten Wesen dieser Feld- und Waldschläfer, dieser kleinen Leute, die Liebe kennen und Freude und Seelenjubel wie die Lerche und Schmerz und Not wie wir.

Myrtel und ihr Herr Liebster sahen unglaubliche Dinge und hörten unglaubliche Dinge in solchen hohen Sternennächten. Die Erde sprach in allerlei Lauten, die ihnen fremd und unbekannt erschienen. Gewitter zogen auf, dunkle Wolken wälzten sich über das Sternenheer. Abgründe taten sich über ihnen auf, unermeßliche, schwarze Abgründe, die Raum genug hatten für alle Höllen Himmels und der Erde. Fernes Wetterleuchten, das über die Dunkelheiten hinfuhr, zeigte ihnen, daß diese Abgründe Wolkenberge waren, die sich türmten und wälzten, und die über die Sterne hinkrochen, um sie auszulöschen. Dämmerung brach ein, gespensterhaftes Hellerwerden, durch das alles zum geistigen Bilde seiner 56 selbst wurde. Festigkeit schwand. Das Wetterleuchten wurde smaragdgrün, als flösse ein grüner, durchsichtiger Edelstein über den Himmel hin. Die Farbe der leuchtenden Sommerrose floß mit Smaragd zusammen, dunkle Wolken, dazwischen das Frühblau des Himmels. So spielten Himmel und Erde ihre höchsten Wunder vor den kleinen Hasenschnäuzchen, die nie vergessen, sich ehrfurchtsvoll hinter ihrer Scholle dem heiligen Osten zuzukehren.

Der Freiherr Gabriel Schenk von Geyern aber hatte eine süße, kleine Gefährtin, die mit ihm ging, wenn er es wollte, die sich mit ihm freute, der nichts gar so verwunderlich erschien.

Seit sie sich von ihrer geliebten Heimat, an der sie mit Leib und Leben gehangen, unter geheimen Tränen und tiefen Schauern losgerissen hatte, war sie wie befreit, als hätte ihre Seele Fesseln gesprengt. Es war ihr, als könnte sie nun alles, was von ihr verlangt würde, tun.

Nur als die heimatlichen Pferde, die den Wagen bis nach Augsburg gebracht hatten, zurückgeschickt wurden, war sie am Morgen in aller Herrgottsfrühe zu ihnen hinunter in den dampfigen Wirtsstall gegangen und hatte von ihnen Abschied genommen, 57 wie ein sehnsüchtiges Kind, das hinaus in die Fremde muß und von Vater und Mutter Abschied nimmt, und dem darüber schier das Herz brechen will.

 

Je näher sie dem Ziele kamen, das ihrer nicht verlangte, je schwerer wurde es Myrtel ums Herz. Niemand erwartete sie, niemand freute sich ihrer dort, niemand wußte von ihrem Dasein. Auch ihr Ehegemahl war schweigsam und nachdenklich geworden. Das freiherrliche Paar, dem daheim gehörte, was sie sahen und berührten, die in ihrem Reiche wie Könige wandeln konnten, die Rechte und Gerechtsame hatten, denen jedermann mit tiefster Hochachtung und Ergebung begegnete, kam in seiner altmodischen Kutsche eigentlich dahergeschwommen wie auf der Brennsuppe, mit nicht viel mehr Recht als irgendein Vagabund. Sie hatten keinen Gruß zu überbringen, hatten keine Verbindungen mit irgend jemandem. Des Freiherrn Adel hätte wohl genügt, ihn überall ehrenvoll einzuführen; aber die Weltfremdheit und Ungelenkheit dieses Schenk von Geyern ließ ihn sich des Vorzugs nicht recht bedienen. Ihn verlangte nach dem höheren und höchsten Adel, den nur einer in Weimar trug. Zu Hofe zu gehen, 58 nein, das lockte ihn durchaus nicht, und dafür war auch sein Beutel zu leicht. Denn schließlich ist ein Opalschmuck aus den reinsten, in allen Farben schimmernden Tränen kein unerschöpfliches Vermögen.

So fuhren sie jetzt gar still dahin auf der Heerstraße, und als Hans, der Kutscher, vor dem Chausseehäuschen an der Kegelbrücke vor Weimar hielt und mit der Peitsche knallte, und der Chausseegeldeinnehmer heraustrat, fragte der Freiherr mit keinem allzu freudigen Mute, wo sie wohl am besten absteigen könnten.

»Im ›Elefanten‹,« bekamen sie zur Antwort, »allemal im ›Elefanten‹. Da verkehren so feine Leute wie im ›Russischen Hof‹; aber 's is um eene Kleenigkeet billiger.« Indem er das sprach, beschaute der Einnehmer die alte Reisekutsche, die wie ein Spinnenleib in ihren Federn hing und schwankte. Der Einnehmer kannte sich aus mit Reisekutschen; so ein altes Tier war ihm seit lange nicht vorgekommen. Seine Ehrerbietung schien gering, trotzdem die Kutsche so hübsch hergerichtet war. Es hatte fast den Anschein, als wüßte er die Geschichte mit dem Eulennest.

Ja, er klopfte mit dem Stab, an dem der Geldbeutel hing, auf die gewaltig geschwungenen Federn 59 und sagte zu Hans: »Die alte Urgroßmutter aber hat ihr meglichstes getan – du meine Gite, wo kommt denn die her?«

Myrtel errötete vor Scham, trotzdem die Polster in denen sie lehnte, vortrefflich waren. Der Mann wurde erst wieder devot, als Freiherr Schenk von Geyern in das Fremdenbuch eingetragen hatte: »Le Baron Gabriel Schenk de Geyern und la Baronne Myrtel Schenk de Geyern, née d'Ivogun

Er war sich das schuldig. Auf deutsch hörte niemand so recht in dieser Zeit.

Das Fremdenbuch wurde am Ende jeder Woche bei Hofe vorgelegt, und der Einnehmer dachte: »Gucke, da wären se neigierig sein, was das für eene freiherrliche Gnaden in dem alten Rumbelgosten is.«

So fuhren sie doch nicht so ganz aus Lehm in Weimar ein. Denn sie bekamen eine Verbeugung dritten bis zweiten Grades von dem Einnehmer verabfolgt, als sich ihre Reisekutsche schwankend wie ein uralter Krönungswagen wieder ans Fortbewegen machte Das war ihnen noch gar nicht so aufgefallen, daß die Kutsche so schwankte; aber sie mochte 60 wohl von der langen Reise in ihren altersschwachen Spinnengliedern ermattet sein.

Es war Abend, und sie langten müde im Elefanten an.

Ein verständnisvolles Lächeln spürten sie auch hier auf den Gesichtern des Wirtes und der Kellner, als sie der Kutsche entstiegen; aber beileibe hüteten sich diese, irgendwie deutlich zu werden. Von einer »Urgroßmutter« war keine Rede, höchstens stand auf den Stirnen dieser Braven in fast unsichtbaren Zügen zu lesen:

»Eene hechst seltsame, nicht mehr ganz moderne Reisegutsche; aber aus einer vorziglichen Werkstatt stammend, vor etwa fufz'g Jahren een erschtklassig's Werk.«

Da war nichts Kränkendes dabei. Sie bekamen ein behagliches Zimmer mit tiefen Fensternischen.

Und nun standen sie da, als sie von Wirt und Hausknecht allein gelassen waren, im fremden Zimmer, in der fremden Stadt, einem fremden Schicksal gegenüber, und schauten sich so ein wenig verblüfft an wie zwei Kinder, die irgendwo angekommen waren, wo sie von Rechts wegen eigentlich nicht ankommen hätten sollen.

61 Sie lächelten ein wenig, fielen sich in die Arme und küßten sich etwas in Verlegenheit.

Ihr Abendmahl nahmen sie unten im Gastzimmer ein. Behagliche fremde Gesichter, ein Tisch mit Stammgästen, alte Herren; da ging es sehr munter zu.

An einem anderen Tisch spielten, wie es schien, zwei Herren der Hofgesellschaft Bézigue. Alle aber schauten auf das neue Paar.

»Zum allererschten Mal!« flüsterte der Wirt beiden Tischen zu. »Ä kleenes feenes Weiwchen!«

Der Stammtisch: »Bleiben die hier?«

Der Wirt: »Wees noch gar nischt.«

Die Herren vom Hof verhielten sich reserviert, schauten aber reichlich so neugierig wie die Herren vom Stammtisch auf das junge Paar.

Nach einer Weile erschien ein hagerer, blonder Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, ganz grau gekleidet, in einem langen Taillenrock, mit grauen Kniehosen von derselben Farbe und grünen Strümpfen. Er hatte große, wasserblaue, runde Augen, ein Karpfenschnäuzchen und einen zierlichen, schmalen Spitzbart. Dieser junge Mann setzte sich dem Paar, das an der langen Wirtstafel saß, direkt 62 gegenüber, bestellte sich ein Glas Lichtenhainer mit Musik.

Myrtel schaute erstaunt auf; denn der junge Mann hatte laut und deutlich gesprochen, mit einem etwas trockenen Klang in der Stimme, und sie wartete nun der Dinge, die da kommen sollten. Und siehe da, es kamen fünferlei Dinge: ein hoher, sehr schmaler gefüllter Holzkrug, ein weißes Schälchen mit klarem Zucker, ein solches mit Rosinen und ein solches mit feinem geriebenem Schwarzbrot und ein langer hölzerner Löffel. Und der graue Mann mischte alles in dem Holzkrug gehörig untereinander. Da entstand ein ganz gewaltiger Aufruhr. Es schäumte und zischte. Er mußte eilig den Krug zum Munde führen, sonst wäre ein Unglück geschehen; denn es stieg ein ganzer Schaumberg in die Höhe. Und als er den beschwerlichen, schmalen Krug wieder absetzte, war auf dem spitzen blonden Bärtchen eine Schaumverzierung, eine große weiße Flocke, die ganz unternehmend sich balanzierte und seinem Profil sehr zur Zierde gereichte. Sie machte es ganz außerordentlich eindrucksvoll.

Die zarte Myrtel konnte sich kaum ein Lächeln verbeißen; aber es gelang ihr. Sie faltete die Hände 63 unter dem Tisch und betete ein altes Gebet, das gegen solche Versuchungen gut ist:

»Ich rufe Dich, heil'ger Sebastian,
In Deines Leibes großer Nott.
Ach lasse ruhen meinen Spott,
So einer ist sehr übel dran.«

Und da verging der feinen Seele jede Lust, auch noch so unmerklich zu lächeln. Sie sagte ganz leise zu ihrem Mann: »Schau, was er für ein hübsches Gesicht hat, wie aus Porzellan die schönen Augen, und auch das Bärtchen wäre so übel nicht.«

»Wer?« fragte der Freiherr.

»Sch–sch–sch. Bs–ss–s–s. Unser Gegenüber.«

»Ist er Dir so unangenehm?« Der Freiherr kannte Myrtel gar wohl und wußte, wie sehr sie lobte, wenn sie das Gegenteil empfand. Es war, als wollte sie, was ihr nicht gefiel, liebkosen dafür, daß es ihr nicht behagte. Sie war dann ganz wunderlich geschickt im Auffinden köstlicher Eigenschaften.

Er gedachte des gewürzigen Hundes, fand aber an seinem Gegenüber gar nichts so Besonderes, weshalb er der kleinen Freifrau hätte nicht angenehm 64 sein können. Die kecke Schaumflocke am Bärtchen war schon fast eingeschrumpft.

Der Wirt aber setzte sich zu den Stammgästen und sagte, während er ein wenig nach dem, der Musik getrunken hatte, mit dem Daumen deutete: »Da wett' ich eens, daß der heite wieder Eenblick in die Fremdenlisten iberall an den Chausseeheischen schon genommen hat. Wie er'sch nur macht! Mer därf's jo gar nich! Wenn emal Fremde von Distinktion, auch wenn's nur halbwegs was is, in die Stadt rein kommen, er hat's allemal raus, un sitzt dann da, un' wenn's irgend angeht, fängt er se weg – wie die Fliegen, sag' ich immer, da hat er so'n Griff. Die dort gefallen dem Gundelwein.«

»Ne, gucke, sag' ich« – der Wirt schaute auf seine Gäste –, »aber es muß so 'ne ganz besondere Art sein. Sie müssen, wie soll ich mich ausdricken, nich' so ganz sicher auf den Beenen stehn, im Beitel schwach; aber och nich zu schwach. Denn er fängt se dann in sein Asyl ein, wie ich immer sag'. Un da hat er'n Blick wie'n Luxus!

Auf die hat er'sch, der Gundelwein, sag' ich. Ich tät'en ja's Geschäfte legen; aber 's kommt ja doch immerhin nich' so ofte vor, un was sein Gusto is, 65 is nich gerade das meine. Schwach im Beitel, sag' ich! Von den Herrschaften will ich nich reden – aber 's gab Exempel von Beispielen.

Erinnern sich die Herren noch – ich hab's von meinem Vater selig –, damals wie unser Herzog noch jung war, der Herr Geheimrat och, wie die Schenies in Weimar angereest kamen, um ihr Mitchen zu kihlen? Un weil alle dachten, es fiel' auch für sie was ab, da hatte doch der Froriep vom Hofe aus jährlich e Simmchen gekriegt, um den Schenies anständige Schuh' und Röcke zu kaufen, wenn's d'ran hapern sollte.

Da erzählte mei' Vater immer vom Lenz, wie der sich schrieb, dem hat er oft aus der Klemme geholfen. Ach da gab's Kerls! Das wär 'ne Zeit für den Advokaten da gewesen. Aber auch jetzt findet er allerlei.«

Die am Stammtisch sprachen eifrig weiter von jener Zeit und lachten. Jedem fiel etwas ein, was er zum besten gab.

»Die aber hier,« sagte der Wirt, »wenn mich nich alles teischt, sin von armen Adel, wie sie hier, Gott sei's geklagt, alle sin. Vornehmheit die Hille und die Fille; aber, aber, da hapert's.« Er zählte 66 mit dem Daumen und Zeigefinger unsichtbares Geld her.

Inzwischen hatte sich das neue Paar erhoben und war auf das Zimmer gegangen. Der graue Mann, der die Musik getrunken hatte, saß noch am Tisch.

»Hat nich anbeißen kennen,« meinte der Wirt und lachte, und der ganze Stammtisch mit all den behäbigen Bürgern lachte.

Der Blonde mit dem Karpfenschnäuzchen und den runden Augen saß aber sehr wohlgemut und menschenfreundlich da.

 

Am andern Morgen war Markttag in Weimar, und das freiherrliche Paar sah von seinen Fenstern aus gerade auf den Platz, auf dem in langen Reihen Bauernweib an Bauernweib saß, jede einen Tragkorb vor sich, auf dem eine Buttergelte aufgebunden war. Ueberall schauten Salat, Gemüse und Früchte aus den Körben. Ein kräftiger, köstlicher Geruch stieg auf. Familienmütter und Mägde wandelten dicht gedrängt die Reihen auf und nieder, ein Summen von eifrigen, feilschenden Weiberstimmen, als wären Bienenvölker bei der Arbeit.

67 Ein heimisches Bild. Alle waren hier bekannt, hatten ihren Platz, wußten, wo sie hingehörten.

»Nur wir nicht,« dachte Myrtel, und es kam ihr vor, als wären sie rechte Eindringlinge.

Sie waren beide schweigsam.

»Nun wären wir da,« sagte der Freiherr Schenk von Geyern. »Nun wären wir da.«

Myrtel zog heute ihr schönstes weißes Kleid an, und sie gingen miteinander durch die Straßen und verbrachten einen ziemlich zwecklosen Tag. Sie sahen die kleinen Lädchen in der ärmlichen Stadt an, sie schauten zu den Häusern auf, sie wandelten am Haus vorüber, in dem Goethe wohnte.

Wie überall war auch hier das Leben wie in eine feste Nuß eingeschlossen.

Hier war es zum ersten Male, daß Myrtel sich einsam fühlte und beklommen.

»So ist das also,« dachte sie, »so hat Gabi sich daheim bei uns gefühlt, der Arme.«

Am Abend saßen sie wieder in der Gaststube im Elefanten. Zwei Herren vom Hofe spielten wieder Bézigue, der Stammtisch voll strammer Bürger amüsierte sich, der Wirt ging schmunzelnd und leutselig in der Stube hin und her und sah nach dem 68 Rechten – und der graue Herr mit den runden, blauen Augen, dem Karpfenschnäuzchen und dem blonden Bärtchen setzte sich ihnen wieder gegenüber, bestellte sich wieder eine Musik, schüttete alles zusammen, rührte es mit dem langen Holzlöffel um, machte einen Aufruhr in der schmalen Kanne, ein Schaumberg stieg daraus auf, eine mächtige weiße Flocke blieb wieder am Bärtchen sitzen, ohne daß der graue Herr es merkte. Sein Profil wurde dadurch wieder außerordentlich ausdrucksvoll.

Es wiederholte sich alles mit großer Regelmäßigkeit.

Nur das geschah diesmal, daß das Karpfenschnäuzchen sich zum Reden öffnete und die runden Augen sehr menschenfreundlich blickten, und es kam eine wunderhübsche Redensart zutage, eine Frage, wie sie in solch einem Falle sein mußte und gar nicht anders sein könnte.

»Ja, es ist hübsch hier,« antwortete die kleine Freifrau Myrtel auf diese Frage.

Nun kam wieder eine wundernette Redensart, auf welche der Freiherr antwortete, etwa so:

»Ja, sehr merkwürdige Verhältnisse hier in der kleinen Stadt.«

69 So kam etwas wie ein Gespräch zustande.

»Haben die Herrschaften schon unser Theater besucht?«

Nein, das hatten sie noch nicht.

»Haben die Herrschaften noch nicht Geheimrat Goethes Gartenhaus gesehen?«

Nein, das hatten sie auch noch nicht gesehen.

»Aber die Herrschaften sind Verehrer unseres Geheimrats?«

Myrtel schlug die Augen nieder, und der Freiherr Schenk von Geyern schwieg auch. Es widerstrebte ihnen, zu antworten. Myrtel war es zumute, als würde sie nach dem tiefsten Gefühl, das in ihrer Seele zu ihrem Gatten lebte, gefragt. Solch eine Fragerei!

Der graue Mann, der Musik trank, aber setzte schärfere Bohrer an, und er bekam mit Anwendung gehöriger Anstrengung aus den beiden wortkargen Reisenden so viel heraus, daß er ganz befriedigt aussah.

»Es sind also Goetheschwärmer,« sagte er sich. »Sehr innerliche Menschen, kinderloses Ehepaar, sehr glückliche oder sehr unglückliche Ehe. Jedenfalls ist er selbst Schriftsteller, will Weimarer Luft 70 schnappen, was doch sehr bekömmlich sein muß. Wissen nicht, wie sie's anfangen müssen, um hinein in die Geschichte zu kommen. Wahrscheinlich etwas weltfremd. Wenn sie wüßten, wie willkommen hier ein reputierlicher Edelmann ist. Zwar ist man nicht mehr ganz so darauf versessen wie früher bei Hof. Sie sind nicht mehr so ausgehungert, denn es fängt sich immerhin allerlei.«

Auf eine sehr bedeutsame Frage des Freiherrn Schenk von Geyern gab der rundäugige Herr zur Antwort:

»Da haben Sie sehr recht, Herr Baron. Geheimrat Goethe zu sprechen, hat seine großen Schwierigkeiten. Aber wenn Sie mir die Ehre Ihres Besuchs schenken, würde es mir eine Freude sein, diesen Weg Ihnen zu erleichtern.«

»Wirklich,« sagte die kleine Freifrau Myrtel, und ihre Augen begannen zu leuchten; denn ihr behagte es in der Seele ihres Gatten gar nicht, daß er so ziellos auf den Gassen hier umherschlendern mußte. Er kam ihr wie ein Bettelmann vor. Sie war ganz ärgerlich, und es schien ihr, als wären sie aus der größten Reinheit gekommen und hier in Schmutz und Unsauberkeit geraten. »Nur von niemandem 71 etwas wollen,« dachte sie. »Ach, was ist mit Gabi, daß er Fremde braucht! Ist er sich nicht selbst genug?« Das stimmte sie alles so traurig, und sie dachte: »Wenn er sich nur nicht täuscht! Reiche Leute halten alles, was sie haben, zusammen. Deshalb sind sie reich geworden. Wenn der Goethe nur kein rechter Hasenvater ist! Für seine eigenen Kinder hat der meine kein Wöllchen hergegeben. Weshalb soll Goethe so einem fremden Mann helfen, und wie helfen, und mit was? Gabi will ihm aus seinen Werken vorlesen.« Sie seufzte. »Goethe hat an sich selbst wohl übergenug, weshalb soll er die Träume eines andern beachten und ihnen dazu verhelfen, auf die Oberfläche des Lebens zu kommen? So sonderbar, ein Dichter, ein Ausdenker von Geschichten und Gefühlen und von Leben, wo alles Leben ist und jeder voller Leben steckt. Dazu noch Träume, die geschrieben wurden und gelesen werden sollen.«

Während ihr so allerhand Gedanken durch den Kopf gingen, war Freiherr Gabriel Schenk von Geyern mit dem Advokaten Gundelwein in das eifrigste Gespräch geraten. Und mit Erstaunen hörte die kleine Freifrau zu, wie sie miteinander 72 verabredeten, daß Herr Gundelwein ihnen zwei hübsche Zimmer in seinem Haus in der Wünschengasse vermieten wollte.

Sie würden natürlich nicht im »Elefanten« geblieben sein, das wäre zu teuer geworden. Das hatten sie auch dem Wirt sogleich gesagt. Aber daß es nun gerade bei Herrn Gundelwein sein mußte! Herr Gundelwein war ein Junggeselle, sogar ein geschiedener Mann. Das hatte er nun alles mit größter Offenheit gesagt, und das gefiel Myrtel, daß er so offen war und fast kindlich von sich sprach. Er hatte ihnen seine Vermögensverhältnisse so ziemlich klargelegt. Die waren nicht glänzend, aber auch nicht bedenklicher Natur. Er sagte ihnen, daß er sich so allein gefühlt habe, seit er sich von seiner Frau getrennt habe, und daß er daher porte ouverte für seine Freunde und Bekannten halte Tag und Nacht fast.

»So etwas muß es geben auf dieser Welt, wo jeder in einer Kapsel steckt und keiner den andern so recht eigentlich sieht und nie merkt, was ihm fehlt, und auch noch böse wird, wenn's einer sagt und nicht für sich behält. Aber zwei Zimmer hab' ich, an die wird nicht gerührt,« beteuerte er, »für die lass' ich 73 mir zahlen. Die können Sie ganz getrost nehmen. Meine kleine Haushälterin versorgt Sie, gnädigste Frau Baronin, und was meinen Ruf betrifft, so ist der gut,« sagte er einfach. »Ich glaube, man hält mich für etwas leichtgläubig, etwas kauzig, aber für ganz ungefährlich. Sehr verehrter Herr Wirt!« rief der Blonde mit dem Karpfenschnäuzchen.

Der Wirt kam lächelnd, in aller Harmlosigkeit, und mit großem Eifer fragte der Advokat: »Bitte, haben Sie die Güte, diese Herrschaften über meine Person zu beruhigen! Die Herrschaften wollen die zwei Zimmer, von denen Sie ja wissen, bei mir auf einige Zeit bewohnen. Sie werden ihre Mahlzeiten aber hier bei Ihnen einnehmen.«

Der Wirt dienerte.

»Nun sagen Sie es also, ob man bei mir unbedenklich wohnen kann?«

Der Wirt lächelte weiter, rieb sich die Hände und meinte:

»Hab's mir gleich gedacht, daß der Herr Advokat ein Auge auf die Herrschaften geworfen hat. Mir tut's freilich leid, meine Gäste zu verlieren, und wenn mich der Herr Advokat fragen, so kann ich nur sagen, daß 74 das Logis, von dem die Rede ist, sehr gelobt wurde – und Herr Gundelwein ist ein weimarischer Bürger, dem ein jeder mit Hochachtung begegnet.«

Das heitere Lächeln des freundlichen Wirts aber sahen nur die Stammgäste.

So mietete also Freiherr Gabriel Schenk von Geyern bei Advokat Gundelwein in der Wünschengasse sich ein.

»Jawohl«, sagte der Wirt am Stammtisch.

 

Nein, es ist ganz nett,« meinte die feine Myrtel zu ihrem Herrn Liebsten. Hans hatte das Gepäck über eine knarrende Stiege in den dritten Stock eines schmalen Hauses getragen, und da waren wirklich zwei alte behagliche Zimmer, die nichts zu wünschen übrig ließen. Auch für Hans hatte sich noch ein Gelaß gefunden, und die ermüdete Reisekutsche war von Herrn Gundelwein in eine kleine Scheune geschoben worden, die mit zu seinem Anwesen gehörte. So hatte er vollkommenen Besitz ergriffen.

Herrn Advokat Gundelweins elterliches Haus war drei Stock hoch. Im Erdgeschoß schlief er und hatte seine Kanzlei, im zweiten Stock hielt er sich ein 75 großes Eßzimmer und ein Wohnzimmer, auch noch ein Stübchen für die Haushälterin.

Der Advokat hatte eine recht hübsche und wohnliche Behausung. Die Straße war eng, das Höfchen war eng; aber man war doch wieder bei sich zu Hause.

Zehnmal am ersten Tag stürzte der Advokat Alf Gundelwein die Stiege hinauf, um zu fragen, ob die Herrschaften auch zufrieden wären, ob sie sich auch wohl befänden, und fast jedesmal sagte er: »Soeben sprach der und der, ein feiner, feiner Kerl, oder ein köstliches Paar bei mir vor.« Es war, wie es schien, immer etwas los. »Den müssen Sie kennen lernen. Die müssen Sie kennen lernen. Herrgott, Herrgott!« Oder: »Wie wär's? Heut wären noch Billetts zur Vorstellung im Theater zu haben.« Oder: »Was meinen Sie nun, was meinen Sie nun? Hier hat's mein kleines Florchen nicht ausgehalten, in diesen Räumen, ein ganzes Haus für sich und einen guten Kerl wie mich auch fast ganz für sich, außer dem Teil, der meinen Freunden gehört und der Menschheit.«

»Verdammter Kerl!« sagte der Freiherr.

»Laß ihn nur, er wird's schon machen,« meinte Myrtel.

76 Ach, sie war so müde. So schlimm hatte sie sich diese Reiserei doch nicht gedacht, so unnötig und zwecklos.

Zu Mittag gingen sie in den »Elefanten« und auch am Abend. Da saßen wieder die zwei Herren vom Hofe und spielten Bézigue, der Stammtisch unterhielt sich, nur der Herr, der die Musik getrunken hatte, war nicht zugegen; der hatte nun, was er wollte. Der Wirt aber ging auf und nieder und rieb sich die Hände.

Unbeschreiblich langweilig war's, die kleine, fade Stadt, mitten in Getreidefeldern, der kärgliche, junge Park.

Myrtel dachte an die Bäume bei ihnen daheim, die wie Berge aufragten.

Advokat Gundelwein kam immer mit alarmierenden Nachrichten die Treppe heraufgestürmt; aber es geschah nicht das geringste.

»Geh doch«, sagte die kleine Freifrau, »Deine eigenen Wege. Weshalb solltest Du bei Hofe nicht gut empfangen werden?«

»Da liegt mir gar nichts daran,« meinte er. »Ich will zu Goethe und nur zu Goethe! Alle andern sind mir gleichgültig, kosten nur Geld und Kraft.«

77 So war es gekommen, daß sie fürs erste einmal ins Theater gingen. Es wurde ein Stück von Raupach gegeben, nichts Besonderes; aber sie sahen Goethe in seiner Loge sitzen.

Da hatten sie wahrlich niemanden zu fragen brauchen. Eine stille gebietende Hoheit, ein leuchtendes mächtiges Augenpaar. Ausgelöscht sahen alle um ihn her aus, als wäre ihnen das Blut mit Erde vermischt. Er allein war der Mensch, das Ebenbild Gottes. Er leuchtete allein.

Myrtel drängte sich zart an ihren Ehegemahl an und fragte ein wenig schelmisch: »Kein Klumpen, kein Sack voll Eingeweide?«

»Bei Gott nicht,« antwortete der Freiherr hingerissen. »Hier ist der fürchterliche Stoff überwunden. Wie Christus und Elias könnte er gen Himmel auffahren im feurigen Wagen, oder wie er wollte.«

Der Freiherr war tief erregt. »Ein anbetungswürdiger Mensch, schon um seiner Menschlichkeit willen,« sagte er.

Sie gingen wie nach einem großen schönen Erlebnis nach Hause. Der Freiherr führte seine feine Myrtel am Arm.

78 Die zarte Seele brauchte nichts, schien es, zum Leben als den Frohmut ihres Liebsten. Sie war ganz selig. Sie gingen in den »Elefanten«, um zu Abend zu speisen.

Als sie in der Wünschengasse die Haustüre öffneten, schlug ihnen Stimmengewirr entgegen, und wie sie die Treppe hinaufgingen, begegnete ihnen der Advokat Alf Gundelwein mit einem ganzen Arm voll sehr sauberer hellstrahlender Potschamberl, die er fest an seine Brust gedrückt hielt. Sein blondes Haupt mit den runden Augen und dem Karpfenschnäuzchen schwebte selig lächelnd darüber.

Das junge Paar war von diesem Anblick ganz verblüfft.

Der Advokat aber kam keineswegs aus der Fassung, sondern rief wohlgemut:

»Ich habe heut nach dem Theater aus Jena Schlafgäste bekommen. Entschuldigen Sie einen Augenblick, meine kleine Haushälterin ist in Gesellschaft gegangen, und so muß ich's meinen Gästen zur Nacht behaglich machen.«

Die Tür stand auf, und das freiherrliche Paar sah, wie Herr Gundelwein unter das Sofa eins von 79 den Porzellangefäßen, die er im Arme getragen, stellte. Dann verteilte er alle übrigen in seinem Wohnzimmer. Sonst sah man keine weiteren Vorbereitungen.

»Waschschüsseln bekommen sie also nicht,« meinte Myrtel lächelnd.

»Bitte, treten Sie doch einen Augenblick in mein Eßzimmer ein,« bat der Advokat Alf Gundelwein, der aus einem braven Adolf sich einen Alf zurechtgemacht hatte.

Im Eßzimmer, an einem runden Tisch, saßen vier junge Männer. Eine Kerze brannte, und der Gastgeber trat jetzt mit seinen Mietern ein und stellte diesen die Freunde und Schläfer vor: »Die vier Männer im eisernen Ofen.« Da war ein Herr Mathias Heinloth, ein dicklicher, weicher, kleiner Mann, blond, mit einer Haut, als wäre Mehl darüber gestreut. Herr Gundelwein nannte ihn »unsern Dichter«. Da war ein Herr von Blonberg. »Unser Genie,« hieß es; lang war er, schön, ein Aesthet und Romantiker, sah etwas lasterhaft aus. Aber dies schien eine gepflegte Eigentümlichkeit zu sein; wie hätte er auch in Weimar dazu kommen sollen, von dieser Eigenschaft Gebrauch zu machen! Und noch zwei stellte 80 Herr Gundelwein vor, die er einfach vorzügliche Kerle nannte. Alle aber waren sie in Beziehungen zu irgendeiner Art Kunst.

Der Advokat hatte sie, wie es schien, prächtig ernährt. Ein großer Laib Brot lag auf dem Tisch, ein Krug Hausmuff, wie sie in Weimar das Hausbier nannten, stand da, Salzgurken und Käse waren die Nahrung der Vortrefflichen gewesen. Und der Advokat saß in der besten Laune unter ihnen. Er strömte über von Gastfreundschaft und Menschenfreundlichkeit. Seine Mieter hatten auch mit am Tische Platz genommen. Er bot an, was er zu bieten hatte, und saß ganz beseligt da. Menschen um sich zu haben, mußte ihm eine ganz besondere Seligkeit bereiten.

Seine Gäste sprachen wenig, das freiherrliche Paar hatte störend gewirkt; aber man fühlte, sie gehörten alle hierher, Herr Gundelwein war ihr Halt, ihre Heimat, ihr ganz gehorsamster Diener, ihr Spaßvogel und Ernährer und ihr guter Freund. Für alle schien er etwas im Treiben zu haben. Dem einen besorgte er einen Rechtshandel, dem anderen suchte er eine Stelle, dem dritten wollte er sein Stück beim Theater anbringen – und der Freiherr 81 Gabriel Schenk von Geyern, der sollte durch ihn mit Goethe bekannt werden.

»Spaß sachte,« meinte Herr Gundelwein, ganz glückselig in Geberlaune, als davon die Rede war. »Wir haben's schon! Wer kommt denn morgen zu meiner Frau?«

»Zu Deiner seligen Frau, sag' doch wenigstens!« lachte der kleine, dickliche Mathias Heinloth.

Der Advokat machte eine abweisende Handbewegung. Er wollte nicht gestört sein, denn er war ganz Feuer und Flamme. Die runden Augen und das Karpfenschnäuzchen waren in heftiger Bewegung.

»Ah – nu ja,« kam es gedehnt von den schön geschwungenen Lippen des Aestheten. »Die vortreffliche Mamsell Vulpius kommt!«

»Nun und?« fragte Herr Gundelwein. »Ist das etwa nicht genug?«

»Ihr seid ja sowieso dort eingeladen, und ich werde mir die Freiheit nehmen, meine verehrten Gäste zu begleiten.«

»Sancta Simplicitas!« rief der anscheinend lasterhafte Aesthet.

Dem Freiherrn Schenk von Geyern wurde es etwas beängstigt zumute. Er sah auf seine zarte 82 Myrtel. Die aber blickte unbefangen wie ein Kind auf die wunderliche Gesellschaft.

Das junge Paar erhob sich bald. Aber Herr Gundelwein nahm eifrig dem Freiherrn das Versprechen ab, morgen abend mit ihm zu seinem Florchen zu gehen, das einen jungen Schauspieler geheiratet habe. »Auch gnädigste Baronin sind sehr willkommen,« lud Herr Gundelwein im Namen seiner geschiedenen Frau eifrig ein.

Lächelnd verabschiedete sich das junge Paar.

So schien der Freiherr gar nicht übel gefahren, daß er es vorgezogen hatte, sich dem Schicksal anheimzugeben, statt bei der Oberhofmeisterin seinen Besuch zu machen, wie es sich gehört hätte.

 

Der Freiherr aber ging mit Herrn Gundelwein allein zu Florchens Abendgesellschaft. Ein bescheidenes Heim in einem kleinen Gartenrückgebäude.

»Sie werden sehen, wie schön sie's hat,« sagte Herr Gundelwein, »wie sie alles versteht. Ich mußte bei ihr immer an Salomons Lob des Weibes denken: Ihres Mannes Herz kann sich auf sie verlassen, und Nahrung wird ihm nicht mangeln. 83 Sie ist wie ein Kaufmannsschiff, das seine Nahrung von ferne bringt. Nie habe ich so gut gegessen, nie hatte ich alles so hübsch beieinander wie bei ihr. Sie sollen einmal sehen, was für Sonnenblumen sie in ihrem Gärtchen gezogen hat. Ihr jetziger Mann war ein dürrer ärmlicher Gesell; und wie sie ihn herausgefüttert hat!«

»Sie hat Sie also verlassen?«

»Freilich. Ich war ihr – wie soll ich sagen – nicht einheitlich genug. Wir im neunzehnten Jahrhundert sind doch wahrlich keine Philister mehr, keine Pfahlbauern. Welche Riesenentwicklung, seit wir Neuen da sind! Welches Weltbild schufen wir! Aber das Weib wird ewig rückständig sein. Darin macht Florchen keine Ausnahme. Vor – sagen wir – fünfzig Jahren würde es auch eine Unmöglichkeit gewesen sein hier in Weimar, daß ich mit Florchen nach der Scheidung, natürlich in aller Freundschaft, weiter verkehrt hätte. Sehen Sie, das ist mein Stolz, dieser Fortschritt der persönlichen Freiheit und Gesittung. Sie werden sehen, wie harmlos ich bei meiner geschiedenen Frau verkehre, wie herzlich ich aufgenommen bin, wie wohl ich mich dort fühle und bewege.«

84 Der Mann, der im »Elefanten« Musik getrunken hatte, begann den Freiherrn zu interessieren. Und es tat ihm fast leid, daß er Myrtel daheim gelassen hatte in den langweiligen Stuben, in der engen Gasse.

In Florchens Garten standen die Sonnenblumen den schmalen Weg entlang, der auf das Haus zu führte, so kräftig wie Grenadiere, die Spalier bilden. Sie glotzten einen förmlich zum Fürchten an, wenn man an ihnen vorüberging, mit ihren großen Gesichtern und den gelben Strahlenhauben.

»Böse Blumen,« dachte der Freiherr Gabriel Schenk von Geyern, »Blumen mit Fäusten und derben Knochen. Häßliche, grobe Personen.«

»Wenn Ihrem Florchen alles so gelingt wie diese Blumenparade! Ist's doch, als hätten die Kerls Hosen und Felleisen und trügen Gewehr bei Fuß.«

Da lachte Herr Gundelwein und sagte: »Das macht der Dung. Alles zu seiner Zeit und immer das Rechte.«

Aus dem kleinen Gartenhäuschen drang Lachen und Schwätzen hinaus in die Blumenfülle und in die Dämmerung. Es duftete auch nach Reseden, nach 85 strotzenden Gemüsen, Zwiebeln und Sellerie und Obst, Lauch und Salatkräutern. Florchens Haus war wirklich ganz von Nahrung umgeben. Es lag wie ein Brocken in einer Gemüseschüssel. Herr Gundelwein hatte recht: »Ihres Mannes Herz kann sich auf sie verlassen, und Nahrung wird ihm nicht mangeln.«

Im Gartenhäuschen ging es sehr munter zu. Es quoll fast zur Tür hinaus, so voll war es. Laute wurde gespielt und gesungen.

»Das ist mein Florchen,« sagte Herr Gundelwein freundlich, als sie eintraten, und zeigte auf eine große, volle, junge Person mit festen Gliedern und Händen und einem frischen Gesicht. Sie hatte etwas Ländliches, und man konnte ihr schon die Aufzucht dieser Blumengrenadiere zutrauen.

»Dies war mein Speisetisch,« sagte Herr Gundelwein wieder und zeigte auf ein altmodisches Barockmöbelstück, »den hatte ich mit Haus und Hof vom Vater geerbt. Florchen hatte ihn so gern. Den Schauspieler sehe ich nicht; der ist jedenfalls noch in der Probe beschäftigt. Da sind auch die Männer aus dem feurigen Ofen, die Sie gestern kennen lernten – und – und – da hätten wir Mamsell Vulpius, 86 Goethes Geliebte, seine kleine Freundin, den Zankapfel Weimars!«

Der Freiherr schaute auf und sah eine kleine, breitschultrige Frau mit einem der vier Männer aus dem feurigen Ofen lachen. Aber wie sie lachte! Es schien, als wäre sie ganz erfüllt von Sommerfreude. Die dunkeln Augen leuchteten, wie er nie hatte Augen leuchten sehen, voll Lebenslust und Wärme und freundlicher Güte, und ihr mohnblumenfarbiges Kleid strahlte. Ihre Ringe blitzten, das braune Lockenhaar war zierlich geordnet.

Sie sah aus, als müßte ihre Heimat auf Erden ein schöner Garten sein, ein Garten, in dem der Sommer schrankenlos herrschte, in dem man ganze Berge von Rosen brechen konnte.

Sie war kein Stadtkind, kein Landkind, einzig und allein gehörte sie in einen überschwenglichen Garten.

Der Freiherr konnte sich vorstellen, daß gar mancher sich vor solch einer verkörperten Sommerkraft scheu davonmachen würde, daß sie wohlerzogenen, kühlen, vornehmen Frauen unleidlich sein mußte; aber welche Frau sollte diesem Manne, der wie Elias im feurigen Wagen direkt in den 87 Himmel fahren konnte, standhalten? Eine feine adlige Dame? Ein kühler, knapp bemessener, wohlkultivierter Frauenverstand? Kluge, abwägende Sinne? Nein, es mußte ein Stück Sommererde sein, an Kraft und Freudigkeit und Hingebung unüberwindlich.

Er erkannte in der lachenden Mamsell Vulpius die überströmende Kraft, die von Goethes Atmosphäre nicht abgekühlt und eingesogen werden konnte, die ihm standhielt. Standhalten müssen sich die Menschen, die sich in Liebe zugetan sind. Sie dürfen sich gegenseitig nicht verringern, sonst ist Liebe ein Zerstören, kein Aufbauen. Der Freiherr sah also diese mächtige Kraft, die in dem kleinen fettlichen Körper eingeschlossen war, vertrauensselig tanzen und jubeln. Hier ins Häuschen, um das die tüchtigen Sonnenblumen wie Grenadiere standen und Wache hielten, da konnte kein kühles, vornehmes, geringschätzendes Auge blicken und lächeln. Hier war die tanzende, leuchtende, lustige kleine Frau sicher und konnte sich betragen, wie sie es wollte. Hier genoß sie das ungeheure Glück, daß ihr die Liebe des großen Mannes nicht als Schmach angerechnet wurde, sondern als hohe Ehre. Hier war 88 sie lustig und tanzte wie König David vor der Bundeslade.

Der Freiherr konnte die Augen nicht von ihr lassen. Welch ein Mondscheinleben führte er! Ihn würde die kleine, fette, jubilierende Kugel, die wie eine Lerche schmetterte, an den Nerven reißen. Er würde untergehen. Merkwürdig, daß durch das ungeheure Gewebe der Begebnisse Myrtel gerade sich zu ihm gefunden hatte, die feine Myrtel, die ihm von jeher wie von einem Geheimnis umhüllt erschienen war! »Wer eigentlich ist Myrtel?« dachte er hin und wieder. Was mochte diese Seele sein, der er nie auf den Grund sah, die sich nie gehen ließ, die in einer Zartheit und Anpassungsfähigkeit lebte, zu der wahrlich eine große Kraft der Seele gehörte oder eine unaussprechliche Liebe?

Mit einemmal fühlte er sich hier ohne Myrtel schauerlich vereinsamt; als wäre er unter Gespenster geraten, die ihn nichts angingen, und so war es wohl auch.

Florchen präsentierte ihren Gästen Apfelwein, selbstgebackenen Kuchen, bediente ihren getreuen ersten Ehemann, sprach freudig und angelegentlich mit ihm, schaute nach dem andern aus und fiel dem 89 lachend um den Hals, als er endlich aus seiner Probe kam. Man sah ihm an, daß er sich wohl fühlte, und er begrüßte gutmütig lächelnd seinen Vorgänger. Dem mochte es wunderlich zumute sein. Das liebe Häuschen im nahrungsreichen Garten, das flotte Florchen, der wohlgenährte Ehemann und sein eigener Barockeßtisch, alles schien ihm sich zu Herzen zu drängen, und so begann er, als alle bei Apfelwein und duftendem Kuchen es sich wohl sein ließen, einen schwermütigen Solotanz, hielt seinen weitschößigen grauen Rock mit beiden Händen weit von sich ab und war bewunderungswürdig in der Erfindung von allerlei fabelhaften Pas der grünbestrumpften Beine, die den Zustand seiner Seele ausdrückten. Besonders um den Eßtisch führte er einen tief melancholischen Kriegstanz aus, der seiner Seele Zwiespalt zum besten gab.

»Pröstchen!« riefen die vier Männer im feurigen Ofen. »Pröstchen!«

Mathias Heinloth trat aber auf ihn zu und sagte, indem er eine kleine schwapplige Handbewegung machte: »Dich sollte ein Dichtersmann verewigen! Wir möchten Dich verkaufen, wie Joseph von seinen Brüdern verkauft wurde. Du wärst ein Fressen für 90 einen Romantiker, und wir fürchten, daß Dein neuer Mietsmann Dich uns umsonst davonträgt und wir das Nachsehen haben.«

Der Freiherr aber trat zu dem kleinen Mann, dessen Haut wie mit zartem Mehl bestäubt war, etwa wie das Gesicht eines Bäckers, so sauber und frisch, und der die kleinen unnachahmlichen schwappligen Handbewegungen an sich hatte, und sagte: »Da müssen Sie sich schon einen Dichtersmann aussuchen, dessen Muse weniger schwerblütig und schwerfällig ist wie die meine.«

»O,« sagte Mathias Heinloth, »da täuschen Sie sich aber, verehrter Baron. Ich kenne kein schwermütigeres Huhn als unsern Gönner Gundelwein.«

»O nein,« sagte der, »das glaube ich nicht. Ich fühle keine Schwermut in mir, sondern eine Leichtigkeit, nichts Schweres. Ich muß mich unausgesetzt füllen. Mir geht's wie Münchhausens Pferd; wenn Sie wissen, wie es dem ging?« Niemand wußte es, Herr Gundelwein sagte es auch nicht, es war auch gar keine Zeit, näher darauf einzugehen. Denn Herr Gundelwein nahm den Freiherrn bei der Hand und führte ihn der lachenden und plaudernden Christiane Vulpius zu.

91 Er nannte den Namen des Freiherrn und sagte: »Hier könnten Sie etwas tun, verehrte Freundin; aber essen Sie nur erst ruhig ihren Kuchen. Ich weiß, Sie dürfen dem Geheimrat keine Anbeter zuführen; aber wenn Sie die Reisegutsche dieses Edelmanns sehen würden und wüßten, wie weit er hergekommen ist, Sie würden sich erbarmen. Natürlich dürfen Sie ihm nicht sagen, daß ich Sie darum bat, denn ich weiß, der Geheimrat will nicht viel von mir wissen.«

Eine dunkle Blutwelle war über des Freiherrn Gesicht gefahren, als Herr Gundelwein ihn der lachenden, sonnigen Frau wie saures Bier anpries.

»Ei,« sagte die, »so gefährlich is der Geheimderat nicht. Wenn ich ihm sag': Das ist ein lieber Mensch, den nehmen Sie gut auf, so ist darauf zu wetten, daß er's tut. Ich weiß ganz wohl, wen ich ihm schicken darf, und Sie werden ihm ganz genehm sein, auch ohne Reisegutsche. Ich hab' Sie mir längst daraufhin angeschaut, denn wen der Gundelwein so umsummst, mit dem hat er allemal was vor.«

»So spricht sie, die gebenedeite unter den Weibern!« sagte Herr Gundelwein, machte sein 92 Karpfenschnäuzchen und runde blaue Augen und starrte sie an. Da fuhr aber etwas wie ein Windstoß in einen vollblühenden Pfingstrosenbusch. Das kleine, fettliche, strahlende Weib schüttelte sich und rüttelte sich. »Merk' Er sich's!« rief sie zornig. »gar so wilde Bilder und Vergleiche und Gotteslästerungen, die lasse Er bleiben! Ich weiß es, ich hab' mei' großes Teil Glück und hab's wahrlich nich verdient. Aber glaub' Er mir, den ganzen weimar'schen Adel auf'n Buckel zu haben, und von all den kühlen Schnauzen durch den Dreck geschleift zu werden, is auch 'ne Marter.«

»Das sollte Sie doch nicht berühren, verehrte Freundin.«

»Mich nich berühren? Ja wen denn? Meinen Sie, die wissen nich zuzupacken, die miserablichen adligen Weibsbilder? Meinen Sie, in denen steckt kei' Marktweib nich, trotz aller Feinheit? Die verstehen's, sag' ich Ihnen, aus dem Effeff, wenn's gilt, einem was anzuhängen. Da hilft das bißchen Geist und Feinheit nix, da muß mer so e Guck-in-die-Welt sein wie Sie, Herr Gundelwein. Sie meinen, da komm' ich Tag vor Tag aus meiner Feierlichkeit nich raus. Jawohl, da sind Sie aber schief gewickelt. 93 Seine und meine Liebe in allen hohen Ehren, vor Gott; aber was das Menschenvolk uns in den Garten wirft. das weiß nur meine Wenigkeit alleine. Wie oft sie mich mit ihren Steinen treffen, das weiß auch der Geheimderat nich und soll's auch nich erfahren. Gott hat mich an einen ehrenvollen Platz gestellt, wo die Kugeln nur so sausen. Er wird wohl wissen. warum er's getan hat. Wenn da eins nich fromm wäre, müßt' es verzweifeln. Das sag' ich Ihnen, Herr Gundelwein, und deshalb erbost mich's, wenn Sie mit einer so dummehrigen Gotteslästerung daherkommen. Die Mutter Gottes hätt' ich nich für'n Schloß sein mögen. Jetzt tun sie sich leicht, da hat das Anbeten keine Schwierigkeit, wo in jeder Kirche ihr Sohn als unser Herrgott angesprochen wird; aber eh's so weit war!«

»Gleich so bös werden und außer dem Häuschen sein!« sagte Herr Gundelwein interessiert.

»Bös? Bin nich bös! – das nennt so e Männchen bös! Du tätst Dich umsehen, Herr Gundelwein, an meiner Statt!«

Da lachte das lebensvolle Weib und schnappte Herrn Gundelwein aus ihrem Glas einen kleinen Guß Aepfelwein ins Gesicht, winkte dem 94 Lautenspieler zu spielen und faßte den, der seine schöne Lasterhaftigkeit so künstlich pflegte.

»Tanzen wir!« sagte sie frisch, und so tanzte sie von ganzer Seele, als wäre sie nie von einer Sorge oder einem Leide bewegt worden, tanzte wie ein Kind. Sie tauchte ganz unter in Tanz und Bewegung wie in eine Flut.

Als sie einmal wieder an dem Freiherrn vorüberkam, gebot sie ihrem Tänzer: »Halt e bißchen! Also Sie kommen! Sie bekommen vom Geheimderat eine Einladung. Dafür stehe ich Ihnen gut. Basta!«

Mit dieser Verheißung im Herzen ging der Freiherr durch die Reihe der Sonnenblumen, die wie Grenadiere standen, um den Tanz und die große sommerliche Fröhlichkeit der Mamsell Vulpius zu bewachen, damit kein kühles Auge sie störte und kein böses Ohr das kindliche übersprudelnde Weib mißverstehen konnte.

 

Als der Freiherr nach Hause zu seiner Myrtel kam, fand er sie schlafend – tief schlafend. Sie erwachte nicht von seinem Eintreten, und er stand und blickte auf sie. Wie Leid zuckte es leise über ihren 95 Mund, das weiße, dünne Hemd schmiegte sich an die liebliche Gestalt. Es war unter dem Schleier des Lebens, als hätte ein inniger Künstler die Liebliche aus feinem, feinem Holz geschnitzt und hätte in seiner Einfalt gedacht: »Sie soll nicht sein wie aus Holz. Alles soll sein wie aus wahrhaftigem Leben. Gott helfe mir, Amen.«

Ja, es war des Freiherrn kleines Nönnchen, nicht ganz aus Fleisch und Blut. Es lag ein Geheimnis über ihr, ein Geheimnis, das er nicht ergründen konnte, in der heißesten Liebe nicht.

Eine namenlose Sehnsucht ergriff ihn, sie aus ihrer weißen kühlen Ruhe zu wecken, sie in aller Liebe an sich zu pressen. Wie ihm entrückt aber lag sie vor ihm. Und in der großen, fremden Welt erschien sie ihm wie das wundervolle Gefäß seiner eigenen Seele, als wohnte sein Selbst in ihr wie in einem heiligen Schrein. So empfand er ihre Liebe zu ihm. Er kniete vor ihrem Bette nieder und sog ihre Atemzüge in sich ein und fühlte sich ganz bei ihr zu Hause und doch nicht zu Hause. Denn so lieb und voll Liebe sie auch war, er fühlte nur sich selbst in ihr. Ihr eigenes Selbst aber schien verschlossen wie mit sieben Siegeln.

96 Dann erhob er sich leise und nahm aus einem Koffer das Manuskript, aus dem er Goethe einst vorlesen wollte.

Das Leben schien für ihn anbrechen zu wollen. Er fühlte Morgenröte in seiner Seele. Wohl war es ihm, und daß er die kleine Freifrau nicht geweckt hatte, daß er Herr seiner selbst geblieben war und daß sich sein leidenschaftliches Empfinden zu Bildern und Vorstellungen und geistigen Kräften gewandelt hatte: alles war gut, wie es war.

Seine Schreibmappe stellte er aufrecht zwischen die Schläferin und die Kerze auf den Tisch und versenkte sich ganz in seine eigene Dichtung: heute erschien sie ihm bedeutungsvoll und wert, deshalb zu leben.

 

Auf der wundervollen Treppe in Goethes Haus, die das Aufsteigen und Absteigen zu Auf- und Niederschweben umwandelt, die eine Offenbarung von Goethes Wesen ist, von seiner großen harmonischen Kultur, auf dieser Treppe, die wie ein königliches Kunstwerk inmitten all der unmöglichen, armseligen, jämmerlichen Stiegen im alten Weimar wie zu einem Tempel aufsteigt, lehnte mit der gepflegten, 97 zarten Hand auf dem breiten Geländer ein ganz in sich zusammengesunkener junger Mann, aller Kraft entkleidet.

Hinter ihm hatte eine Tür kühl und förmlich sich geschlossen, durch die er voll Begeisterung und Hoffnung, als käme er dem Quell des Lebens näher, eingetreten war.

Solch eine Treppe in einer ganz kulturlosen, wilden, kleinen Stadt, welches Persönlichkeits- und Bewußtseinszeugnis! Keine Prachttreppe. Der Philister tappt sie vielleicht empor und meint nur: »Die geht sich nich ibel.« Der Eingeweihte aber, der die Weihen empfing, geht hingerissen. Er steigt schwebend, gewissermaßen zu Goethes Seele hinan.

Wie war der, der jetzt wie von einem Sturm zerrissen und zerzaust da lehnte, emporgestiegen, voll Wissen und Verstehen und Begreifen, voll Jubel, daß einer jene, die zu ihm eintreten durften, zu sich emporschweben ließ, damit sie ihre mißbrauchte Menschlichkeit gewissermaßen im Steigen und Schweben zurücklassen konnten.

Dies selige, verstehende Empfinden war nun für immer vorüber.

98 Ausgestoßen, verworfen, mißachtet!

Solche Worte bohrten sich in die empfindsame Seele des Dichters und Freiherrn auf jener wundersamen Treppe.

Er konnte sich nicht fassen. Es war stärker als er. Ueber sein geliebtes Werk, das er da oben zum Teil vorgelesen, hatten ein paar mächtige Augen leicht und höflich hin und wieder gelächelt; die Züge hatten dies Lächeln nicht ganz zurückhalten können; auch ein unterdrücktes Gähnen war zu bemerken gewesen.

Ein Dichter aber ist hellsehend und hellhörig. Ein Gähnen ist Todesurteil.

Und nun hier am Quell des Lebens, zu dem er gereist war in der Sehnsucht seines Herzens.

Kein strenges Wort war gefallen, keine Mißbilligung.

Aber dem Vorlesenden war hier erst recht zumute gewesen, als läse er in ein Federbett hinein – kein Klang, kein Widerhall, unangreifbare Kühle, keine scharfe Zurechtweisung, die Labsal gewesen wäre, eine kleine, scharfe, nicht billigende Bemerkung über Romantik und romantische Auffassung, die ihm nicht ganz sympathisch sei.

99 Zerstreut war sein Richter, müde, der Abschied höflich, kühl, unbelebt. Zwei waren aneinander vorübergegangen, und der Himmel der Einswerdung hatte sich nicht erschlossen.

 

Herr Du mein Gott!« rief eine schöne, volle, gute Stimme. »Ja, was is denn das? Herr Baron, Ihnen is es ja schlecht. Sie sin' krank.«

Mit ein paar festen elastischen Schritten war eine kleine, dicke, sonnige Frau an seiner Seite, und ein mütterlicher weicher Arm faßte ihn ganz ohne jedes Zaudern um die Schultern.

»Kommen Sie,« sprach eine warme Stimme wie zu einem Kinde. »Wie gut, daß ich 'rauskam. Weiß Gott, wie lang Sie da gestanden hätten! Kopfschmerzen? Oder haben Sie's ein bißchen mit dem Herzen zu tun? Das kommt vor. Oder is es nur so eine Schwäche, die einen anwandelt? Kommen Sie mit mir in die Küche! Die is gleich da.«

So geleitete sie den Erschütterten in ihr Reich. Da strahlte und funkelte alles, und ein großer Blumenstrauß aus Gartenblumen prangte auf dem Tisch.

100 »Hier sin' wir alleine,« meinte sie. »Denn wenn ich koche, kann ich kein Weibsvolk um mich leiden. Dem Geheimderat sein lieber Küchenschatz kocht hier wie eine Königstochter.«

Während sie sprach, hatte sie einen Schrank geöffnet und eine Flasche Rotwein herausgeholt und goß dem Freiherrn in ein schön geschliffenes Glas ein, reichte es dem Zögernden an die Lippen und lächelte:

»Da wird frisch getrunken und auch ein Bröckchen dazu gegessen.«

Sie brach ein Weißbrot mit ihrer frischen Hand.

»Nur tapfer eingebissen. Zuallererst, wenn was is, denk' ich immer: es könnte ein Hüngerchen sein – un' wie oft war's nur ein Hüngerchen.«

»Gnädige Frau –«

Er wollte eine abwehrende Bewegung machen; aber damit kam er nicht an.

»I bewahre!« sagte sie. »Essen Sie nur und trinken Sie ein Schlückchen. Uebrigens bin ich nich die Frau, das weiß doch ein jeder hier. Ich bin die Mamsell Vulpius. Und wenn man uns zufrieden läßt, is mir's ganz recht so. Sie haben gestern 101 gesehen, wie böse ich sein kann; aber das is nur so'n Augenblickchen. 's gibt keine Kapelle, in der nich einmal Mette gelesen wird. Sollen mir alle den Buckel 'naufsteigen. Ich bin da, dem Geheimderat, meinem lieben Herrn, das Leben wohl bekömmlich zu machen. Er soll sich um nichts zu kümmern haben, und er soll wissen, daß jemand ganz und gar und mit Leib und Seele für ihn da ist. Und seine Speisen sollen meine ganze Liebe und Verehrung für ihn vorstellen. Solang ich nun für ihn leb', muß immer ein schöner Blumenstrauß in der Küche stehn, wenn ich koch', und im Winter zieh' ich Resedastöckchen und Primeln. Das soll andeuten, daß ich in Liebe und Freude alles für ihn tue. Aber Sie müssen auch trinken.«

Er saß in einem bequemen Korbstuhl.

»Den hat mir der Geheimderat selbst hergestellt,« sagte das sommerlich heitere Geschöpf. »Auch er sorgt für mich. Und was meinen Sie? Da ist schon mancher darauf gesessen, der das Herz voll Enttäuschung hatte. Die so fremd zu ihm kommen, kennen ihn. Es hat sie die Verehrung hergetrieben. Da sin' welche ganz des Kuckucks, Mannsleute und Weibsleute. Sie 102 kennen den Geheimderat durch und durch und wissen ihn ausewendig und können es sich gar nich vorstellen, daß er sie nich kennt – und da liegt der Hund begram. Mein Geheimderat kommt dann so aus seiner Welt daher und steht vor einem wildfremden Menschen und kann, und wenn er noch gütiger wär', als er is, so viel Menschenfreundlichkeit, wie die Wildfremden erwarten, mit dem besten Willen nich aufbringen. Und, schauen Sie, Sie haben ihm vorgelesen, ich hab's gehört, und er war heut so müde und abgespannt. Die Nacht war's ihm nich zum besten. Die Sappermenter am Hof haben allerhand von ihm gewollt, eine Rechnung kam; über den August hat er sich en bißchen geärgert. Es kommt doch, trotz aller Vorsicht, alles mögliche an ihn heran. Sie verstehen schon. Und wenn's noch so schön is, was Sie geschrieben haben, wissen Sie, nichts für ungut, es is doch eben der Goethe. So ganz außer dem Häuschen kann der darüber nich sein. Und Sie sin' jung, und er is leider Gottes schon recht alt. Wenn Sie einmal so alt sin' wie er, denken Sie auch über das, was Sie heut schrieben, recht kühl. Da wett' ich mit Ihnen um eine Bouteille Champagner.«

103 Der Freiherr reichte Mamsell Vulpius die Hand hin. Er hatte nur von seinem Glas genippt und erhob sich.

Sie aber hielt seine Hand fest und zeigte auf den Trauring und faßte ihn mit zwei Fingern.

»Ich weiß, die kleine Frau is mit. Machen Sie der das Herz nich schwer, Herr Baron! Sei'n Sie tapfer! Was wird's denn groß gewesen sein? Der Geheimderat war nich besonders aufgelegt. Das is de ganze Pastete. Ich hab' Sie mit Ihrer kleinen Frau hier vorübergehen sehn. Eine Frau leidet um den, den sie liebt, mehr wie um sich selbst. Der Herrgott hat es mit den Mannsbildern gar so vorsorglich gemeint, daß er ihnen so gute Kerlchen, die für sie sorgen fürs Leben, mitgegeben hat. Der kennt sich aus, was ein Mannsbild braucht.«

Nun nötigte sie dem Baron, der ihre Hand warm drückte, noch auf, das Glas auszutrinken.

»So sin' wir hier nich. Was eingeschenkt is, wird ausgetrunken. Das kann der Geheimderat nich ausstehen, wenn einer den teuern, herrlichen Wein im Glase stehen läßt wie so ein eiskalter Frosch.«

104 Trotz seiner Bedrücktheit lebte der Freiherr auf, hier in der blitzenden behaglichen Küche, in der sich starker Blumengeruch mit dem köstlichen Duft mischte, der vom Herd aus den sanft brodelnden, blitzenden Töpfen aufstieg.

»Wie gönne ich es ihm, daß er solch ein Wunder im Hause hat, wie Sie sind!« sagte der Freiherr. »Wie einsam wäre er ohne Sie!«

»Freilich,« sagte Christiane stolz und heiter. »Wir wissen auch, was wir aneinander haben. Mögen sie alle die Nase rümpfen! Wir sind wir!«

Das kam jubelnd hervor, wie aus einer Vogelkehle.

»Und nun Kopf oben! Mein Geheimderat is noch lang der liebe Gott nich, und ich wett', was Sie schreiben, is gut und schön, und er hatte nur schlechte Laune. Weshalb auch nich?« Sie begleitete ihn noch bis an die Haustür und ließ ihn dann seines Weges gehen.

Er aber trug ein Bild in seinem Herzen von einem liebevollen und klugen, fröhlichen Geschöpf, das ihm die dunklen Wolken von seiner Seele verscheucht hatte, als wäre ein frischer Wind über sie hingeweht.

105 Solang lebendiger Wind bläst, solang ducken sich die Wolken am Horizont oder ziehen vorüber. Aber wenn die Luft still wird, der Wind sich gelegt hat, da kriecht es daher und wälzt sich grau und schwer über den ganzen Himmel.

 

So gab es für die kleine Myrtel einen Tag, an dem ihre Seele zusammenzubrechen drohte, ganz erdrückt von der Last, die sie nun mit ihrem Ehemann schleppen mußte.

Wo sollten sie nun hin? Weimar war für sie zugeschlossen ein für allemal.

Der Freiherr wollte fort, unter allen Umständen fort. Trübselig saß er daheim, blätterte in seinem Manuskript, vergrub die Finger in seinem Haarbusch. Die kleine Myrtel kochte auf ihrem Reisemaschinchen Kaffee. Der köstliche, Lebensfreude und Behagen erweckende Duft durchströmte das Zimmer.

Die kleine Freifrau klapperte ganz zart mit den Tassen, legte in ein silbernes Körbchen ein paar kleine Kuchen, nahm ihren Liebsten an der Hand und führte ihn an den Platz am Fenster, wo sie ein weniges in die Wünschengasse hinabblicken 106 konnten. Sie war so still und leise und gut wie eine Mutter mit einem kranken Kind.

»Ach, Schatz,« sagte sie, »hat er denn in so kurzer Zeit, mit so einem einzigen Blick all Deine schönen lieben Erzählungen und Gedanken so vollständig auslöschen können? Denk' doch, wie ich alles liebe, was Du schreibst – und wieviel Menschen würden sich freuen, wenn sie Deine Sachen kennen lernten! Denk' doch, wie selten ein Goethe ist! Es gibt doch auch gar wunderliebe Vögel, die keine Nachtigallen sind.«

»Herrgott, Myrtel, hör' auf,« rief er zornig. »Das verstehst Du ein für allemal nicht. Du ahnst die Einsamkeit nicht, in der ich lebe, und weißt nicht, was diese Reise mir bedeutete.«

»Sie ist ja noch nicht zu Ende,« sagte Myrtel. »Sei doch geduldig!« Da hörte sie jemanden auf der Treppe.

»Laß mir jetzt den Menschen nicht herein.« Myrtel ging leise aus der Türe und stand sogleich draußen auf der Treppe dem Advokaten Gundelwein gegenüber.

Sie legte den Zeigefinger auf die schmalen Lippen, die Augen standen ihr voll Tränen.

107 »Ach, Herr Gundelwein,« sagte sie, »meinem Lieben ist's nicht besonders ergangen. Herrn Goethes Gusto waren die Sachen meines Mannes nicht gerade. Nun ist er schwermütiger wie je zuvor. Keines Menschen Macht kann ihn aus dieser Not reißen.«

Und die liebe Myrtel sank, in Tränen aufgelöst, an die Brust des Herrn Gundelwein. Das kleine, traurige, hilflose Weib mußte einen Halt und eine Stütze finden. Sie war so ratlos. Alle Opfer umsonst! Die Reise umsonst! Sie fürchtete sich nun auch vor daheim, vor der großen Stille und Einsamkeit, die sie mit einem Male ganz erkannte und fühlte. Denn sie lebte nun erfüllt von der Seele des Freiherrn Schenk von Geyern und hatte sich selbst verloren und vergessen, trug diese ungebärdige Seele in ihrer kleinen, sanften Person, die auf Erden nichts wollte als Friede, die mit ihrem lieben Herrgott so gern Zwiesprache gehalten hatte, die nichts wollte, als den kurzen Lebensweg über die Erde zum Himmelreich andächtig im Vorempfinden künftiger Seligkeiten gehen. Nichts würde sie gestört haben, auch die Seligkeiten hier auf Erden schon ganz in sich aufzunehmen, wenn ihr das Liebesschicksal nicht 108 bestimmt hätte, gebückt unter der Last einer trüben, werdenden, unruhvollen Seele zu gehen.

Der gute Advokat Gundelwein fühlte, daß eine kleine, weinende Heilige an seinem Halse hing. Kein verliebter Gedanke wagte auch nur bescheidentlichst in Herrn Gundelweins liebevollem, nicht ganz einheitlichem Herzen aufzutauchen.

»Liebe verehrte Frau Baronin, was betrübt Sie so?«

Sie erzählte, was sie wußte.

»I gar,« sagte Herr Gundelwein. »Das machen wir schon. Wer wird denn gleich so außer dem Häuschen sein? Wir wollen schon Mittel und Wege finden, den Herrn Gemahl aus seiner Trübseligkeit und Empfindlichkeit zu reißen. Heut abend komme ich ein bißchen mit dem Mathias Heinloth herauf. Der hat auf den Geheimderat einen Schleim, der wird schimpfen, und so was tut allemal gut.« 109

 


 


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