August Becker
Die Nonnensusel
August Becker

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38

Auf dem Heerweg

Als in der Hochzeitsnacht der Charabanc des Kronenwirts vom »Roten Ochsen« von Münster aus durch das Stift zur Ruhbankhöhe gelangt war, konnte der Stumpe den beiden Schweißfüchsen an der Deichsel ihren ruhigen Lauf lassen. Denn von da an ging es unmerklich abwärts durch den wiesenreichen Klingbachgrund, und die Räder rasselten in eintönigem Lärm durch die stille Mitternacht. Dann ging es an den hohlen Weidenbäumen vorbei über die alte steinerne Brücke, durch deren Bogen der Klingbach murmelte und gurgelte. Und ruhig fuhr man weiter.

Kein Wort wurde dabei gesprochen. Der Kronenwirt lag, vom Wein übermannt, in der Ecke seines Sitzes und ließ den Kopf hängen und baumeln wie ein geknebeltes Kalb auf dem Schlächterwagen. Susel saß still in der anderen Ecke. Es war nicht zu erkennen, ob sie schlief oder wachte.

Nachdem endlich das Gefährt noch längere Weile über schlechtes Dorfpflaster gerumpelt war, hielt es vor einem stattlichen Haus. Es stand nicht mit der Giebelseite, sondern langgestreckt an der Gasse, in der Mitte das überbaute Tor. Während der Knecht ausstieg, kam eine alte, kleine behende Base sofort heraus an den Wagen, um so herzlich wie freudig die junge Herrin des Hauses in ihrem neuen Heim zu begrüßen und ihr vom Wagen zu helfen. Diese nahm den freundlichen Empfang ebenfalls nicht ohne Freundlichkeit, doch ruhig und mit Gelassenheit auf, während der Knecht seinen Herrn weckte und ihm mit einiger Mühe vom Wagen half.

Man trat ins Haus, durch die jetzt leere Wirtsstube weiter, unter Vorantritt der alten Frau, die ein Kerzenlicht im Leuchter hielt. Das schönste und freundlichste Zimmer im Haus war zur Brautkammer gewählt. Es lag, wie alle Wohnräume dortzulande, zu ebener Erde und hatte ein Fenster, das in die Gärten hinausging. Während Susel geflissentlich bei der Base verweilte, um noch einige Worte mit ihr zu wechseln, hatte der Stumpe seinen Herrn in das Brautgemach vorausgeführt, ihm die Stiefel ausgezogen und ihn ausgekleidet, um sich dann pflichtschuldig zurückzuziehen. Nun aber drängte die Base ihre neue Verwandte durch die Tür in das Zimmer, wünschte lächelnd »gute Nacht« und ließ die Klinke in die Klammer fallen.

Der Kronenwirt lag schon im Bett.

»Na, mach' voran, Susel«, lallte er.

Susel sah nach ihm hin – und wich schaudernd zurück. Sie antwortete nicht, rührte sich nicht mehr. Sie preßte die Lippen zusammen. Da hob er wieder den schweren Kopf in den schönbefranzten, blütenweißen Kissen und schob den Umhang zurück.

»So mach' doch, daß du nachkommst«, lallte er wieder. »Lösch' das Licht aus.«

Susel regte sich nicht. Sie war in die dunkelste Ecke des Zimmers zurückgewichen, die Hände an den jungfräulichen Busen gepreßt. Im Schein des Kerzenlichts hätte man ihren Widerwillen und ihr Entsetzen sehen können.

Nochmals hob er den Kopf höher. »Geh' doch auch schlafen, Susel!« Dann ließ er das schwere Haupt wie betäubt ins Kissen fallen, und schien sofort einzuschlafen.

Sie lauschte; ihre Nerven waren auf's äußerste gespannt. Schlief er? Sein Schnarchen schien dafür zu zeugen. Der Schauder zitterte ihr durch alle Glieder, und ihre Lippen bebten. »Allmächtiger!« flehte sie leise. »Gott, der du die Liebe und Barmherzigkeit bist, steh' du mir bei in dieser Pein und Not! Ist es Sünde, daß ich den Gedanken nicht ertrage, seine Frau zu sein? Hab' ich denn wirklich ja gesagt, und wenn, bindet denn dies Ja der Lippen, von dem das Herz nichts weiß? Löst es den Eid, den ich mir selbst geschworen habe: Keinem anzugehören, wenn nicht – ihm? Und nun – auch nicht mehr ihm!« Der Widerstreit ihrer Gedanken steigerte ihre Gewissensnot. »Ich kann nicht! Ich kann nicht!« stöhnte sie verzweifelnd. »Gib du, Allmächtiger, mir den rettenden Gedanken ein, vielmehr stärke meinen Entschluß!«

Sie sah sich um. Sollte sie die ganze Nacht hindurch hier frierend ausharren? Und morgen? Nein. Fort, fort!

Sie erhob sich hastig, dennoch vorsichtig und geräuschlos. Er schlief. Auf den Zehen eilte sie aus dem Zimmer. Im nächsten Gemach war es dunkel. Aber hinter dem lag ein anderes, wo die Base noch zu verweilen schien. Denn ein Geräusch war zu hören und ein Lichtschimmer drang durch das Schlüsselloch.

Sorgsam jedes Geräusch verhütend, klinkte Susel die Tür wieder ein und trat in das Brautgemach zurück. Dort lag der Kronenwirt und schnarchte wie eine Rebensäge. Sie eilte am Bett vorüber ans Fenster, streifte die kleinen weißen Vorhänge zurück. Das Fenster ging in den Zwetschengarten hinaus, wie sie bei dem düsteren Zwielicht der windkühlen Märznacht erkannte; es zu öffnen, war keine Schwierigkeit.

Sie hatte das Licht vorsichtig gelöscht und nach ihrem Kapuzenmantel gelangt, stieg mit einem Fuß auf den Schemel, den sie unters Fenster gestellt hatte, warf noch einen Blick auf das Bett zurück, in dem der ihr angetraute Mann schnarchte.

»Nein, nein«, rief es in ihr, »ich kann ihm nicht angehören. Er wird ohne mich fertig und sich trösten! Mag er mir verzeihen und Gott mir vergeben, wenn es eine Sünde ist – ich kann nicht anders.«

Und damit hatte sie sich auf das breite Gesims geschwungen. Rasch war sie draußen, mit leichtem Sprung auf dem weichen Grund des Gartens, worauf sie das Fenster in seine Fugen zurückzog, um den Schlafenden vor Zug zu schützen, wenn sie es auch von außen nicht völlig zu schließen vermochte. Nun eilte sie ohne Aufenthalt den »lebendigen« Zaun entlang, um einen Ausgang zu gewinnen. Am Ende des Gartens stieß sie auf eine Plankentür, deren hölzerner Riegel rasch zurückgeschoben war, worauf sie, von außen mit der Hand durchlangend, die Türe wieder verschloß.

Sie befand sich auf einem Fußweg neben einem unter Weiden und Pappeln langsam dahinströmenden Bach. Der Pfad ging hinter den Häusern auf einen Fahrweg, der ins obere Dorf zurückführte. Dann war sie auf der Straße, auf der sie vor kurzem hergefahren war. Sie wurde auch von dem Nachtwächter nicht behelligt, der, auf seinen Stock gestützt, an der Ecke der flüchtigen Gestalt argwöhnisch nachgeschaut hatte, ohne daß er das Recht zu haben glaubte, sie anzuhalten.

Weiter eilte sie ohne Säumen in die Nacht hinein. Kühl strich der Märzwind über die frischen, noch jungen Saaten. Es war keine freundliche Frühlingsnacht; die Eile machte der nächtlichen Wanderin nicht allzu warm; und so ging es leichtfüßig nur fort, immer fort, ohne daß sie fürs erste sich Rechenschaft darüber ablegte, wohin sie ihre Flucht eigentlich richten sollte. Erst da, wo die weichen Wasser des Klingbachs seltsam gurgelnd und glucksend unter den Erlen murmelten, an dem Pfeiler der alten Brücke halbwegs Münster zu, suchte sie für einen Augenblick Rast. Es war hier an dem Schauplatz mannigfacher Sagen jetzt unheimlich still. Nicht einmal die Atzeln, – das sind Elstern –, die auf die hohen Erlenwipfel ihre Nester bauen, schrien schäkernd wie sonst. Nur der Wind sauste durch das noch laubleere Astwerk, und unten murmelten die Geister des Wassers, keine frohen Grüße von Klingenmünster herunterbringend. Dennoch gedachte Susel lebhaft jener seligen Nacht, wo ihr hier das Glück der Liebe aufblühte. Hier wurden heiße Schwüre und Gelöbnisse gewechselt und durch Küsse besiegelt, und hier kam ihr nun zum erstenmal ihre jetzige Lage zum Bewußtsein.

Sie setzte sich auf eine steinerne Brückenwand und weinte, zum erstenmal an jenem Tage und in jener Nacht ihrer Hochzeit. Unten wallten die Wasser, auch heimatlos und ohne zu wissen, wohin.

Sie raffte sich auf. Hier war ihres Bleibens nicht. An den alten Weiden vorüber, den Zeugen ihrer einstigen Glücksnacht, eilte sie weiter, jedoch nicht nach Münster hin. Links führte der sandige Feldweg hinauf – dem folgte sie. Rechts hin kam im trüben Zwielicht der wolkigen Mondnacht Klingenmünster im Tal mit den Ruinen, die es überragen, in Sicht, die Kuppen des Abtskopfes, des Treitelbergs, des Rehbergs, der Bergwall des Heidenschuh. Von dem Flecken her verkündete eben das Nachtwächterhorn »eins«, als sie an der früheren Richtstätte des Galgens vorüber war und über den damals noch unheimlich überwachsenen Schluchtenrand der Bubenstube hinuntersah. Sie war sich der Verrufenheit dieser entlegenen Feldhöhe, wo die Fluren mehrerer Gemeinden zusammenstoßen, wohl bewußt. Sie kannte die Sagen, die sich an diese Gegend knüpften, auch die vom gespenstigen Großvater, der hier im Buschwerk umgeht und seine Sünden büßte. Oben an den Bergen lag Gleiszellen, und der Wind trug dann und wann den Klang des Nachtwächterhorns von dort bis auf diese entlegene Höhe. Ihr verstorbener Vater kam ihr in den Sinn. Ach, wenn er noch lebte! Sie wüßte, wohin sie sich wenden könnte, wo sie Schutz und Zuflucht fände. Allein die Toten kehren nicht wieder.

In demselben Augenblick machte sich ein starkes Geräusch seitwärts in unmittelbarer Nähe bemerklich. Befremdet wandte sie sich um, und ein Schauder faßte sie an. Ein gellender Schreckenston fuhr aus ihrem Mund. Dort, am Rand der unheimlichen Schlucht, stand ein Mann – er, dem sie unter allen Wesen in dieser Nacht am wenigsten begegnen wollte. Sie lief fort so schnell sie konnte, bis der Märzwind in den kahlen Ästen des Kastanienhains am Höhenrand über ihr sauste und die hohen Ränder des Wegeinschnitts sie aufnahmen, wo der Heerweg, vom Kreuzstein kommend, denselben kreuzt.

Unverweilt in diesen einlenkend, setzte sie ihre Flucht noch immer mit der gleichen Anstrengung fort. Unter allen Lebenden wollte sie gerade ihn, dem sie vertraut, den sie so innig geliebt hatte, nicht zum Zeugen ihrer nächtlichen Flucht haben. Geflissentlich hielt sie sich nicht in der unmittelbar nach Oberhofen führenden Richtung. Was wollte sie auch dort? Was jetzt noch im Hause ihrer Mutter? Dort fand sie keine Zufluchtsstätte in ihrer Bedrängnis, dort keinen Schutz und Beistand, keinen Trost, kein Mitleid, keine Teilnahme. Dort war ihre Heimat nicht mehr. Aber wo?

Wo vor tausend Jahren die kühnen Recken und leidenschaftlichen Frauen der Merowinger und Karolinger ab- und zugezogen waren; auf demselben Heerwege, wo der junge Hohenstaufe Kaiser Henricus asper alle Reichtümer der Könige Siziliens, den kostbaren Brautschatz seiner Konstanze auf Hunderten von Lasttieren nach dem nahen Trifels bringen ließ, von wo aus er die Eroberung der Welt ins Auge faßte: hier flüchtete ein verzweifeltes Menschenkind mit den Geistern der Vergangenheit und dem unheimlichen Spuk im eigenen Bewußtsein, von Angst und Gewissenszweifeln gehetzt, gottverlassen dahin ohne Hoffnung, ohne Ziel.

Die Nacht war rauher geworden, das Gewölk hatte sich gesenkt und rauschte zerrissen über das weite Land. Graue Nebelschwaden hingen an dem Dorngeheg über den Wegeinschnitten, oder sie eilten gespenstig vorüber. Ängstlich sich dann und wann umschauend, floh die nächtliche Pilgerin vorwärts. Ihre bänglichen Umblicke galten jedoch nicht den spukhaften Erscheinungen auf dem alten Heerweg, weder den geisterhaften Schweden, die drüben über das Bruch jagten, in dem sie einst versunken sind, noch dem schattenhaften Reiter ohne Kopf. Sie fürchtete den auf ihrer Spur, nach dem sich vor kurzem ihr ganzes Herz gesehnt hatte, und den sie von allen Lebenden zumeist zu meiden hatte.

Erst als sie die flache Feldhöhe erreicht hatte, fühlte sie sich etwas sicherer. Jetzt vermochte er sie wohl nicht mehr zu erreichen. Um so mehr wurde sie wieder die Beute ihrer Gewissenszweifel. Das Verhängnisvolle, das in seinen Ursachen, Wirkungen und Folgen völlig Unmeßbare ihres Unterfangens drängte sich ihr auf. Es war ein Bruch sondergleichen, mit allem Herkömmlichen, mit allen bürgerlichen und kirchlichen Geboten; es war wider alle überlieferten Regeln und Anschauungen, ein Abfall von Brauch und Gewohnheit. Indem sie nur den Eingebungen ihres sittsamen Herzens gefolgt war, hatte sie sich in Widerspruch mit der Sitte selbst gesetzt, sich gegen die Vorschriften ihrer Kirche aufgelehnt und außerhalb des Gesetzes, der bürgerlichen Rechte und jeglichen Familienverbandes gestellt. Sie war eine Ausgestoßene, hatte sich selbst aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Darüber gab sie sich keinem Zweifel hin.

Und dennoch empfand sie keinen Augenblick Reue; sie würde diesen Schritt wieder unternehmen – und stünde ihr noch Schlimmeres bevor. War es ein Frevel, diese nächtliche Flucht aus dem ihr bestimmten neuen Heimgut, sie wollte sich der Sühne nicht entziehen, sie wollte leiden, dulden, was ihr dagegen auferlegt wurde. Jedenfalls war es nur der kleinere Frevel; der größte war schon vorhergegangen und dadurch begangen, daß sie nicht schon am Altar – aus herkömmlichen Rücksichten und unter dem Zwang der Umstände – ein deutliches lautes »Nein« entgegengesetzt hatte.

Also hierüber gab sie sich keinen Selbstvorwürfen hin. Allein die Wirkung auf den schmählich Verlassenen, auf die Mutter, die Verwandten, auf die Welt! Das Aufsehen, die Schmach, der Hohn, der Groll und Unwillen aller, die sie nicht verstanden, dann Gram und Kummer der Ihrigen: das waren die Furien, die ihr folgten und mit den Gespenstern des Heerwegs sie durch den Nebelspuk der Märznacht weitertrieben an ein unbekanntes Ziel.

Und welche Folgen hatte ihr Wagnis für sie selbst? Wie sollte ihr Beginnen enden? Wohin sich wenden? Heim durfte und wollte sie nicht; in ihrer Mutter Haus war kein Raum mehr für sie. Dort erwarteten sie nur Scheltworte, Spott, Schimpf und Hohn; dort würde ihr nur die Kette, die sie gebrochen hat, neu angeschmiedet.

Zur Mutter zurück konnte sie also nicht mehr. Dunkel schwebte ihr vor – wie allen Mühseligen und Beladenen, allen dem Elend und der Not des Tages Entrinnenden, den Verfolgten und vom Gewissen Gejagten jenes Landstrichs zu jenen Zeiten – noch vor Tagesanbruch die Grenze zu erreichen, sie bei Weißenburg zu überschreiten, wie die Polen jener Tage, die nach heldenmütigem Kampf ihre Heimat verließen, um auf fremder Erde sich ein neues, voraussichtlich kümmerliches Dasein zu begründen. Was dort beginnen? Das wußte sie noch nicht. Sie hatte jenseits der Grenze Verwandte, die ihr wohl auf einige Zeit eine Zuflucht gewährten, wenn sie solche beanspruchte. Dann wollte sie sich im Elsaß, wo man sie nicht als die reiche Susel von Oberhofen kannte, einen Dienst suchen. Sie hatte arbeiten gelernt von Kind an, in Feld und Haus; sie verstand das Vieh zu besorgen, zu grasen, zu spinnen, zu nähen, zu bügeln, zu kochen und die Haushaltung zu führen. Sie war willig, und durfte sich etwas zumuten.

Ja, einen Dienst wollte sie suchen, unerkannt als Magd. Und wenn das nicht gelang oder nicht mehr ging, ach, da wollte sie wie Tausende ihrer Landsleute über Havre de Grace nach Amerika – wenn sie das Reisegeld aufbrachte, oder – eine lang vergessene Erinnerung tauchte in ihr auf, – der Vetter ihres verstorbenen Vaters fiel ihr ein, der in der Frankenthaler Gegend als Lehrer lebte. An ihn wollte sie sich brieflich wenden, wenn ihre Stellung als Magd ihr unerträglich würde, was sie jedoch keinesfalls befürchtete. Sie wollte schon brav, fleißig und sorgsam dienen, daß die Leute sie liebgewännen; sie wollte sich gewiß gut halten.

Also nur fort, nur immer weiter auf dem Heerweg, den sie geflissentlich einhielt, ohne rechts abzuzweigen nach dem heimatlichen Dorf, das unfern drüben hinter den kahlen Bäumen lag. Dort schliefen jetzt wohl alle schon, und niemand dachte mehr an sie; niemand träumte davon, daß sie zu dieser Stunde allein, müde, abgehetzt draußen auf nächtlicher Flucht den Heerweg entlang das öde Land durchwanderte.

Ja, sie war müde, todmüde. Die leichten Brautschuhe an ihren Füßen boten auf diesem Wege keinen Schutz, und ihre weißen Strümpfe, über denen das schwarze Schuhband sich kreuzte, waren bereits vom Nachtnebel durchfeuchtet. Schon lag der stille Wiesengrund vor ihr, den der Heerweg bei dem einstigen Kirchhof des untergegangenen Dorfes kreuzte. Da trug der Wind den Hahnenschrei aus der Heimat her, und Jubel, Musik, den Klang eines Walzers. Sie tanzten noch zur Feier ihrer Hochzeit – und die Braut saß jetzt weinend in der rauhen Märznacht auf dem alten Markstein von Weier – ein armer, verzweifelter Flüchtling.

Sich traurigen Betrachtungen hinzugeben, war Anlaß genug für sie vorhanden. Die Macht der Gegensätze stürmte auf sie ein und überwältigte ihre mühsam errungene Fassung. Sie hatten wohl auch Hochzeiten gefeiert, die von Weier; dann kam mit der Pest und dem Hunger der Tod, und nun ruhten sie schon über zweihundert Jahre unter der Erde, und der Pflug geht über ihre Gräber und die Stätten ihrer Wohnungen, und sie spüren und wissen es nicht, die Glücklichen! Lustig grünt die Frühlingssaat über der Stelle.

»Vater, o Vater, nimm mich zu dir!« klagte die Einsame auf dem Markstein, schnellte aber plötzlich auf zu weiterer Flucht, als ein Hochzeitsgast den Weg von Oberhofen her taumelte und die Erscheinung auf dem Feldstein anrief. Die Stimme kam ihr bekannt vor.

Flüchtig setzte sie über die Wiese und den kleinen Bach, die Apfelhöhe hinan und hinunter ins weite Feld von Bergzabern, nochmals über brückenloses Gewässer, so daß die nächtliche Pilgerin mit triefend nassen Füßen, vom finsteren Gutleuthof stets in gerader Richtung, durch tief eingeschnittene Hohlwege weitere Feldhöhen überstieg, bis die Hunde der Mennoniten des einsamen Deutschhofes und des Kaplaneihofes links aus dem Grunde bellten. Noch schritt sie unverdrossen, stets in gerader Richtung vorwärts. Bald jedoch wußte sie, da weit und breit kein Dorf war, nicht mehr, wo sie sich befand, noch wohin sie sich wenden sollte. Noch mehrere sumpfige Wegstellen in den Niederungen hatte sie durchwaten müssen. Die nassen Füße und die rauhe Frische der Märznacht machten sich mehr und mehr geltend. Und so war Susel froh, als sie auf der jenseitigen Höhe ein großes, von Pappeln umgebenes Gebäude zu unterscheiden vermochte, in dem sie Schloß Gaisberg oberhalb Weißenburg zu erkennen glaubte.

Die nächtliche Pilgerin fühlte sich jetzt schon recht müde und erschöpft. Als sie sich wieder einen Hohlweg entlangschleppte, stieß die Erschrockene auf einen Hund, der ihr den Weg verstellte und sie grimmig anbellte. War er der getreue Begleiter eines Grenzzollwächters, war er der Genosse kecker Schmuggler?

»Wer da?« rief eine starke Männerstimme vom Wegrand herunter.

»Gutfreund, wer Ihr auch seid«, bat Susel, »nehmt den Hund zurück!«

»Philax, daher!« sagte der Mann, dessen große Figur sich jetzt deutlicher vom Wegrande abhob. »Ihr seid früh auf dem Wege. Wo kommt Ihr her?«

»Von weither«, antwortete Susel mit einem Seufzer. »Ist das drüben auf der Höhe der Gaisberg?«

»Nein, der Haftelhof. Bis Ihr den Gaisberg seht, habt Ihr noch eine geschlagene Stunde.«

»So? Wie weit ist's noch bis zur Grenze?«

»Eine gute Stunde. Wohin wollt Ihr eigentlich?«

»Wohin mich meine Füße tragen. Gute Nacht!«

»Gute Nacht. Gebt acht«, rief der große Mann ihr nach, »daß Euch kein Grenzjäger begegnet – es sind ein paar rohe Patrone bei unserer Zollpartie. Und dann nehmt Euch vorn am Heidenbrunnen, wo es über das Wasser geht, in acht. Nasse Füße tun nicht gut!«

»Wo liegt und wie heißt das nächste Dorf, guter Mann?«

»Gleich rechts im Tal gegen das Gebirge zu: Oberotterbach. Ihr werdet den Guttenberger Schloßturm auf der Bergspitze sehen.«

»Besten Dank, gute Nacht!«

»Gute Nacht!« rief der Mann, während er weiterging. »Der liebe Gott geleite Euch an einen guten Ort!«

Der Segenswunsch aus fremdem Munde ging der einsamen Pilgerin sehr ans Herz. Als sie später den Bach vor sich glitzern sah, aber keine Brücke bemerkte, ihre Schuhe sich schon tief mit Wasser füllten und ihre weißen Strümpfe sich im Schlamm rot färbten, zog sie sich wieder zurück und suchte nach einem Stein, um sich auszuruhen. Denn sie hatte sich bis zur Erschöpfung abgearbeitet im Morast und konnte sich nicht mehr zurechtfinden in der Dunkelheit. Sie fand einen solchen Stein, setzte sich, überwältigt von Trostlosigkeit und verzweifelnder Verlassenheit. Eine Weile schluchzte sie in ihre Hände hinein. Doch konnte sie hier nicht länger bleiben. Die kalte Morgenluft scheuchte sie auf, sie mußte weiter.


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