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VIII.

Louise hatte, wie wir sahen, den eingetretenen günstigen Moment benutzt, um sich den Zudringlichkeiten des Doctors mittelst einer schnellen Flucht zu entziehen. Durch ein Hinterpförtchen – um von Hause aus nicht gesehen zu werden – gelangte sie in den Garten und warf sich hier, erschöpft von dem raschen Laufe, noch mehr aber von der heftigen Aufregung der letzten halben Stunde, auf die in der kleinen Laube befindliche Bank.

Einige Zeit saß sie da, versunken – nicht in Gedanken, denn solcher war sie nicht fähig – nein, in überwältigendem bittern Schmerz. Wie gellende Mißtöne, die unser Ohr beleidigen, so daß wir unwillkürlich zusammenfahren, so durchzuckten die Empfindungen von gekränkter Würde, Entrüstung und Widerwillen ihr Inneres, und wiederholt fuhr sie entsetzt auf, als habe eine giftige, ekelhafte Schlange sie berührt. Dann wieder war es ihr, als sei ein Verruchter in das Allerheiligste ihres Herzens gedrungen und habe laut und freventlich die Gottheit gelästert, deren erhabene Majestät sie hier in frommer Andacht verehrte. Und dann, so kam es ihr vor, schwebte sie in großer Gefahr, sie floh und wurde verfolgt. Sie floh schneller und immer schneller, aber ihr Verfolger kam ihr mit jeder Secunde näher – ein Abgrund lag vor ihr – ein tiefes, schnellfließendes Wasser rauschte – sich hineinstürzen war der Tod, aber es war auch die Rettung vor der Schande – schon beugte sie sich über die schauerliche Kluft – da zuckte sie wieder zusammen, und ein Schrei entfuhr ihren Lippen.

So jagten sich die von ihrer Phantasie erzeugten gräßlichen Bilder in ihrem fieberhaft erhitzten Gehirn, und nur nach und nach gelang es ihr durch gewaltige Anstrengung, sich zu sammeln und die wildverworrenen Vorstellungen zu klaren Gedanken zu ordnen. Aber wie das an die Dunkelheit gewöhnte Auge durch ein plötzlich aufloderndes Licht geblendet wird und die Gegenstände erst in zitternden, verschwimmenden, dann aber in immer deutlicheren, schärferen Umrissen erkennt, so vermochte sie auch erst allmählig das eben Erlebte klar zu überblicken, es mit Vergangenem zu verknüpfen und die möglichen Folgen davon zu ermessen. Nun erst verstand sie die an Widerwillen grenzende Abneigung, die ihr der Doctor von jeher eingeflößt hatte. Ihr Gefühl, ihr weiblicher Instinct hatte sie dunkel ahnen lassen, was ihr Denkvermögen sich geweigert hatte, in seinen reinen Kreis zu ziehen; ihr Gefühl, ihr Instinkt hatten ihr leise zugeflüstert, daß jener Mann ein Elender, ein Wollüstling sei, der Böses gegen sie im Schilde führe, während die Vernunft ihr laut gesagt, daß er ihr und der Eltern treuer Freund und Wohlthäter sei.

Sie vergegenwärtigte sich manchen kleinen, halbvergessenen Auftritt der letzteren Zeit, seine eigenthümlichen, lange haftenden Blicke, seine verblümten Aeußerungen der Theilnahme, Hingebung und Bewunderung, seine steten Aufmerksamkeiten und oft nicht gerade zarten Schmeichelreden; und so wenig der Beachtung werth, so nichtssagend und unbestimmt ihr das Alles auch bisher erschienen war, jetzt sah sie zu ihrem Schrecken darin die Anbahnung zu dem, was heute eingetreten war. Er hatte ihr Ohr nach und nach daran gewöhnen wollen, doppelsinnige oder nur halbverständliche Liebesworte von ihm zu hören, damit es sie nicht zu sehr erschrecke, wenn er zuletzt offen seine Absichten erklären würde. Er hatte ihr in Tausendtheilen die Tropfen des Giftes beibringen wollen, damit sie zuletzt ohne zu großen Abscheu den ganzen Becher leeren möchte.

Sie machte sich bittere Vorwürfe, daß sie nicht schärfer gesehen, daß sie seine zweideutigen Huldigungen und Schmeichelreden nicht früher mit gebührender Strenge zurückgewiesen; sie klagte sich an, ihm gewissermaßen ein Recht eingeräumt zu haben, noch einen Schritt weiter zu gehen; denn verhehlen konnte sie sich's nicht, dem ganz gleichen Benehmen eines ihr weniger gleichgültigen, weniger widerwärtigen Mannes hätte sie eine weit größere Bedeutung beigelegt. »Aber, mein Gott,« sagte sie wieder bei sich selbst, »warum habe ich das Alles erduldet, statt es verachtend von mir zu weisen? Doch nur im Gefühl der Dankbarkeit, die ich ihm schuldig zu sein glaubte, und mehr noch aus kindlicher Rücksicht gegen meine armen Eltern.« – Trug sie daher auch nur die kleinste Schuld an der Beleidigung, die ihr heute zugefügt worden war? Nein, ihr reines Bewußtsein sprach sie frei, wenn sie sich auch zu ihrer Beschämung gestehen mußte, daß er sie bis zu einem gewissen Grade habe mißverstehen können.

Aber war er dann weniger verächtlich, weniger strafwürdig? Nein, in einem um so schlechteren, hassenswertheren Lichte mußte er ihr erscheinen, je weniger sein heutiges Benehmen ein nur momentaner Ausbruch leidenschaftlicher Wallung, je mehr es die consequente Förderung eines schlau durchdachten, lange schon reifen Planes war. Und wie beharrlich hatte er nicht seinen schändlichen Zweck verfolgt? Welche mächtigen Hebel hatte er nicht in Bewegung gesetzt, ihn zu erreichen? – Seine jahrelang fortgesetzte Huldigung, seine den Eltern geleisteten großen Dienste – – aber waren denn diese letzteren, wie er ihr mehr als einmal deutlich zu verstehen gegeben, nur deshalb ihnen erwiesen worden, um zu diesem einen Zweck zu gelangen? Sie vermochte einen solchen Gedanken nicht zu fassen; aber waren sie es wirklich, so mußte sich ihr zunächst die Frage aufdrängen, wie würde er sich jetzt den Eltern gegenüber benehmen, da seine Anschläge gescheitert waren? Oder würde er sie auch jetzt nicht als gescheitert betrachten? Er war nicht der Mann, einen einmal gefaßten Entschluß aufzugeben; mußte er es aber, so war von seiner Rachgier gewiß das Schlimmste zu befürchten. Und dann, was sollte aus ihren Eltern werden? Durfte es ihnen auch nur einen Augenblick länger verheimlicht bleiben, daß, was sie mit inniger Dankbarkeit als eine Hülfe in der Noth von ihm annahmen, das Sündengeld sei, für das die Gunst ihrer Tochter erkauft werden sollte? Mußte sie nicht zu ihnen eilen und ihnen mittheilen, was ihr heute begegnet war?

Schon erhob sie sich – schnell wollte sie in das Haus gehen, sich ihren Eltern in die Arme werfen, ihnen Alles sagen; aber gleich darauf besann sie sich und nahm ihren Platz wieder ein. »Nein,« sagte sie sich, »nimmer würde mein Vater das Schreckliche glauben. Alles würde er für einen bösen Traum halten, für das Erzeugniß einer überreizten, erschreckten Phantasie. Und wenn ich ihm auch getreu jedes Wort wiederholte, das mir der Elende gesagt – was beweisen diese Worte? Ist ihr Sinn nicht unklar, jeder Deutung unterworfen? Nicht die Worte waren es ja so sehr, die mein Innerstes empörten, als – o mein Gott – seine Erregtheit, seine maßlose Leidenschaft. Mir zwar mußte der letzte Zweifel schwinden; aber würden Andere, würde mein armer Vater, der sich ihm so sehr verpflichtet fühlt und ihm sein ganzes Vertrauen schenkt, in dem, was ich anführen kann, einen genügenden Beweis seiner frevelhaften Absicht sehen?«

Es mußte reiflich überlegt werden, wie sie sich in dieser schrecklichen Lage zu verhalten habe. Vorschnell und unter dem Einfluß ihrer heftigen Gemüthsbewegung durfte sie nicht den Samen des Argwohns und Zweifels in die Herzen ihrer schon schwer genug geprüften Eltern streuen. »O, wäre nur Ida hier,« dachte sie, »aber so, wie allein, wie rathlos fühl' ich mich nicht und – wie unsäglich unglücklich!«

Eine Thräne trat in ihre bis jetzt trockenen, starr vor sich hinblickenden Augen, sie drückte beide Hände vor das Gesicht und fand einige Linderung im Weinen.

Doch ihre Eltern erwarteten sie ja schon lange. Sie durfte hier nicht länger verweilen. Sie erhob sich, ging zu dem Brunnen an dem kleinen Schuppen, tauchte ihr Taschentuch in das eiskalte Wasser, wusch sich die Thränen von den Wangen und kühlte sich Stirn und Schläfe. Noch einen Augenblick stand sie dann auf der Schwelle des Hauses still und holte tief Athem, ehe sie in das Zimmer trat.

Ihrem Vater schien eine Last, die ihm schwer auf dem Herzen gelegen hatte, wenn auch nicht hinweggenommen, so doch erleichtert zu sein; denn der alte Mann ging, als Louise eintrat, ein Lied summend, im Zimmer auf und ab. Das war in früheren, glücklicheren Tagen seine stete Gewohnheit gewesen, jetzt war es schon längst etwas Seltenes geworden. Er begrüßte Louise freundlich und mit einer Neckerei wegen ihres langen Ausbleibens und seines gewaltigen Hungers, den er kaum mehr habe bezähmen können. Dabei wies er schmunzelnd auf den gedeckten Tisch, an welchem die Mutter damit beschäftigt war, aus einem kleinem über einer Spiritusflamme kochenden Kessel die gesottenen Eier mittelst eines Theesiebes herauszuholen.

»Wenn sie hart sind, so ist es Deine Schuld, Du Unart,« sagte lächelnd die alte Frau, indem sie der Tochter freundlich zunickte.

Der Tisch aber war sorgfältiger gedeckt, als gewöhnlich, und als ihn Louise genauer musterte, entdeckte sie neben dem üblichen Thee mit Brod und Butter noch verschiedene kleine Assietten mit geräucherter Mettwurst, Schweizerkäse und Anchovis, lauter Dingen, die in der spärlichen Haushaltung seit langer Zeit als Luxusartikel höchst selten geworden waren. Sie zuckte von Neuem heftig zusammen, als ihr der Gedanke durch die Seele fuhr, für wessen Geld dieses reichlichere Abendbrod herbeigeschafft worden war, und nur mühsam gelang es ihr, den Gruß der Eltern mit dem gewohnten freundlichem unbefangenen Lächeln zu erwiedern.

Man setzte sich zu Tisch. Der alte Lüders ließ sich's trefflich schmecken und war ungewöhnlich redselig. Er wurde es nicht müde, über die glücklichere Zukunft zu sprechen, die jetzt vor ihm liege, und wie er nun bald den Seinigen bessere Tage bereiten und endlich, endlich den Doctor seine große Schuld abtragen könne.

»Denn Du mußt wissen, Louise,« fügte er hinzu, »daß der Doctor diesen Nachmittag hier war – ja, bist Du ihm denn nicht begegnet?«

Louise schüttelte verneinend den Kopf und sah zu Boden.

»Na, einerlei,« fuhr Lüders fort, ohne die Verlegenheit der Tochter zu bemerken, »er war hier, und gab mir die Versicherung, daß mir der Posten – er soll sehr einträglich sein, Annette – so gut wie sicher sei.«

Aber Louise mußte wieder an das Wort »Bedingung« denken, das der Doctor in so eigenthümlicher Weise betont hatte.

»Ach,« sagte sie für sich, »wenn mein armer Vater ahnen könnte, an welche Bedingung die Erfüllung seiner letzten Hoffnung geknüpft ist, lieber würde er bettelnd von Thür zu Thür gehen, von der Barmherzigkeit der Menschen sein Brod erflehend; ja, lieber würde er mich todt zu seinen Füßen, als diese Bedingung erfüllt sehen. Nie wird er im Stande sein, jenem hassenswerthen Manne seine Schuld abzutragen – und was wird dann geschehen? Schrecklich, schrecklich!«

Und dann dachte sie wieder, daß die Eltern keinen Bissen von diesem Abendessen über die Lippen bringen würden, wenn sie wüßten, was der Doctor so eben von ihr verlangt, indem er auf das Geld anspielte, das er heute ihrem Vater geliehen habe. Sie selbst konnte es nicht über sich gewinnen und schützte Kopfweh vor, als die Mutter besorgt fragte, warum sie denn gar nicht esse.

Ein Paar Mal, wenn der Vater sich in wortreichen Lobeserhebungen über den edelmüthigen Doctor erging, vermochte sie nicht an sich zu halten. Ob man diesem Manne doch nicht gar zu sehr traue, wagte sie zu äußern, ob nicht möglicherweise Manches, was den Schein der Großmuth an sich trage, eigennützige Absichten verberge? Erst schien der alte Mann diese Andeutungen zu überhören; denn er gab keine Antwort. Als sie sich aber wiederholten, fuhr er äußerst heftig gegen seine Tochter auf. Das seien wieder einmal die verwünschten Verdächtigungen der Madame Pietschmann, sagte er, aber er habe sie jetzt satt und verbitte sich dieselben ein für alle Mal. Wenn das nicht endlich einmal aufhöre, würde er zuletzt gezwungen sein, dem boshaften, verrückten Lästermaul sein Haus zu verbieten. Er habe Louise für vernünftig genug gehalten, solchem Gewäsch keine Aufmerksamkeit zu schenken, und es thäte ihm leid, wenn er sich auch in ihr getäuscht hätte.

Es geschah in der letzten Zeit nicht selten, daß der alte, durch Kummer und Mißgeschick reizbar gemachte Mann seine Umgebung unfreundlich, ja rauh behandelte. Seine Frau und Louise ertrugen es immer mit stiller Ergebung und versuchten nie eine Gegenrede. Diesmal aber wurde es Louise schwer, das gewohnte Schweigen zu beobachten. Sie war auf dem Punkte, ihrem Vater zu Füßen zu sinken, seine Kniee zu umfassen, ihm Alles zu sagen und ihn anzuflehen, lieber in der elendesten Hütte Hunger und Kälte und jede Art des äußersten Elends zu erdulden, oder die öffentliche Mildthätigkeit für sich und die Mutter in Anspruch zu nehmen, als länger von dem Sündenlohn zu zehren, um den er ihre und seine eigene Ehre hingeben sollte. Ach, sie wußte nicht, daß ihr Vater der furchtbaren, unerbittlichen Furie »Wechselrecht« verfallen sei, daß es ihm schon nicht mehr frei stehe, für seine alten Tage im Armenhause ein kümmerliches Obdach zu suchen, daß er seine jetzige Wohnung nur verlassen könne, um sie mit dem Schuldgefängniß zu vertauschen.

Es war schon ziemlich spät, als Louise endlich allein auf ihrem kleinen Zimmer war; denn ihr Vater war heute nicht so zeitig wie sonst zur Ruhe gegangen, und es galt im Hause als Gesetz, daß, so lange er aufblieb, Frau und Tochter ihm Gesellschaft leisteten.

In ihrem Zimmer war es schon ganz dunkel; aber sie zündete kein Licht an. Dagegen öffnete sie das Fenster und lehnte sich hinaus, sich an der Kühle des Abends zu erfrischen. Eine ungewöhnliche Finsterniß lag auch draußen über den weitem flachen Feldern, nur hie und da schimmerte drüben im Dorfe ein mattes Licht. Kaum vermochte sie in einzelnen großen, schwarzen Massen die nahen Gruppen der alten Weiden zu erkennen, die den kleinen Teich einschlossen. Schwere Wolken zogen am Himmel hin, ab und zu fiel ein feiner, dichter Staubregen, und nur selten blinkte ein einzelner Stern durch die zerrissene Nebeldecke.

War nicht diese stille, düstere Nacht ein Bild ihres eigenen Innern? Auch da war es öde und dunkel, auch da, an dem früher so heitern Himmel ihres Gemüthes hingen jetzt drohende Wolken, und der Regen, den sie zur Erde sandten, waren die Thränen, die sie so oft in einsamen Stunden vergoß. Und auch in ihr tauchte nur hin und wieder gleich einem hellen Stern eine freundliche Erinnerung aus der Vergangenheit auf, um gleich wieder von dem schwarzen Trauerflor der Sorge für Gegenwart und Zukunft verhüllt zu werden.

Lange stand sie so und starrte in die finstere Nacht hinaus. Die feinen Tropfen fielen kühlend auf ihre brennende Stirn, auf ihre heißen Wangen, sie vermischten sich auch wohl mit anderen Tropfen, die an ihren Wimpern zitterten.

Da wurde es im Norden allmählig lichter. Die Wolken vertheilten sich mehr und mehr, und Stern auf Stern tauchte aus der Tiefe des entschleierten Himmels auf. Sie kannte die größeren Sternbilder und wußte die Namen fast aller helleren Sterne; denn Hugo hatte sie ihr oft genannt, wenn sie mit ihm, als sie beide noch Kinder waren, draußen auf der Villa ihres Vaters Hand in Hand Abends durch die prächtige Parkanlage streifte; und sie hatte es treu im Gedächtnisse bewahrt, was er ihr von seinem geringen Wissen mitgetheilt, in das sich, nach seiner Art, viel Phantastisches und Wunderbares mischte. Jetzt sah sie das Sternbild des großen Bären, dann auch tiefer am Himmel einzelne größere Sterne des Bootes, und nun auch, dort ganz unten am Horizont, den hellschimmernden Arcturus.

Und je mehr ihrer wurden, der alten trauten Bekannten aus der glücklichen Kindheit, desto mächtiger regte sich in ihr die Erinnerung, und alle die schönen Träume und süßen Ahnungen von ehedem traten wieder lebendig vor ihre Seele. Sie erinnerte sich deutlich daran, als wäre es gestern geschehen, wie er neben ihr auf der Grasbank unter der Linde saß, und in seiner lebhaften Weise erzählte, der Arcturus, die Wega, der Sirius und fast alle die anderen großen und kleinen Sterne droben seien nicht, wie unsere nichtswürdige, winzigkleine Erde, dunkle, naßkalte Kügelchen, die ihr Leben kümmerlich durchbrächten, indem sie einem weit besser ausgestatteten Weltkörper tagtäglich das bischen Licht und Wärme abborgten, nein, bewahre! es seien selbst Licht und Wärme spendende, ungeheuer große Sonnen; und das sei ganz gewiß, denn er habe es mit eigenen Augen in Littrow gelesen. Und er glaube auch nicht minder fest, obgleich allerdings Littrow nichts davon sage, daß wir auf diesen großen Sonnen, wenn wir erst unser abominables Larvenleben hier tief unten im irdischen Schlamme beendigt und uns im Tode sauber verpuppt hätten, als eine Art höhere, ätherische Schmetterlinge auf herrlich strahlenden Seraphsschwingen im ewigen Lichte gar lustig und seelenvergnügt umherflattern würden.

Und sie dachte daran, wie er jedesmal, wenn er ihr hiervon erzählte, eine bunte Wunderwelt vor ihren Blicken entfaltete, die, ihm selber unbewußt, sein phantasiereicher Geist umfaßte, und wie willig und gläubig sie dieselbe in sich aufnahm. Jetzt aber war ihr jener blühende Hesperidengarten verschlossen, und scheußliche, zähnefletschende Ungeheuer bewachten die goldenen Früchte, nach denen sie verlangend die Hand ausgestreckt hatte.

»Nur wenn der müde Tag zur Ruhe geht,« sagte sie, »und der Schleier der Träume sich über alles Lebende senkt, dann erschließt diese verborgene Welt ihre Thore, und ich betrete, wieder zum Kinde geworden, die blumigen Gefilde. Da ist es mir vergönnt, ihn von Angesicht zu Angesicht zu sehen, da gehört er mir noch immer wie damals.« –

»Wo mag er jetzt weilen?« fügte sie nach einer Pause hinzu. »Ob er sich auch wohl noch der schönen, entschwundenen Zeit erinnert? Ob er noch mitunter meiner gedenkt? Ach, daß er mir ein freundliches Andenken bewahren möchte, das ist ja die einzige Hoffnung, die sich in meinem innersten Herzen verborgen gehalten, als alle die anderen daraus entwichen. Sollte ich auch ihr entsagen – es wäre doch zu hart.« Und ihre Thränen flossen reichlicher.

Sie schloß endlich das Fenster und zündete ein Licht an. Dann zog sie aus ihrer Commodenschieblade Papier und Federn hervor, holte auch das Tintenfaß herbei, das auf dem kleinen Bücherbrett neben ihren wenigen Büchern stand, und setzte sich vor den Tisch, um an Ida zu schreiben. Schon hatte sie die Feder eingetunkt, aber noch immer konnte sie die nöthige Ruhe nicht finden, ihre Gedanken in einen engeren Kreis zu bannen. Das laute Ticken der kleinen Schwarzwälderuhr an der Wand störte sie. Die Pendelschläge erinnerten sie an das monotone Pochen des Holzwurmes, den man die Todtenuhr nennt. Wie dieser an dem Splitter im Holz, so, dachte sie, nage auch die Uhr an der Zeit, und mit jedem Schlage schwinde auch von ihrem Leben eine Secunde.

»Immer-fort, immer-fort,« sagte dabei die Uhr und fraß unersättlich weiter. »Und so verschlingt sie Secunde um Secunde,« sprach sie halblaut, »und es werden Stunden daraus, endlich Tage, ganze Jahre; und bald werden die Jahre meiner Jugend, während die Uhr immer weiter pocht, entflohen sein; das Alter kommt herangeschlichen, die Haare bleichen, Siechthum, Krankheit stellen sich ein, mit der Spannkraft des Körpers schwindet auch die Regsamkeit des Geistes, die letzte Hoffnung löst sich ab, wie ein welkes Blatt und fällt zu Boden, die letzte Lebensfreude flieht; aber die Uhr tickt ihr ›immer-fort, immer-fort,‹ bis endlich, endlich der Pendelschlag kommt, der für das müde Ohr der letzte ist.« Sie vermochte es nicht länger zu ertragen, stand auf und hielt den Pendel an. Die lautlose Stille um sie her beruhigte sie einigermaßen; sie setzte sich wieder an den Tisch und schrieb, und als schon der Morgen graute, faltete sie den langen Brief zusammen.

Während Louise so beschäftigt war, ging in einem einzeln stehenden Hause eines abgelegenen Gäßchens der Vorstadt St. Georg der Doctor Schönfeld mit hastigen Schritten in seinem Zimmer auf und ab. Seine Arme hatte er über die Brust gekreuzt, seine Stirn war in finstere Falten zusammengezogen, seine blutlosen Lippen fest aufeinander gepreßt. So eben hatte sein Bruder von ihm Abschied genommen, nachdem er, wieder nüchtern geworden, sich endlich herbeigelassen hatte, auch in nüchterner Prosa mit dem Doctor ihre gemeinschaftlichen Angelegenheiten zu besprechen. Zwar hatte Martin fest darauf bestanden, die Schuldverschreibung bis zu dem Augenblick in Verwahrsam zu behalten, wo der Doctor das Geld eincassiren würde, und dieser hatte in dem einen Punkte nachgeben müssen, was ihn jedoch keineswegs in seinem Entschlusse wankend machte, sich schließlich der Verpflichtungen zu entziehen, die er jenem gegenüber eingegangen war. In Betreff dieser ihm vor Allem am Herzen liegenden Sache fühlte sich also der Doctor so ziemlich beruhigt; wo es galt, Lug und Trug zu üben, blieb er auch stets sich selbst gleich, kalt berechnend, auf sich selbst vertrauend.

Aber andere Betrachtungen fachten noch fortwährend seine helllodernden Leidenschaften zu einer immer wilderen Gluth an und trieben seinen sonst so besonnenen Geist weit über die Schranken seiner gewöhnlichen Selbstbeherrschung hinaus. Jetzt, in der Stille der dunklen Nacht, brütete er über die Ränke, durch welche das unglückliche Mädchen, welches wir so eben verließen, den besten Schatz der ihr noch geblieben war, den stillen Frieden ihres reinen Herzens einbüßen sollte.

»Mich so schnöde, so verächtlich abzufertigen,« murmelte er zwischen den Zähnen, »mich von sich zu stoßen mit drohenden Worten, mit Fußtritten fast, wie man einen tollen Hund von sich abwehrt – ha! sie soll es bitter bereuen, die Bettlerin, die Coquette, die mir lächelnd und aufmunternd zuhörte, so lange ich nur – aber, beim Himmel, deutlich genug errathen ließ, was ich von ihr erwartete, und sich jetzt entrüstet stellt, da ich endlich die entbehrlich gewordene Maske fallen lasse. Aber verdammt will ich sein, wenn ich nicht durch List und Gewalt erreiche, was die hochmüthige Spröde meinen Bitten verweigert. Ja, ich werde es erreichen, und sollt' ich auch mein Letztes daran wagen. Ich hab' es mir zugeschworen, und meinen Schwur werde ich halten!«

Mitternacht war längst vorüber; aber er achtete nicht, wie Louise, auf das Ticken der Uhr, dachte nicht, wie sie, bei dem langsamen Schreiten der Zeit an das Pochen des Holzwurmes; denn in seinem Herzen nagte ein anderer Wurm, der jede Fiber darin erzittern machte und nur ein einziges Gefühl darin aufkommen ließ. So ging er noch lange auf und ab und prüfte den Plan, den er am Abend mit seinem Bruder besprochen hatte, und ein unheimliches, schadenfrohes Lächeln fuhr über seine bleichen, von Leidenschaft verzerrten Züge, so oft er sich sagte, daß er so doch endlich über ihren Stolz triumphiren würde.

Wie aber, wenn er hätte ahnen können, daß sich, während er über dem Unheil brütete, das er ihr zufügen wollte, über seinem eigenen Haupte eine Gewitterwolke sich zusammenzog, die ihn mit ihren Blitzen zu zerschmettern drohte?



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