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Neunzehntes Kapitel

Werner brach schon wieder durch die trügerische Schneedecke in den Graben, der längs der Straße dahinlief. Das war nun zum vierten Male in einer halben Stunde. Mühsam zog er das Maultier aus dem tiefen Schneeschlamm, die Kälte kroch in ihm hoch. Wenn doch diese verdammte Straße erst zu Ende wäre, die da heimlich verborgen unter dem Leichentuch des Schnees dahinkroch, mit keinem Baume, keinem Stein ihre Richtung verratend.

Früher, – es schien, als seien Jahre und Jahrzehnte vergangen, und es war doch nur wenige Monate her, da war er diese Straße entlanggefahren mit brummendem, jagendem Wagen, – der graue Schneehimmel dehnte sich damals wie heute, ferne nur war ein wenig Gehölz zu sehen, damals wie heute, und die Krähen zogen mit heiserem Kreischen ihre Kreise, damals wie heute.

Aber damals hatte der Fahrwind ihm in den Ohren geheult, daß er das heisere Krächzen nicht hörte, damals war der Wagen dahingeflogen über das gerade Doppelband der Straße, das die Ebene aufriß, in zwei Stunden eine Strecke, an der er jetzt mühsam zwei Tage und Nächte ritt. Damals hatte er sich gefreut, daß man, trotzdem in der Nähe die Autobahn lief, diese wichtige große Straße verbreitert hatte und die alten Kirschbäume beseitigt, die einstmals sie einsäumten.

Oh, stünden jetzt diese verkrümmten, güstgewordenen Bäume doch noch am Straßenrand! Keine Fußspur unterbrach die weiße einförmige Decke des Schnees, die alles verhüllte. Endlos dehnte sie sich aus, am Horizonte mit dem trüben Himmel trübe sich vermählend. So mußten die Winter in Sibirien sein, in den länderweiten Einsamkeiten der Tundren.

Er hatte die Maultiere wieder aus dem Graben herausgebracht, der Atem der Tiere dampfte in den späten Nachmittag hinein. Es begann wieder leise zu schneien. Die Welt wird versinken, dachte Werner, immer mehr und mehr, in das weiße Leichentuch endlosen Winters. Nun erst kommt das Ende. Es ist der Feuerbrand nicht, und nicht das Rollen berghohen Sintflutwassers. Es ist die Weisheit der Edda. Mit flackernden Flammen kommt Surtur aus Süden, – und dann schneit der Fimbalwinter vom Himmel, siebenmal sieben Jahre …

In Saas-Fee werden die Lawinen Gerdis zuschütten, und den alten Zurbriggen, den Reverend und den jungen Anthanmaten, Peter dazu, den hellen, mit den Sternenaugen. Irgendwo im Norden wird Peter sterben, der den Stern in die Sonne stürzen sah, und hier im Herzen Deutschlands er, Werner Erlinspiel …

›Die Flocken weben noch am bleichen Laken …‹ guter Stefan George! Ja, man hat Zeit auf dieser Straße, und die Gedanken laufen davon. Wie ging es doch weiter? ›Vielleicht daß hinter jenen Höhenzügen verborgen eine junge Hoffnung grünt – beim ersten lauen Hauche wird sie wach …‹ Ach, wer daran noch glauben könnte! Hoffnung, das Wort war so leer geworden im Verdämmern der bleichen Tage.

Vielleicht lebte Peter irgendwo an der norddeutschen Küste, bei einem Bauern, bis dahin waren wohl Pest und Cholera nicht gedrungen, die großen Industriestädte schienen südwärts die verzweifelnde Bevölkerung ausgespien zu haben.

Am Main war es, daß er zuerst auf ihre Spuren stieß. Tote, viele, längs der Straße. Ausgemergelt, verzerrten Gesichts. Ein Bauer im fränkischen Wald, dem er davon erzählte, als er ihn traf im Tann, hatte nur die Achseln gezuckt, – was ging ihn das an. Droben im Thüringer Wald lägen sie wohl zu Zehntausenden, vom Engel der Seuchen geschlagen.

Er ging nicht über Nürnberg und durch das mitteldeutsche Revier. Es waren zumeist Berliner, die dort gestorben, wilde Haufen, bis die Vernichtung sie niederschlug. Durch die einsamsten Gebiete des Thüringer Waldes pirschte er sich, bis er die Saale traf und von ihr, die dunkelgrün schnell dahinfloß, geleitet Naumburg erreichte. Ausgestorben schien die ganze Gegend, nur hin und wieder sah er abgehärmte, verzehrte Gesichter hinter blinden Fensterscheiben eines verfallenen Hauses. Angstvoll starrten mit aufgerissenen Augen diese Menschen ihm nach, als sei er der Tod, der leibhaft dahinritte, dem Norden zu.

Winkte er oder rief, so verschwanden die Gesichter sofort.

Schneehügel türmten sich neben den Straßen, an den Rändern der Wälder. Werner hütete sich wohl, sie anzurühren. Er wußte, was der Schnee verbarg. Manchmal ragten noch ein paar Fetzen heraus, Tuch oder Fleisch verfärbt, zerfallend, von den Krähen schrecklich zerhackt.

Jetzt dehnten sich endlos die Rübenfelder der Börde aus; er, seine Tiere, die Krähen über ihm, sie waren die einzig lebendigen Wesen in dieser Öde des Schnees.

Er versuchte sich vorzustellen, was er wohl getan, wenn ihn der Morgen des 9. Juli unversehens betroffen hätte, in seinem Hotel vielleicht in Berlin.

Angenommen, er wäre nicht zusammengebrochen unter den Strahlen, was hätte er getan?

Wie die übrigen wäre er auf die Straße gelaufen, hinter sich die krachend stürzenden Decken und Wände der mit Stahlskeletten aufgewachsenen Häuser. Er hätte gesehen, wie die Decken der Untergrundbahnen einsanken und mit dumpfem Gepolter in die Tiefe stürzten, wie die Gasrohre barsten und die Lichtmasten zusammenbrachen, wie Wasserfluten die Straßen überschwemmten, wie Explosionen und Brände zum Himmel schlugen.

Er hätte das Gebrüll zerquetschter, eingeschlossener Menschen gehört, das Geheul brennender Unglücklicher, das Gewimmer verirrter Kinder und das Kreischen wahnsinnig gewordener Männer und Frauen. Er hätte die mühsamen Versuche gesehen, mit rasch zusammengerafften Mannschaften Ordnung zu halten. Aber wie sollte man Ordnung halten in einer Stadt der Millionen, da glostende Brände nicht einzudämmen, flutende Wasser nicht aufzuhalten, stürzende Trümmer nicht abzufangen waren. Wo Nahrung nur aus eingefallenen Läden plündernd zu holen, Durst nur mit Alkohol zu stillen war, der aus zersplitterten Flaschen und Fässern in den Sand gelaufen war? Wo zu alledem kein Unrat mehr zu beseitigen war, wegzuspülen, beiseite zu schaffen.

Ja, so wäre der erste Tag verlaufen und der zweite; durch schreckhaften Schlaf wäre das Sausen der Flammen gerast und das Geheul betrunkener Horden, das Schreien Sterbender und das Fluchen der wenigen Ordnungsmannschaften.

Dann nach einer Woche wäre er wohl auch davongelaufen aus dieser Hölle des wahrhaftigen Irrsinns, wenn der Hunger in den Eingeweiden nagte, wenn der Alkohol, als einzige Flüssigkeit genossen, seine Nerven zerfressen.

Und wäre er wirklich allein gegangen? Nicht mit einer Horde zu allem entschlossener Burschen? Und dann, – hätte nicht auch er mit Gewalt sich genommen, was man in den Dörfern ihm verweigert hätte: Essen, Trinken, Schlaf und Zuflucht? Wenn es sein mußte, hätte er nicht auch gemordet, um das eigene Leben zu behalten? Ehrlich, Werner Erlinspiel!

Er ritt dahin, er starrte vor sich auf den Nacken des Tieres. Er hätte es getan.

»Die Flocken weben noch am bleichen Laken …«

Was würde noch sein in Berlin? Stand das Haus noch des Freundes in Potsdam? Er sah sich sitzen in dem kleinen Zimmer, er hörte wieder Peters Stimme, sah Gerdis geschwungenes Profil, als sie ihre Gesichte sagte … Nein, nichts würde mehr stehen, zusammengestürzt auch dieses Haus, weich geworden die eisernen Eingeweide seiner Wände, geplündert der traurige Rest von den flüchtenden Menschen Berlins.

Grau schwammen die Wasser der Elbe heran, sie strudelten eilends vorüber. Unrat trieb in ihnen dahin. Sinnlos, sich nach einer Brücke umzusehen. Vielleicht, daß irgendwo eine Fähre noch lag, unabgetrieben oder verhängt in den Buhnen. Wenn es gar nicht anders ging, mußte man eine seichte Stelle suchen, hinüberschwimmen, die beiden Tiere am Zaum.

Es schauderte ihn. Er spürte die Kälte des Wassers körperlich. Und wenn der Fluß nun Krankheit barg, wenn die Seuche in ihm schwamm? Wenn er gepackt würde von der schrecklichen Pest?

Ah, Werner, nicht die Nerven verlieren, es wird eine Hilfe geben! Ist es der erste Fluß, den du überquerst? Das macht, weil du seit Tagen nicht mehr mit einem Menschen gesprochen, seit Tagen keinen Menschen gesehen hast. Und es ist so schwer, einsam zu sein.

Er dachte plötzlich daran, daß er Peter nicht finden würde, daß er einsam den Weg zurückreiten müßte, den weiten Weg durch die leere Öde des Schnees. Ich werde es nicht ertragen, dachte er. In jedem Tappen der Hufe hörte er eine Silbe, die Silben fügten sich zum Satze, immer zu dem einen Satze: Ich werde es nicht ertragen, ich werde es nicht ertragen …

Er zog in die sinkende Nacht, ein verlassener Mensch, immer die Elbe hinab, vom schwarzen Wasser geleitet.

Dunkel brannte das Feuer. Erlinspiels Zähne schlugen hart aufeinander. Die Tiere ließen die Köpfe hängen, drängten sich nahe an die wärmende Flamme. Oh Gott, war der Fluß kalt gewesen. Nun hatten sie doch schwimmen müssen, in den Mähnen der Tiere hingen die Wellen noch eiserstarrt.

Dem Himmel sei Dank, daß am Waldesrand diese verlassene Scheune stand, voller Heu vom ersten Sommerschnitt.

Hier kann man die Kleider trocknen, die Tiere füttern, soviel sie fressen mögen. Hier kann man sich einwühlen in das duftende Gemähte, bis die Kälte aus dem Gebein kriecht. Vielleicht schneit es morgen nicht mehr. Vielleicht schläft der Wind ein.

Ein paar Bissen noch, ein Schluck Schnaps, heute muß die sorgsam gehütete Flasche heran.

Mit Entsetzen denkt Werner, daß er die Havel noch überqueren muß. Gibt es bei Berlin eine Holzbrücke? Er erinnert sich nicht. Ob es ein Boot noch gibt in der Nähe von Potsdam, irgendeines, versunken im Wasser, aber noch zu gebrauchen, wenn man es leerschöpft, für eine kurze Fahrt dichtet?

Neben Peters Grundstück war ein kleines Sommerhäuschen aus Holz, es gehörte einem Potsdamer Buchhändler. Ein großer Bootsschuppen war dabei, in den See hinausgebaut, ob das wohl noch stand?

Was Gerdis machte? Und die anderen alle? Ob sie den Brief bekommen? Oder waren die Sittener schon im Tal?

Stand dort nicht Peter? Rief er nicht irgend etwas?

Waren sie schon so nah? Aber Gerdis stand auch da, die dunkle, ah, es war nicht mehr auszumachen, wer nach ihm rief, oder riefen sie gar nicht nach ihm, riefen sie nicht einander? Und er versank, keiner sah nach ihm hin, in einer rötlichen Wärme ging er unter … Werner stöhnte tief, im Heu vergraben träumte er schwer.

* * *

Die Sonne schien wieder, nach langer Zeit, als Werner zwei Tage später durch Michendorf ritt. Nach der langen Rast an der Elbe waren die Tiere wieder gut in Form. Das Land glitzerte, der Schnee knirschte unter den Hufen.

Michendorf schien völlig verlassen. Die Häuser auf der rechten Seite der Straße waren nur noch verkohlte Ruinen, deren Trümmer der Schnee verhüllte. Auf der linken Seite, dem Bahnhof zu, standen noch einzelne Gebäude, aber sie waren verlassen. Die große Eisenbahnbrücke am Ausgang nach Potsdam versperrte mit ihren gewaltigen Trümmern den Weg, Werner bog rechts über den Bahndamm ab. Er gewann wieder die Straße, trabte ungeduldig werdend den düsteren Fichtenwald durch, Potsdam entgegen. Bald mußten sich die ersten Häuser zeigen, bald mußte die Leichtmetallkuppel der Sternwarte auftauchen, wenn nicht auch sie zerfallen war. Vielleicht war jemand am Leben, vielleicht wußte irgendeiner von Peter. Mitten im Traben, auf der letzten Anhöhe vor der Stadt, stieß er plötzlich auf eine rohe, hochzusammengeschichtete Mauer. Sie lief quer über die Straße nach beiden Seiten in den Wald hinein. Halb mannshoch war sie aufgetürmt, aus Mauerresten und großen Feldsteinen, so wie früher einmal vor Jahrtausenden Menschen Wälle aufeinandergeschichtet hatten.

Betroffen hielt Werner ein. Er stieg ab, kletterte den Steinwall hinauf. Auf der anderen Seite lief deutlich sichtbar ein Pfad. Ein Pfad, auf dem noch vor kurzem Menschen gegangen sein mußten. Auf dem ausgetretenen Wege waren die Spuren eines großen, schweren Mannes auszumachen, der offenbar erst vor ganz kurzer Zeit, einer halben, einer ganzen Stunde vielleicht, hier entlang geschritten war, ruhig, bedächtig, gesund, auf einem Wachgange wohl. Der Schritt war lang und kräftig, ein Kranker konnte so nicht gehen. Ein Kranker wäre wohl auch ins Freie geflüchtet, wäre nicht wie ein Wächter den Steinwall entlang geschritten. Nein, es war kein Zweifel, hier waren Menschen, Menschen, die eine Tat getan hatten, die einen Wall aufgerichtet hatten, ihn bewachten, die in Ordnung und Führung lebten, die gesund waren und um die Zukunft kämpften.

Werner dachte nicht, ob diese Menschen freundlich, ob sie böse zu ihm sein würden, ob sie ihn überfallen und ausplündern würden, oder ihn hegen und wärmen. Er spürte nur, daß es Menschen waren, Menschen mit einem Willen und einer Hoffnung, mit Tatkraft und nicht krank.

Zu diesen Menschen zog es ihn hin, ihm schien, als hinge alles davon ab, daß er ihrer ansichtig wurde.

Mühsam zerrte er die Maultiere über den Wall. Dann trabte er eilends den Spuren nach, die der schwere, bedächtige Mann vor ihm in den Schnee getreten hatte. Geradlinig führte der Pfad durch den Wald zur Havel hinunter.

Kurz vor dem Wasser hörte der Wald auf, ein Uferstreifen dehnte sich aus, über den der Wall bis in die Havel lief. Weiter nach rechts sah Werner einen großen Bootsschuppen, in sein Dach waren Tonröhren eingelassen, aus denen Rauch aufstieg.

Das also war das so weitläufig geschützte Haus. Er hatte mit einem Male Scheu, einfach drauflos zu reiten. Seine Begierde, den Menschen nahezukommen, schlug um. Die alte Furcht vor den Menschen ergriff wieder Besitz von ihm. Er stieg ab, band die Maultiere an einen Baum und begann langsam am Waldrand hinzupirschen.

Er war noch keine zehn Schritt weit gekommen, als etwas Dunkles über ihn fiel, Stricke sich um seinen Körper schnürten, feste Hände ihn zu Boden warfen.

»Bringt ihn ins Haus«, hörte er eine tiefe, ruhige Stimme. »Und du, Hans, nimmst die Tiere.«

Er wollte schreien, aber das sackartige dicke Tuch, das man ihm über den Kopf geworfen hatte, war am Gesicht dicht angepreßt worden, kaum daß er atmen konnte.

Zwei Männer packten ihn, warfen ihn sich wie ein Bündel über die Schultern und schleppten ihn davon. Es ging leicht abwärts, offenbar auf das Ufer zu. Hoffentlich schmeißen sie dich nicht einfach ins Wasser, dachte Werner. Er hatte keinerlei Furcht, er war eben in eine Falle getappt und konnte nichts als stillhalten und abwarten, was das Schicksal verhängte. Er wußte, daß es Augenblicke gab, in denen man sich unter keinen Umständen gegen Geschehnisse wehren darf, wollte man nicht alles verderben.

Es ging plötzlich ein paar Stufen hinauf, dann wurde offenbar eine Tür geöffnet, Wärme schlug entgegen, die Männer stellten ihn aufrecht hin. »Bleiben Sie so stehen«, hörte er eine Stimme undeutlich unter seiner Vermummung, »Sie können sich gegen die Wand lehnen, rückwärts.« Eine Tür klappte, dann war alles still. Die beiden Männer waren offenbar wieder gegangen.

Er glaubte sprechen zu hören, vielleicht aus einem Nebenraum, aber er konnte es nicht sicher ausmachen, vielleicht spielten ihm auch nur seine Nerven einen Streich.

Offenbar herrscht hier eine großartige Ordnung, dachte Werner, und plötzlich beruhigte ihn die Tatsache, daß man ihn so geschickt überfallen hatte. Er war ja in umfriedetes Gebiet eingedrungen. War das etwas anderes als sein Wachdienst von Saas-Fee?

Er versuchte aus den Fesseln loszukommen. Sie waren nicht allzu straff angezogen, er konnte mühsam den Arm soweit zurückschieben, daß er in der Tasche sein Messer spürte. Nach einigen Minuten hatte er es zurecht gezerrt, er scheuerte es vorsichtig gegen den Strick. Nach kurzem schon spürte er den Strick schwächer in der Schnürung werden, dann zerriß er. Werner streifte ihn ab, befreite sich von dem großen, wattierten Tuch, das man ihm übergeworfen hatte.

Er stand in einem Bretterverschlag, der offenbar der Vorraum des Bootshauses war, das er gesehen hatte. Von einer kleinen Fensterscheibe fiel notdürftig Licht herein. Er fingerte seinen Revolver hervor. Eine Tür führte weiter ins Haus. Er stieß sie auf, nahm den Revolver hoch.

In einem hellen, einfachen Raum saßen drei Männer und zwei Frauen. Ein Kachelofen bildete mächtig eine große, grünschimmernde Ecke voll Wärme. Auf dem Tisch lag ein buntes Tuch, der Boden war mit schweren Teppichen bedeckt, – das sah Werner mit dem ersten Blick, den er für den Raum übrig haben konnte, – dann sagte er freundlich und leise: »Würden Sie bitte so sitzen bleiben und sich nicht rühren? Das Ding hier schießt wirklich.« Er machte zwei Schritte von der Tür zur Wand hin. So hatte er nicht nur die Gesellschaft im Zimmer vor sich, er konnte auch die Tür beobachten, falls jemand Lust verspürte, von außen hereinzubrechen.

Die fünf Menschen am Tisch schwiegen. Sie sahen ihn an, wie man ein Gespenst ansieht.

»Dieser Revolver ist von der guten, alten Sorte. Er ist nicht weich geworden. Er ist geladen. Warum haben Sie mich überfallen?«

Die Männer blickten erbittert in den kleinen Lauf der Waffe.

»Warum sind Sie hier eingedrungen?« fragte schließlich einer von ihnen, der Älteste offenbar und Führer dieser seltsamen Gesellschaft.

Werner sah ein, daß die Gegenfrage berechtigt war.

Er beschloß, offen zu sein. Es war sinnlos, hier irgend etwas zu verbergen. »Ich suche jemand. Zuletzt hat er in Potsdam gewohnt, besser, drüben auf der Römerschanze, in dem Villenviertel. Deshalb bin ich hier. Auf der Straße stolperte ich über Ihren Wall.«

»Das mag stimmen«, sagte der Mann am Tische. »Es kann auch eine hundsgemeine Lüge sein. Ich bin Potsdamer, sagen Sie mir den Namen. Vielleicht sehe ich daraus, ob Sie …«

Er brach ab, sah Werner lauernd an. Offenbar dachte er angestrengt darüber nach, wie man diesen Mann da an der Wand unschädlich machen, wieder in die Gewalt bekommen konnte, ohne daß dieses verdammte Ding von Revolver losging.

»Ob Sie nicht ein elender Bandit sind, meinten Sie das nicht eben?« ergänzte Werner liebenswürdig, »Vergessen Sie nicht, daß ich Sie hier in den Fingern habe, verehrter Herr, daß ich Sie abknallen könnte, einen nach dem anderen. Bemerken Sie, daß ich das bisher nicht getan habe? Ich könnte also Sie fragen, ich habe mehr Recht dazu. Sie sagen, Sie sind Potsdamer. Kennen Sie Peter Kagemann?«

Wenn Erlinspiel eine Bombe ins Zimmer geworfen hätte, wäre die Wirkung nicht größer gewesen. Der Mann fuhr vom Tische auf, seine Hände krallten sich in das Tuch, mit weitoffenen Augen starrte er Werner an. »Wen«, – stammelte er, »wen haben Sie gesagt?«

»Peter Kagemann.«

»Mein Gott!« Der Mann sank auf den Stuhl zurück. Die beiden Frauen sahen sich an, die beiden anderen Männer begannen aufgeregt miteinander zu flüstern. Werner konnte nichts verstehen, aber es kam ihm eine schreckliche Ahnung.

»Ihr habt ihn umgebracht, was!« brüllte er, und machte einen Satz nach vorn. »Los! Was wißt ihr!? Reden Sie doch«, schrie er den Zusammengesunkenen an. Eine unsinnige Wut hatte ihn erfaßt. Hätte er einen Knüppel in der Hand gehabt, er hätte jetzt zugeschlagen. Den Revolver abzudrücken, hinderte ihn ein schwaches Gefühl, das er nicht begriff.

Der Mann sah auf. Er lächelte, bei Gott, er lächelte. Es begann, daß seine Augen heller wurden, daß der Mund sich ein wenig vorschob, daß an den Schläfen sich ein paar Fältchen bildeten, dann breitete sich ein lichter Schein über das ganze stoppelige Gesicht aus, und dann hob dies himmlische Lächeln die ganze Gestalt auf, eine Hand streckte sich Werner hin und eine Stimme, die plötzlich voll war von einer unermeßlichen Fröhlichkeit, sagte: »Gott sei gelobt. Sie können Ihr Schießeisen wegstecken. Sie sind Peter Kagemanns Freund.«

Die Verblüffung warf Werner die Hand herunter, die den Revolver hielt. »Ich bin«, sagte der Fremde, »Karl Schmitt, der erste Assistent der Sternwarte. Komisch, daß ich leben geblieben bin, damit mich einer nach meinem Freunde Peter fragt.«

Werner steckte den Revolver weg, Werner gab diesem Herrn Karl Schmitt die Hand. Er gab sie den anderen Männern, den Frauen, hier riß es ihn hin, er zog sorgsam diese beiden Frauenhände an die Lippen, wohlerzogen und feierlich. Die beiden Frauen begannen zu weinen. Zu groß war dieses: nach Monaten des Entsetzens kam hier einer, und er küßte ihnen die Hand.

In dieser Minute kamen eilige Schritte durch den Hausflur, die Tür flog auf und ein bärtiger Mann stürzte ins Zimmer.

»Er ist weg«, schrie er, »ausgekratzt …« Da sah er Werner im Zimmer stehen. Es verschlug ihm die Sprache.

»Das ist mein Bruder Jochen«, sagte das eine, dunklere Mädchen.

»Wo hast du die Maultiere hingebracht?«

»Ich bin sicher, er hat sie nicht geschlachtet«, meinte Werner. »Übrigens heiße ich Erlinspiel.«

Es stellte sich heraus, daß da außer Karl Schmitt, dem Astronomen, und seiner Frau, Jochen Mewes und seiner Schwester Erika noch der junge Chemiestudent Otto Schippers und der Sohn des Holzhändlers Richter vertreten waren, zufällig zusammengewürfelte Reste Potsdams.

Jochen Mewes schüttelte Erlinspiel besonders herzlich die Hand.

»Ich weiß zwar noch nicht, wie Sie eigentlich hier hineingeschneit sind«, sagte er, »aber darf ich Sie mal was fragen?«

»Bitte«, lachte Erlinspiel.

»Wie machen Sie das eigentlich, daß Sie rasiert sind?«

Alles lachte. »Weil er ein Gentleman ist und auf Maultieren reitet«, rief Erika Mewes dazwischen.

»Ich habe nämlich ein Rasiermesser«, meinte Werner. Jochen Mewes sah ihn an, als hätte er behauptet, den Stein der Weisen mit sich herumzuschleppen. »Kinder«, schrie er, »den Mann kann man für Geld sehen lassen, er hat Stahl und wir bemühen uns die Bronzezeit wieder aufzurichten. Die Welt ist verrückt.«

»Er hat sogar einen Revolver«, warf Schmitt ein.

Mewes setzte sich, er schnaufte hörbar. »Ein großer Zauberer ist gekommen«, stöhnte er, »und ich habe ihm eine Steppdecke über den Kopf geschmissen!«

Es gab eine lange Erzählung, bei Haferbrei und Nüssen und altem Rotwein. Erlinspiel berichtete von seiner Suche nach Peter und von den Zuständen in Saas-Fee, er erklärte, wieso er noch Waffen, Äxte, Messer und Sägen hätte und sich sogar zu rasieren in der Lage sei. Karl Schmitt erzählte, wie es in Berlin und Potsdam zugegangen war. Die Tage des Schreckens standen wieder auf. Und der schmucklose Bericht wurde ein Heldenlied verzweifelter Kämpfe Weniger gegen den Untergang.

In Potsdam war es die Armee, die zunächst für Ordnung sorgte. Kaum war die Kuppel der Sternwarte heruntergekommen und die ersten Gebäudeteile hinterher, kam auch schon ein Leutnant geritten, ohne Zaumzeug und Sattel: der Oberst wolle wissen, was los wäre, die Kasernen wären zusammengefallen und die Schießgewehre weich geworden, ob das wohl so beibleibe? Ein paar Ohnmachtsanfälle hätte es bei der Mannschaft auch gegeben. Tote hätte er keine, die Mannschaft wäre draußen gewesen, marschmäßig angetreten. Der Offizier sei schrecklich aufgeregt gewesen, und es müsse ja auch ein schönes Bild gewesen sein, wie die Gewehre so langsam von der Schulter tropften.

»Wir haben den armen Kerl wenig trösten können, ich bin überzeugt, daß er seitdem eine äußerst geringe Meinung von uns Astronomen hatte.«

Ja, und dann hätte der Oberst eine Art Sicherheitsdienst eingerichtet, die Soldaten wären mit Holzgewehren und Prügeln und Latten ausgerückt, und alles habe zunächst ganz gut sich angelassen. Ein Plünderer sei an der Bittschriftenlinde aufgeknüpft worden, da hätten es die anderen, die wohl auch Lust gehabt hätten, lieber gelassen.

»Am zweiten Tag kam dann Walter Richter angetrabt aus Berlin und erzählte Schauerdinge, die uns allen die Gänsehaut über den Rücken jagte. Wir hatten ja die Brände am Himmel leuchten sehen, und da auch hier in Potsdam allerhand brannte, so war uns das alles ganz klar. Aber wie schlimm es im einzelnen war, davon hatten wir doch keine Ahnung. Walter erzählte zwar, daß die Feuerwehr, die Polizei und was sonst noch erreichbar war, wie verzweifelt gearbeitet hätte, aber was kann man ohne Wasser tun? Die Handfeuerlöscher sogar waren unbrauchbar und die Eimer aus Leichtmetall reichten nicht aus. Der Brand von Moskau muß ein Kinderspiel dagegen gewesen sein.

Ich kenne Walter von Siemens her, wo wir einmal wegen einer besonderen Anlage von Lichtsignalen verhandelt hatten.«

»Sie sind Ingenieur«, fragte Werner den bärtigen, jungen Mann.

»Ein wenig. Ich habe gerade mal so hereingerochen. Eigentlich sollte die Arbeit ja erst losgehen.«

»Ja, und in der dritten Nacht kamen schon die ersten Flüchtlinge über die Havelbrücke am Bahnhof, die stand ja noch so einigermaßen. Die Unentwegten schwammen sogar über den Fluß, der Oberst aber paßte gut auf und ließ ringsum absperren. Da gab es die ersten Toten unter den Flüchtlingen, die wie verrückt über die Brücke drängten, und auch unter den Soldaten.

Wir hatten auch auf der Sternwarte Besuch, sehr unhöflichen sogar, – ein paar Bauern aus Bornim kamen und hielten uns für die Schuldigen, die das alles angerichtet hätten. Wir sind sie mit Mühe und Not wieder losgeworden. Ich habe dann außer meiner Frau und Walter Richter noch die Geschwister Mewes hergeholt, und Otto Schippers fand sich später noch dazu, als es zu Ende ging mit der mühsam hergestellten Ordnung. Wir sind dann hier in das Bootshaus gezogen, haben uns soviel Vorräte zusammengestohlen, als möglich war, und versuchten eine Gemeinschaft aufzubauen.

Ein Fischnetz haben wir auch aufgetrieben und einen alten Kahn, der jetzt irgendwo unter dem Schnee liegt.«

»Und wie ist das alles zu Ende gegangen«, fragte Werner, »Sie sprachen doch vorhin von dem Wachdienst der Armee?«

»Zunächst ging auch alles ganz gut und die Potsdamer Garnison kam sogar gegen den Flüchtlingsstrom aus Berlin auf. Nächtelang glühte die Stadt gegen den Himmel, sogar am Tage konnte man deutlich die Flammen sehen. Sie ist abgebrannt wie eine ungeheure Fackel. Es gab natürlich ständig Schlachten, aber der Oberst ließ Wälle aufschütten, die Soldaten bauten Steinschleudern. Damit schossen sie auf die anstürmenden Horden. Wir waren ein richtiger kleiner Staat für uns.

Dann hörten wir, daß in Berlin Seuchen ausgebrochen wären.

Der Oberst verbot streng, Havelwasser zu trinken. Aber was hilft so ein Verbot, wenn Feuerung knapp ist und man jeden Tropfen Wasser abkochen müßte. Es gab die ersten Krankheitsfälle. Der Kreisarzt, der den Gesundheitsdienst eingerichtet hatte, verheimlichte sie, erklärte sie als harmlos. Die Hitze war ja beängstigend, alles schlief draußen, in Zelten und auf dem blanken Boden. Dann wurden es mehr Tote, die Soldaten fielen um, und nun war der Typhus nicht mehr zu verheimlichen. Ein paar Tage später mußte man auch die Cholera zugeben.

In diesem Augenblick machten wir sechs uns selbständig und fingen an, uns unseren Privatwall zu bauen. Sie haben ihn ja gesehen.

In der Stadt ging es zu Ende. Eines Nachts begann es zu regnen, es regnete am folgenden Tag und die folgende Nacht, es hörte nicht mehr auf zu regnen. Das war so Anfang Oktober. Jetzt haben wir ja bald Weihnachten, nun, der Regen ging nach vier Wochen in Schnee über, – wir dachten alle, die Sintflut wäre gekommen. Was noch durch die Hitze und durch die Seuchen lebendig durchgekommen war, kam jetzt im Regen um.

Die Soldaten starben massenweise, der Oberst starb, der Kreisarzt holte sich die Cholera, der Ordnungsstaat Potsdam war am Ende. Was noch laufen konnte, flüchtete nach Süden.«

»Und liegt nun tot in den Thüringer Wäldern«, ergänzte Werner. »Es ist grauenhaft.«

»Wir sind, glaube ich, die einzigen Einwohner Potsdams«, fuhr Karl Schmitt fort. »Als der Schnee die Seuche getötet hatte, sind wir nach Potsdam hineingemacht und haben einen alten Schmelzofen abgebaut und hierhergebracht, und ein paar chemische Sachen haben wir auch noch aufgetrieben.

Jetzt haben wir ein Labor eingerichtet und versuchen uns im Bronzeguß. Alte Denkmäler stehen ja genug herum, die man verarbeiten kann.«

Neue Möglichkeiten tauchten vor Werner auf. »Verstehen Sie denn etwas davon?«

»Gott, ein bißchen versteht man ja von all dem Zeugs, Schippers als Chemiestudent und Walter Richter als angehender Ingenieur machen das Höllengebräu fertig, die Mädchen rühren die Glockenspeise, und ich stelle das Horoskop für den Guß«, meinte Schmitt lächelnd. Das Lächeln gelang nicht ganz.

»Und was haben Sie schon zustande gebracht?«

»Zwei Äxte haben wir bisher fertiggegossen, aber sie sind schlecht und spröde, man darf eigentlich nur Schnee mit ihnen hacken, wenn sie nicht zerspringen sollen«, gestand Richter.

* * *

Man richtete Werner ein Nachtlager. Aber ehe sie einschlafen konnten, redeten sie noch lange im Dunkeln, wie Peter zu finden wäre, und wie man zusammen weiterkäme nach Saas-Fee.

Werner hatte das vorgeschlagen: daß er Peter holen würde, mit ihm zusammen nach Potsdam zurückkehren, und daß sie dann alle zusammen in die Schweiz aufbrechen sollten.

Gerade, als auch dieses letzte Gespräch versiegen wollte, fragte Erika aus ihrer Ecke: »Sagen Sie, Herr Erlinspiel, warum reiten Sie eigentlich so mühsam mit ihren Maultieren durch den Schnee, warum machen Sie nicht so eine Art Schijöring?«

Werner schwieg verblüfft. Der Vorschlag war zweifellos gut. Eine Bindung konnte man erfinden. Aber wo nahm man Schier her? Zu dumm, im Thüringer Wald hätte er sicher bei gründlichem Suchen einige Paar von den Schneehölzern entdeckt.

»Wo soll ich wohl Schier herbekommen?« sagte er traurig.

Das Mädchen lachte. »In Potsdam hat es eine große Schiwerkstätte gegeben. Wenn Sie sich trauen, sehen wir morgen mal nach, was wir finden. Sie sind sicher schneller in Warnemünde, wenn Sie Schneeschuhe anziehen.« Werner gab es zu. Er war sehr müde, und es schien ihm beglückend, mit einer solchen Aussicht einzuschlafen.

Er träumte von jagenden Abfahrten und stäubenden Schwüngen, Gerdis lief neben ihm und schoß dann plötzlich kopfüber in eine Spalte hinab, aber dann war es gar nicht Gerdis, sondern Erika, und hinter ihr her brausten alle Burschen des Saaser Tales und stürzten von hochoben auf überraschte Feinde hinunter.

 

Die Maultiere trabten über den hartgefrorenen Schnee nach Norden. Sie waren leichtbepackt, in acht Tagen hoffte Werner wieder in Potsdam zu sein. Drei Tage hin und drei Tage zurück, und zwei Tage Peter zu suchen, wenn er nicht in Warnemünde war. Die Schier glitten leicht über die ebene Fläche, das war schon etwas anderes, als mühsam dahinzureiten, bei jedem Schritte einbrechend. Ein gutes Mädchen, die Erika: Zehn Paar Schier hatte sie besorgt, die Männer hatten Holzbindungen geschnitzt. Wie gut, daß er starke Messer mitgenommen hatte und die kleine Axt! Klobig waren sie ja, diese Bindungen, man konnte es nicht bestreiten, aber sie hielten. Und um die Ferse war die gute alte Langriemenbindung wieder zu Ehren gekommen. Werner pfiff vor Vergnügen in den Nordostwind hinein, der in die Augen biß.

Ja, in Betzheim und in Potsdam hatte er gesehen, was man mit viel geringeren Mitteln tun und erreichen konnte, als sie ihm in Saas-Fee zur Verfügung standen, wenn man nur den Kopf oben behielt und zusammenstand. Es mußte doch mit dem Teufel zugehen, wenn er von Saas-Fee aus nicht eine gute und anständige neue Welt zusammenbrächte! Eine Welt, in der sich leben und nicht nur langsam sterben ließ.

»Lauft, meine guten Mulis, daß wir bald Peter finden!« Werner hatte plötzlich eine felsenfeste Zuversicht, daß er Peter in Warnemünde antreffen würde. Die Muli rannten dahin.

Jetzt werden sie Zermatt schon in Händen haben, dachte Werner. Und das Eisen von der Gornerbahn …


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