Theodor Birt
Das Kulturleben der Griechen und Römer in seiner Entwicklung
Theodor Birt

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8. Die Kunst und ihre Beurteilung

Aber zur Sache. Es gilt, über die geistige Produktion im nachhomerischen Griechenland einen Überblick zu gewinnen. Fortschritt ist da die unausgesprochene Losung, und er vollzog sich rapid und unaufhaltsam zunächst bis zu des Sokrates Zeit oder, etwas weiter gerechnet, bis zur Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. Beneidenswert die Zeiten, wo das geistige Wachstum mit der materiellen Kultursteigerung Schritt hält. Auch in der Renaissance Europas, die auf Dante folgte, war es nicht anders. Dürfen wir glauben, daß wir heut nicht das Gegenteil erleben?

Hesiod ist der erste Dichter, der über sich selbst Worte macht. So heben die Persönlichkeiten sich aus der Masse, und die Konkurrenz fördert den Fortschritt, eine kräftige Steigerung des Lebensgefühls. Das wenigstens war der Vorteil der Kleinstaaterei; denn jeder will seinem Heimatsorte das Beste geben. Zuerst regen sich in der weiten Diaspora des Griechentums die neuen Kräfte, draußen an der jonischen Küste Kleinasiens, in Sizilien und Süditalien, das man Großgriechenland nannte, sowie auch die ersten großen Tempelbauten in Samos, Ephesus und Pästum entstehen. Die Namen der Philosophen Thales, Anaximander, Pythagoras tauchen auf, Archilochos, Xenophanes, die Dichter. Dabei war das Wandern beliebt. Schon Thales reiste; Pythagoras ging von Samos nach Ägypten, dann nach Kroton usf. Auch die Dichter des Solo- und Chorgesangs wie Arion und Pindar ziehen von Ort zu Ort und bringen ihre Hymnen und Siegeslieder, bis endlich im 5. Jahrhundert Athen alle anderen Plätze überholt, alle besten Geister anzieht; Athen wird die Lehranstalt der Welt.

Auch die bildenden Künstler reisten ab und an, wenn man 129 sie rief; schon vor den Perserkriegen zog Krösus, der König Lydiens, der frühe Bewunderer des Griechentums, solche Männer in seine Hauptstadt Sardes.S. Herodot I 51: es handelt sich um den Erzgießer Theodoros von Samos. Zumeist aber war die bildende Kunst Lokalkunst, und die Meister hatten ihr Atelier dauernd in Athen oder Korinth oder Sikyon und bildeten da weiter ihre Schüler.

Vom Entwicklungsgang der bildenden Künste rede ich hier nicht weiter. Vor allem ist nicht zu vergessen, daß sie, obschon man die vollendete Kunst Ägyptens und Kretas kannte, doch ohne ausländisches Vorbild aus dem Primitiven heraus betrieben wurden. Jeder heutige Künstler wird jene Alten darum beneiden.

Das Nähere wissen heute schon alle unsere Schüler und die Mädchenpensionate, die pflichtgemäß durch das Antikenmuseum geführt werden, von den starren Steinfiguren der braven Anfangszeit mit den festangelegten Gliedmaßen und den einfältig grinsenden Gesichtern weiter über Polyklet und Phidias hinweg bis zu den warm beseelten Gebilden des Skopas und Praxiteles, in denen endlich Wahrheit und Schönheit sich zu vermählen scheinen und die wie wirklich lebende Wesen vor uns stehen, die da atmen, sinnen und träumen, aber noch jeden grelleren Effekt vornehm vermeiden. Bei alledem findet sich, wo man sich nicht am Porträt versuchte, viel Konventionelles, wie im sogenannten griechischen Profil oder in dem stets lockigen Haar der Jünglinge, als ob es nicht auch Männer mit glattem Haar gegeben hätte.Solch glattes Haar wird bei Plato (Euthyphron zu Anfang) für Melitos, den Ankläger des Sokrates, zufällig bezeugt. Reiche Mitteilungen dieser Art findet man hernach in den Physiognomikern (s. ed. Förster II p. 22). Virtuos steigert sich zugleich die reizvolle Behandlung des Gewandes, das, anfangs sorgsam als Toilettenstudie wie aus dem Modejournal gegeben, jetzt ganz anders wirkt und den Körper nicht zudeckt, sondern gleichsam in sich abbildet. Es steigert sich vor allem die Vorliebe für das Nackte, die das Sport eben mit sich brachte. Daher wird in der Großplastik nur der Mann nackt gezeigt; und, da nur die Jugend schön, so verjüngen sich nahezu alle Götter und Helden. Auch den Bart verlieren sie; ich denke an Bacchus und Hermes;Auch Asklepios, s. Jahresberichte des östr. arch. Instituts XXIII S. 1 ff. 130 sie verlieren den Bart mit dem Gewande; denn auch der Bart ist Verkleidung der Form.

Den Sieg der Nacktheit in der Kunst hat die weitere Antike durchgefochten; es fragt sich, ob es zu unsrem Vorteil geschehen ist. Ein aufregendes Ereignis war es, als in der Großplastik die nackte Aphrodite, die erste entkleidete Frau, entstand; es war ein Tempelbild. Aber der Künstler suchte diesen Umstand zum wenigsten noch zu motivieren. Die Göttin steht am Strand, um ins Bad zu steigen, und sie ahnt nicht, daß man sie sieht. Zudem ist der Süden so warm und so dazu einladend, das Kleid zu lüften. Für unser kaltes und nasses Klima haben solche entkleidete Wesen dagegen wenig Sinn, so massenhaft sie uns auch jetzt präsentiert werden, man müßte denn die Zentralheizung geltend machen, die vielen Damen heute das Kleid zu ersetzen scheint.

Das Publikum sah nun also die Tempelbezirke museumsartig mit neuen Bildwerken sich füllen und machte für den Schmuck seiner Gräber selbst Aufwand genug; aber es verlor darüber wenig Worte; kein Ah oder Oh der Freude oder Bewunderung, ob Nikebalustrade, ob Parthenonfries; aber auch kein Tadel. Die gleichzeitige Literatur schweigt alles tot, als ob es nicht existierte. Von der entzückenden Vasenmalerei mit ihren lebensprühenden Schildereien hätten wir überhaupt keine Ahnung, wären die Tausende von Belegstücken nicht ausgegraben; denn das ganze Altertum tut, als wüßte es nichts von ihr. Wie erklärt sich das? War es nur Verständnislosigkeit oder war man betäubt von der Überproduktion? Zwei Gründe haben hier gewirkt: es fehlte noch eine Ästhetik, wie ich schon sagte, eine für solche Dinge ausgebildete Sprache. Obendrein hatte jene Zeit noch völlig andere Kulturinteressen, und die gemachte Wahrnehmung führt uns dazu, diesen anderen Dingen nachzugehen.

Im Auge der Griechen waren alle jene Künstler nur Techniker, und sie wurden zwar keineswegs gesellschaftlich boykottiert,Der Bildhauer Sophroniskos verkehrt z. B. freundschaftlich in den besten Häusern, nach Plato, Laches p. 180. aber in Hinblick auf Menschenwert gering 131 geachtet.S. Plato, Rep. p. 590 u. 495. Daß man von Phidias redete, kam nur daher, daß er durch Perikles zur politischen Figur wurde. Ein Sokrates verließ das Bildhaueratelier seines Vaters; er wußte Besseres zu tun. Für den Bürger, der seinem Staat lebt, ist alle und jede Technik, die mit dem Körperlichen sich abgibt, Handwerk; sie ist Banausentum. Das Wort Banause hat der Grieche hierfür geschaffen. Ob sich jemand Schuhzeug anfertigen läßt oder ein Heraklesbild: er freut sich des Gegenstandes, der Verfertiger aber ist Banause. Es ist genug, daß man ihn bezahlt.

Niemand außer den Fachleuten interessiert sich überhaupt für das Technische, z. B. an den Wasserleitungen, den Brückenbauten, an den Schiffsbauten u. s. f., deren Vorteile man genießt. Ein Unikum ist, daß der Römer Julius Cäsar uns einmal im Detail den Bau einer großen Brücke beschreibt; den Bauleiter aber nennt er uns nicht.Sucht man bei den alten Historikern sonst nach eingelegten technischen Mitteilungen? Sie sind, wie gesagt, ganz selten wie über Verwendung von Kalk beim Bau der langen Mauer Athens (Blümner a. a. O. III S. 101). Herodot nennt kurz den Glaukos aus Chios als den Erfinder der Eisenlötung (I 25), den Theodoros von Samos als Gießer von Metallkunstwerken (I 51), berichtet auch einmal von dem Phänomen von unterirdischen Geräuschen im Laufgraben und Klingen des Schildes (IV 200). Kriegsgeschichtlich interessierte, daß der Tyrann Dionys I. die Artillerie erfunden habe (H. Diels, Antike Technik² S. 20 u. 94). Ein Lustspieldichter in Athen war es, der Metons Wasserleitungen erwähnte: Phrynichos com. frg. 21. Eine Maschine wie der Kran war immer gebräuchlich, wird aber nur für die Bühne gel. erwähnt (Blümner III S. 111). Man hatte auch schon Lupen als Vergrößerungsgläser, aber kein Autor bezeugt es (ebenda III S. 300). So erwähnt schon Herodot einmal einen durch das Bergmassiv getriebenen Wassertunnel auf Samos, aber er tut es nur um des kühnen Auftraggebers willen, des Tyrannen Polykrates. Xerxes schuf, als er gegen Hellas vorrückte, um seine Flotte hindurchzuführen, den berühmten Erd-Durchstich beim Berg Athos; die Griechen ließen das Werk hernach schmählich versanden, obschon es gewiß auch ihrer Schiffahrt weiterhin hätte nützen können, und finden keinen Ausdruck des Bedauerns.Im Gegenteil, Herodot findet für Xerxes nur Worte des Hohnes. Der Grund aber, weshalb man den Kanal nicht instand hielt, lag augenscheinlich in der Uneinigkeit der anliegenden griechischen Kleinstaaten..

Was hätten sie wohl zu der Jagd der Sensationsrekorde unsrer heutigen Technik gesagt? oder zu unsren illustrierten Blättern, die uns täglich mit Bildern davon ermüden und in denen Technik und Sport, Sport und Technik alles ist? Sie hätten die Ausnutzung der Elektrizität bewundernd akzeptiert, aber selbst den Namen eines Edison schwerlich genannt. Wir hören, wie sie sich sehnen nach dem Fliegenkönnen, ob im Selbstflug oder mittels eines Trägers;Das Fliegenkönnen war eine Lieblingsvorstellung der Griechen; vgl. gleich Aristophan. Aves 785 ff. Alle Götter schreiten durch die Luft; gewisse Götter sind durch Flügel besonders dazu befähigt. Dann versieht sich Dädalos mit Flügeln, er ist Selbstflieger und gelangt so auch zum Ziel. Unser Fliegen mit dem Apparat wird durch Bellerophon vorweggenommen, der auf dem Flügelpferd Pegasus reitet. Ausführlich wird dann das Hochgehen auf dem Mistkäfer von Aristophanes im »Frieden« dargestellt, auch der Eindruck, den der Unternehmer dabei hat. Dazu noch Aristophan. frg. 188, wo es heißt, daß beim Hochziehen des Flugzeugs die Maschinisten wieder und wieder rufen »Heil dir, Sonne« (χαῖρε φέγγος ἡλίου). So dann noch später bei Horaz c. 1 3, 38 das caelum ipsum petimus u. a. m. Vgl. »Von Homer bis Sokrates« S. 462, Anm. 2. Der Trost ist: »durch Worte schwingt der Menschengeist sich auf, erhebt sich, wenn er dichtet« (Aristophan. Aves 1447). die Konstrukteure unsrer Aëroplane aber wären für sie auch nur Banausen, Dienervolk. Alle solchen Leistungen sind nach antiker Auffassung nicht Kultur, sondern nur Versuche, 132 der Kultur zu dienen, welche Kultur selbst etwas ganz anderes ist.

Der freie Bürger hält für seiner würdig nur die Künste des gesprochenen und geschriebenen Wortes, nur die Berufe, die in die Ethik und Politik hinübergreifen. Das ist die geistige Aristokratie. Neben den Staatsmännern, Parlamentariern und Rechtskundigen, den Meistern der Redekunst sind auch die Dichter und Musiker Nichtbanausen, da sie die Seelen leiten und gedankenreich das Volk erziehen; dazu die Ärzte, soweit sie Wissenschaftler sind und dem Volkswohl dienen. Erst das Hinaufziehen des Lebens in die ethische Sphäre ist wirklich Kultur, wo man fragt nach Gott und Schicksal und Weltenwesen und Menschenpflicht, wo es sich um Wissenschaft und Recht und Sittlichkeit und Selbstveredelung handelt im Dienst des Nächsten und der Gemeinschaft. So dachte damals der Hellene; diese Aufgaben waren akut; er ruhte nicht, und alle Seiten seiner Literatur sind voll davon. Denn er suchte die Maßstäbe für die höchsten Dinge.

Folgen wir ihnen denn endlich darin. Gewiß liegt es uns heut fern, von Banausen zu reden, und wir geben unsren genialen Erfindern, auf welchem Gebiet es auch sei, alle Ehre. Gleichwohl wäre es gut, wir wüßten wie jene Alten eine Grenze zu ziehen. Denn auch wir sind immer noch die Suchenden, so wie es denn auch in dieser Zeit der klotzigen Lastautos und knallenden Motorräder gewiß immer noch Leute genug gibt, die wissen, worauf es ankommt.

 


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