Hugo Bettauer
Bobbie oder die Liebe eines Knaben
Hugo Bettauer

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XXI. Kapitel

Die beiden Schornsteinfeger

Aus einem schmucken Jungen mit schneeweißer Haut wurde innerhalb weniger Minuten ein regelrechter schwarzer Schornsteinfeger mit völlig verrußtem Gesicht, Kapuze, Strickbündel um die Hüften, Steigeisen im Gürtel und Leiter über der Schulter. Peter Möller betrachtete wohlgefällig sein Werk, erklärte, daß keiner seiner Kollegen auch nur einen Augenblick zweifeln würde, einen ordentlichen Kaminfeger vor sich zu haben, unterwies den Knaben nochmals im Gebrauch der verschiedenen Instrumente, steckte ihm vorsichtshalber auch noch ein mächtiges Taschenmesser zu und dann gingen sie los.

Auf der Straße erregte immerhin der kleine, schlanke Schornsteinfegerlehrling neben seinem Meister einiges Aufsehen, wenigstens unter den weiblichen Dienstboten, die, abergläubisch wie sie sind, gerne mit Schornsteinfegern in Berührung kommen. Hie und da streifte ihn auch eine Frauensperson absichtlich mit der Hand, weil solche Rußflecken Glück bringen, und ein hübsches, junges Ding bat ihn sogar um einen Kuß, für den sie ihm Geld anbot. Bob wies solche Ansuchen verachtungsvoll zurück, indem er ihr die Zunge herausstreckte.

Einige Minuten vor fünf Uhr waren sie in der Blumenstraße angelangt. Es hatte zu regnen aufgehört, vom blauen Himmel strahlte die Sonne unbarmherzig nieder und die Straße war menschenleer. Um die Ecke herum lugten die beiden unauffällig nach dem Hause Doktor Mortons. Richtig, gerade in diesem Augenblick wurde das Gartenportal geöffnet und gleich darauf rollte das große, blaue, geschlossene Automobil davon. Nun hielten sie sich noch etliche Minuten auf der Straße auf, flüsterten einander rasch noch einige Bemerkungen zu und gingen dann auf das Haus zu, um gemächlich die Gartenglocke zu ziehen.

Die Mulattin kam aus dem Hause heraus und näherte sich dem Gartenportal. So wie sie aber der beiden schwarzen Männer ansichtig wurde, rief sie unwirsch:

»Nix, Nix. Schornstein ist erst vor vierzehn Tagen gekehrt worden,« drehte sich um und ging zurück.

Aber Peter Möller rief ihr nach: »Nutzt nichts, Madame, wir müssen doch herein. Die Polizei hat gemeldet, daß Funken aus dem Schornstein fliegen! Das kann ein kleines Dippelbaumfeuerchen sein, und wenn das nicht in Ordnung kommt, brennt Ihnen das Haus über dem Kopf zusammen.«

Im Nu war Sara beim Gartengitter.

»Oh, du meine Güte! Ja, was soll ich denn da machen? Niemand ist zu Hause als ich, es wird doch nicht gleich brennen.«

Möller lachte scheinbar vergnügt, während Bob vor Aufregung innerlich zu zappeln begann. »Sie haben da gar nichts zu machen, schöne Frau, als uns nachsehen zu lassen. Na, und brennen wird es nicht gleich, aber in ein paar Stunden, wenn alles schläft, kann es den schönsten Brand geben, den die Blumenstraße erlebt hat.«

Nunmehr schloß die Mulattin die Gartentür auf und ließ die beiden eintreten. Sie war sehr erschreckt und kreischte ein über das andere Mal »Himmel!« und »Du meine Güte!«, und jammerte: »Wenn der Herr nur da wäre, oder wenigstens Sam!«

Sie betraten nun durch das Haustor die Halle der Villa Morton und Bob klopfte das Herz bis zum Halse hinauf. Aber er nahm sich zusammen, straffte die Muskeln und sah rasch und flink wie ein Wiesel in dem schönen großen Raum umher. Unheimlich sah es hier durchaus nicht aus, im Gegenteil, sehr anheimelnd sogar. Kostbare altenglische Möbel, prachtvolle orientalische Teppiche, Jagdtrophäen an den Wänden, mächtige Stoßzähne von Elefanten, silbernes Gerät. In einer Nische ein Telephonapparat, auf den Frau Sara eben aufgeregt und noch immer jammernd zuschritt. Ein furchtbarer Gedanke durchflog Bobbies Schädel. Die Mulattin würde jetzt sicher nach dem Lunaklub telephonieren, um ihren Herrn oder Bruder herbeizuholen.

Bob packte Möller am Arm und flüsterte ihm zu: »Rasch, die Frau aufhalten!«

Und Möller verstand zwar nicht den Zweck dieser Aufforderung, aber er gehorchte und rief der Mulattin zu: »Madame, sind hier im Hause Füllöfen oder Kamine oder eine Zentralheizung?«

Richtig wandte sich Sara ihm zu und sagte: »In einigen Zimmern haben wir Füllöfen, in den meisten aber Kamine für Holzfeuerung.«

Diesen Augenblick hatte Bob benützt, um blitzschnell mit dem geöffneten Taschenmesser an das Telephon heranzuspringen und die beiden Drähte, die sich oberhalb des Apparates entlang zogen, knapp am Holze des Apparates durchzuschneiden.

Wirklich stand nun Frau Sara schon am Telephon, kurbelte wie besessen und schimpfte, weil sich das Amt nicht meldete. Bob aber hatte die Kühnheit, in aller Ruhe zu sagen:

»Es wird kaputt sein. Wahrscheinlich hängt das damit zusammen, daß dort irgendwo in der Mauer die Leitung geht, wo das Feuer frißt.«

Peter Möller biß sich auf die Lippen, um nicht herauszuplatzen, aber die Mulattin erschrak, schlug die Hände über dem Kopfe zusammen und rief: »Also bitte, schauen Sie nur nach und löschen Sie, so rasch es geht.«

»Dazu sind wir ja da,« brummte Möller, »und nun führen Sie uns zunächst überallhin, wo es Öfen und Kamine gibt.«

Sara nahm einen Schlüsselbund, schrie, die beiden mögen nur ja nichts rußig machen, und begann, sie von einem Zimmer in das andere zu führen. Die Räume lagen im Halbkreis um die Halle herum, so daß jeder von hier aus seinen Eingang hatte, alle aber auch untereinander durch mächtige Schiebetüren verbunden waren. Bob war durch die prachtvolle Einrichtung der Zimmer überrascht. Man sah, daß alle diese Teppiche, Dekorationsstücke und Möbel nicht bei Möbelhändlern zusammengekauft oder auf Bestellung gearbeitet waren, sondern Sammelobjekte langer Reisen und wunderbare Erzeugnisse chinesischen, indischen, birmanischen Kunsthandwerkes oder alte Stücke aus der Renaissance- oder der Empirezeit oder der Epoche der Königin Anna waren. Nirgends fand Bob, der sich gut umsah, während sein Meister die Kamine untersuchte, irgendwelche verdächtige Spuren. Nein, das waren nicht die Verbrecherhöhlen eines Kindesräubers oder Mörders, sondern die mit raffiniertem Luxus ausgestatteten Räume eines kunstsinnigen Weltenbummlers.

Die Öfen und Kamine in allen Räumen waren nun untersucht worden, und der Schornsteinfeger sagte zu Sara, die immer hinter ihnen hergegangen war und jede schwarze Spur sorgfältig mit dem Staubtuch entfernt hatte: »Nun, Madameken, gehen wir oben hinauf.«

Brummend und unwillig schritt Sara voran die mit Teppichen belegte Treppe hinauf, und die drei betraten zuerst einen köstlich ausgestatteten, ganz in weißem Marmor gehaltenen Baderaum, an den sich der Reihe nach ein Garderobezimmer, das Schlafzimmer des Doktor Morton und ein Frühstückszimmer in schottischer Einrichtung anschlossen. Dieses letztere Zimmer wurde nach der anderen Seite durch eine Türe abgeschlossen, die gepolstert und mit grünem Billardtuch überzogen war. Die Polstertüre hatte keine Klinke, sondern nur ein schmales, für einen flachen Schlüssel berechnetes Schlüsselloch.

»Machen Sie mal hier auf, Madame,« sagte Möller.

Aber die Mulattin drängte ihn weg. »Hier gibt's kein Aufmachen, das ist das Laboratorium des Herrn Doktor, da kann niemand 'rein.«

Möller und Bob sahen einander rasch an, und Bob fühlte, wie er unter der Rußschicht im Gesicht erbleichte. Er hatte das Empfinden, daß sein Blut in rasender Eile vom Herzen in den Kopf und von dort wieder zurückströmte. Lauerte hinter dieser Tür nicht das Schicksal, begann hier nicht die Lösung des Geheimnisses, war er etwa nur ein paar Schritte von Gertie entfernt?

Schweigend verließen sie das Zimmer und betraten den Vorraum, der hier im ersten Stockwerk im Vergleich zu dem unteren auffallend klein war. Peter Möller, der Übung und Erfahrung hatte, wurde sofort stutzig und flüsterte, während Sara die enge Treppe zum Dachstuhl voranschritt, Bob zu:

»Außer dem einen verschlossenen Zimmer gibt es, an dieses anschließend, mindestens noch einen Raum, sonst müßte der Vorraum größer sein.« Laut aber sagte er, als sie auf dem Dachboden angekommen waren:

»So, jetzt werden wir die Geschichte gleich haben,« und begann die eisernen Türen, die nebeneinander in die Mauer eingefügt waren, zu öffnen. Sie führten in die verschiedenen Kamine des Hauses.

Möller beugte sich scheinbar sehr eifrig in die Löcher, hantierte in ihnen mit dem Besen, klopfte und rüttelte umher und sagte dann, über und über mit frischem Ruß bedeckt, zu Sara:

»Ich glaube, in dem einen Kamine da, der zum Küchenherde führt, glimmt die Mauer. Bitte, bringen Sie einen Kübel Wasser, damit ich den Besen mit einem nassen Lappen umwickeln kann!«

Sara ging, und Möller flüsterte, das Alleinsein benützend, dem Knaben zu: »Junger Herr, nun müssen Sie zeigen, ob Sie ein Kerl sind! Der Kamin da führt nicht in die Küche, sondern nach meiner Berechnung und wenn mich nicht der Teufel narrt, in das Zimmer mit der gepolsterten Türe. Kriecht einer durch den Schlot hier herunter, so kommt er durch den Kamin in das Zimmer hinein, denn daß dort ein Kamin und nicht ein Füllofen ist, erkenne ich an dem starken Luftzug. Ich kann aber nicht durch, ich bin zu stark! Wenn es einer kann, so sind Sie es junger Herr! Also aufgepaßt: Der Haken wird am Strick befestigt, den Sie um den Leib haben, dann kommt der Haken hier um das Mauerstück, Sie binden das andere Ende des Strickes fest um die Hüften und kriechen hinunter. Wenn Sie wieder herauf wollen, so benützen Sie den Strick als Leiter und ziehen sich nach oben. Übrigens warte ich ja hier, so daß nichts geschehen kann. Droht eine Gefahr, so rufen Sie zu mir herauf um Hilfe, dann wird mein Browning gute Arbeit tun.«

Bob zitterte am ganzen Körper vor Aufregung.

»Alles will ich tun, lieber Herr Möller, und wenn es das Leben kostet.«

Schon war aber die Mulattin erbost mit einem Kübel voll Wasser angekeucht gekommen. Möller manipulierte mit Hilfe eines nassen Fetzens im Schlot herum und meinte dann achselzuckend:

»Es ist so, wie ich es mir gedacht habe, da glimmt es irgendwo, aber es sitzt tief, ich komme mit dem Besen nicht hin.«

Grob und herrisch schrie er den Knaben an:

»Los, Bob, statt hier Maulaffen feilzuhalten, wirst du jetzt 'runterkriechen! Und wenn du zur Brandstelle kommst und dir die Pfoten verbrennst, so heule nicht, sondern kratze die Stelle ordentlich aus, wenn du nicht willst, daß ich dir dein Leder versohle!«

Ohne mit der Wimper zu zucken, sachgemäß wie ein echter Schornsteinfegerlehrling, machte sich Bob bereit, wickelte den Strick auf, flocht ihn durch die breite Öse des Einhakens, ließ das andere Ende durch den Meister sich um den Leib binden, der Haken wurde an der Öffnung der eisernen Kamintüre eingehakt, und eins, zwei, drei, schlüpfte Bob, sich mit den Füßen über den Türrand schwingend, in das finstere, etwa anderthalb Fuß im Durchmesser breite Loch hinab.

Bob war immer der beste Turner in seiner Klasse gewesen, und das kam ihm nun zustatten. Behend wie eine Eidechse, preßte er die schräg nach auswärts gedrehten Fußsohlen an die Ziegelsteine, während er mit den Ellbogen, die er ebenfalls an die Wand des Zylinders preßte, dem Körper Halt gab. Ließ er die Füße los, so hielt er sich mit den Ellbogen, hatte er mit den Sohlen an den Ritzen zwischen den Ziegeln Halt gefunden, so schob er wieder die Ellbogen nach, und so kam er langsam, aber sicher, mit schmerzenden, wundgeriebenen Gliedern hinunter, Schritt auf Schritt, Spanne auf Spanne. Nun verengte sich der Zylinder, und Bob mußte mit aller Kraft seinen schlanken Körper dehnen und strecken, um weiterrutschen zu können. Plötzlich stießen seine Füße auf Widerstand, er war auf dem Boden des Kamins in dem geheimnisvollen Zimmer angelangt.

Aber wie weiter? Sein Oberkörper steckte in dem engen Zylinder, die Beine hatten Bewegungsfreiheit in dem breiten Kamin. Mit gewaltiger Anstrengung grätschte er die Beine, beugte sich nieder, stieß mit den Füßen vorwärts, es klirrte und klapperte von brechendem Steinzeug, er rutschte aus, die Beine sausten durch eine Öffnung irgendwohin, und er saß nun auf dem Boden des Kamins, der Oberkörper in Dunkelheit, die Beine im Heizraum, die Füße schon im Zimmer. Eine letzte, verzweifelte Anstrengung, ein Vorwärtsschieben der Beine, und Bob lag auf dem Rücken, sprang auf und befand sich in dem Saale, der nach der einen Seite in das Frühstückszimmer führte.


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