Raoul Auernheimer
Metternich
Raoul Auernheimer

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Politik und kein Ende

Ordnungsliebend, wie er war, hat Metternich rückschauend sein Leben selbst in zwei große Hälften geteilt: Bis 1815 und nach 1815. Die eine Hälfte nennt er die politische, die andere, an Jahren fast gleich groß, die soziale. Was er unter sozial versteht, ist nicht ganz klar, aber man wird kaum fehlgehen, wenn man annimmt, daß er dabei hauptsächlich an die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung, wie er sie auffaßte, also der bestehenden Gesellschaftsordnung dachte. Auch das wieder war Politik, wenn auch Politik mit andern Mitteln. Hatte sie bisher der Landkarte Europas gegolten, so galt sie hinfort der Idee Europa. Um diese zu verteidigen, hatte er ein System von Abwehrmitteln ausgebaut, das berühmte »Metternichsche System« – eine Art Maginotlinie seiner Politik, die keine andere Aufgabe zu erfüllen hatte, als die Invasion der feindlichen Kräfte der Revolution zu verhüten, und sie am Ende ebensowenig verhütet hat.

Über das »System« ist viel geredet und gerätselt worden. Srbik, der ausführlichste Biograph Metternichs, dessen Buch jeder gelesen, aber niemand ausgelesen hat, widmet ihm einen ganzen Abschnitt, der selbst wieder ein Buch ist. Hat man diesen 245 Bandwurm glücklich aufgespult, so vermißt man in der endlosen Kette seiner hochgelahrten verstrickten Glieder immer noch den Kopf, nämlich die Erklärung, was das System also eigentlich ist. Es ist alles und jedes, oder wie Grillparzer, der Satiriker dieses Ungetüms, es in ein paar schnurrigen Versen witzig ausdrückt:

Ich weiß ein allgewaltig Wort,
Auf Meilen hört's ein Tauber.
Es wirkt geschäftig fort und fort
Mit unbegriff'nem Zauber.
Ist nirgends und ist überall,
Bald lästig, bald bequem;
Es paßt auf ein und jeden Fall,
Das Wort – es heißt System.

Insofern ist dieses politische System ein passendes Gegenstück zur »Heiligen Allianz«, die auch was ganz anderes ist und nüchtern betrachtet weder so heilig noch so geheimnisvoll alliiert war, wie es den Anschein hatte. Ganz ähnlich verhält es sich ja auch mit der Swastika und den Fasces. Zu einem richtigen Schwindel gehört eben auch eine schwindelhafte Benennung. Das »Abrakadabra« der Zauberer und das »Dalli-Dalli« der ägyptischen Taschenspieler ist nichts anderes als das Schlagwort der Diktatoren. Wer dran glaubt, wird selig; wer's nicht glaubt, wird erschossen.

Wichtig für die Erkenntnis des Systems und desjenigen, der es handhabt, sind zwei Merkmale: die Verflechtung von Innenpolitik und Außenpolitik und dementsprechend die bis zur völligen Verschränkung gehende Annäherung von Politik und Polizei. Die beiden Wörter sind sprachlich gleichen Ursprungs; sie kommen beide von der »Polis«, dem griechischen Stadtwesen, her. Dennoch hätten die Griechen in ihrer guten Zeit 246 sich's auf das entschiedenste verbeten, wenn man die Pflege ihrer Bürgerideale, die Politik im geistigen und moralischen Verstande, gleichgesetzt haben würde mit polizeilicher Überwachung; und ganz ebenso würden es sich die Amerikaner verbitten. Die Deutschen hatten sich in dieser Richtung nichts zu verbitten, und die Österreicher, soweit es überhaupt schon welche gab, wurden nicht gefragt. Das eben war das System, das Metternich in der zweiten Hälfte seines öffentlichen Wirkens in Anwendung brachte; er nannte sie die soziale, er hätte sie die polizeiliche nennen müssen. Nach der Überwindung Napoleons gab es für ihn nur eine Aufgabe, die Bekämpfung der revolutionären Ideen, in denen er den Grund alles Übels – einschließlich Napoleons – erblickte. Aber freilich waren diese Ideen, als luftige Wesen, die überall und nirgends waren, nicht in offener Feldschlacht zu schlagen; man konnte sie weder in Fontainebleau absetzen noch nach St. Helena verbannen; man mußte sie vielmehr wie Bakterien im Keime töten. Hierbei kam es nicht sosehr auf ein Tun an als aufs Verhindern, und im Verhindern lag Metternichs eigentliche Stärke, die mit seinem mehr klugen als leidenschaftlichen Wesen eng zusammenhing. Die Leidenschaft tritt entgegen, die Klugheit verhindert. Jene tut, diese kulminiert im Nichttun, das man freilich nicht verwechseln darf mit Nichtstun. Niemand kann Metternich bestreiten, daß er fleißig war. Er arbeitete fünfzehn Stunden im Tag, nur um die anderen zur Ruhe zu mahnen. Sein eigentlicher heimlicher Wappenspruch war nämlich nicht »Macht durch Recht«, den er nur für die Geschichte gewählt hatte, sondern »Nur Ruhe«. Und um diese Ruhe, die er für ein Allheilmittel hielt, dem Erdteil zu erhalten, schreckte er zeitlebens vor keiner noch so unruhigen Kraftentfaltung zurück.

Bei dieser regen Überwachungstätigkeit ergab sich eine zunehmende Vormachtstellung Österreichs als ein nicht unerwünschter Nebengewinn. Irgendwo in Deutschland flammte 247 eine Bewegung auf, etwa die Hambacher-Demonstration für eine europäische Republik oder der sogenannte »Frankfurter Putsch«, beide im Gefolge der Pariser Juli-Revolution. Österreich, das den Vorsitz im Deutschen Bunde führte, nahm die Verpflichtung in Anspruch, diese Wallungen zu unterdrücken, und tat es mit unverhältnismäßiger Strenge, die uns freilich, an der Verfahrensart neuerer Diktaturen gemessen, unverhältnismäßig mild erscheint. Oder die Schweiz gewährte den polnischen Flüchtlingen ihr menschenfreundliches Asylrecht, sofort griff die Metternichsche Polizei, die überall zugleich war, an Ort und Stelle ein, und nicht immer kam der Verfolgte auf Schweizer Boden mit dem Leben davon. Oder die Carbonari-Bewegung rührte sich wieder einmal in Italien. Die Sbirren des Systems drangen in die »Köhlerhütte« (die Carbonari gaben sich als Kohlenhändler aus, um die Behörde irrezuführen), gleichgültig ob diese Hütte in Neapel oder Turin, in Bologna oder in Mailand ihr schwarzes Hauptquartier aufgeschlagen hatte. Die Metternichsche Geheimpolizei war durchaus, und insbesondere in Italien, eine Vorläuferin der neuzeitigen Gestapo. Hatte sie einen beim Kragen, so wurde kurzer Prozeß gemacht; er kam für zehn, zwanzig, dreißig Jahre auf den Spielberg oder er wurde gleich hingerichtet, was vergleichsweise fast ein Glück war. Einmal hatte Metternich eine persönliche Begegnung mit einem dieser Unglücklichen, dem italienischen Grafen Confalonieri. Er besuchte ihn im Wiener Polizeigefängnis, und es entwickelte sich zwischen ihm und dem zum Tode verurteilten Verschwörer eine ritterliche Aussprache im modrigen Schatten dumpfer Kerkermauern. »Man spricht jetzt unter Liberalen viel«, sagte Metternich, »von Patriotismus und Menschenliebe. Allein dieser Patriotismus trennt das Vaterland vom Souverän. Sobald Sie sich auf diesen Standpunkt stellen, ist es begreiflich, daß Sie sich unschuldig fühlen. Aber wir anderen, überzeugte Monarchisten, wie wir sind, können diese drei Worte nicht 248 voneinander trennen: Gott, Kaiser und Vaterland. Für uns bilden sie ein unlösliches Ganzes . . .« Da haben wir den ganzen Metternich mit seiner mystischen Dreiheit, die auch eines der Geheimnisse der Diktatur zu sein scheint. Denn daß drei eins sind, versichern alle Hexenmeister, damit verzaubern sie die Welt. Metternich glaubte es wenigstens selbst, er war weder ein Charlatan noch ein Machiavelli, wenngleich er sich zuweilen der Mittel des Machiavelli bediente. Auch seine Grausamkeit war keine ganz unbedingte. Confalonieri wurde nicht hingerichtet; und zwanzig Jahre später, anläßlich eines Besuches des Kaisers Ferdinand in Mailand, wurde er sogar begnadigt.

Die Frage meldet sich, warum Metternich damals diese zweistündige Unterredung mit dem italienischen Empörer hatte, dessen Verurteilung er doch billigte. »Sie haben sich gegen das Gesetz vergangen«, sagte er ausdrücklich, »und Sie wurden nach dem Gesetz bestraft. Aber –« fügte er hinzu – »die Angelegenheit hat auch eine politische Seite ›ou si vous préférez un côté Européen‹.« Dieses »si vous préférez« zwischen Kerkermauern, gesprochen zu einem Delinquenten, ist reizend; es rückt einen neuen Charakterzug unseres Helden ins Licht, seine ungemeine Höflichkeit. Und auch, daß er sogar hier in der Kerkerzelle Europas gedachte, ist für den »Ritter Europas« bezeichnend.

Übrigens hatte er mit diesem Europa, wie es nun einmal war, seine liebe Not. Bald ging es in Portugal los, bald in Spanien. Dann wieder in Polen, oder in der Türkei, von Frankreich gar nicht zu reden, das ein Jahr nach der Juli-Revolution in Belgien gegen Holland aufmarschierte. Bei allen Gelegenheiten nahm Österreich zugunsten des Bestehenden gegen das Werdende Stellung, und fast immer gelang es ihm, seinen Standpunkt durchzusetzen. Nur zwei Staatsgründungen konnte bei aller Rückschrittlichkeit nicht einmal Metternich verhindern. Der eine Staat war Griechenland, der andere Belgien, die 249 »Schildwache Englands in Europa«, wie man damals sagte, ohne freilich zu bedenken, daß auch Schildwachen davonlaufen können . . . Es ist fast nichts von heute, was von heute ist. Was bis zu einem gewissen Grade Metternichs obstinate Rückschrittlichkeit entschuldigen mag. Es war bei seiner geräuschlosen Diktatur doch auch viel gesunder Menschenverstand im Spiele.

Nur zuweilen verrannte er sich in den ideologischen Irrgängen eines doktrinären Dogmatismus; so wenn er in den portugiesischen ebenso wie in den spanischen Thronwirren den Usurpator gegen die legitime Königsgewalt unterstützte, er – der Legitimist! Und warum unterstützte? Weil der Usurpator der noch reaktionärere von beiden war; er berief sich etwa in Spanien auf das Testament Karls V., das die weibliche Erbfolge, also Isabella, vom Thron ausschloß. So erhielt Metternich ja auch im Orient den »Kranken Mann«, nämlich die Türkei, künstlich am Leben, bloß um die Geburt neuer Staatswesen zu verhindern. Dies war die eigentliche tragische Schuld österreichischer Außenpolitik, die sich im zwanzigsten Jahrhundert fürchterlich auswirkte. Hätte die österreichisch-ungarische Monarchie im ersten Balkankrieg 1912 für die jungen Balkanstaaten statt gegen sie Stellung genommen, so hätte sie den Weltkrieg mit vielem, was nachkam, verhindern können. Aber es war das tragische Schicksal dieses Staatswesens, wie auch schon des sozialen, nicht des politischen Metternich, daß es, indem es alles verhindern wollte, schließlich alles herbeiführte.

In diesen Jahren zwischen sechzig und siebzig, in denen die Schatten in seinem Leben länger wurden, hatte er immerhin auf dem Felde der Außenpolitik noch einige saftige Früchte gepflückt. Eine solche Frucht war Krakau, das bei minder geschickter Behandlung das Danzig jener Tage hätte werden können. Die alte polnische Krönungsstadt, die Krakau war, bildete seit dem Wiener Kongreß eine Art Wurmfortsatz der vormaligen polnischen Unabhängigkeit und entwickelte sich 250 seither folgerichtig als ein Entzündungsherd revolutionärer Bewegungen in Polen. Metternich hatte dies vorausgesehen, ohne jedoch imstande zu sein, seine Ansicht gegen Alexanders romantisch-liberale Freiheitsschwärmerei durchzusetzen; er mußte in die Errichtung des Frei-Staates Krakau willigen, obwohl er die Freiheit fürchtete und dem Staat mißtraute. Auch war, solange Alexander lebte, nichts zu wollen. Dann aber, 1825, stirbt dieser liberale Despot plötzlich – so plötzlich, daß viele behaupten, er wäre gar nicht gestorben, man hätte ihn nur in ein Kloster gesteckt – und Nikolaus, ein viel ehrlicherer Autokrat, wird sein Nachfolger. Metternich, als man ihm die Todesnachricht überbringt, sagt gefaßt: »Jetzt ist der Roman zu Ende und die Geschichte beginnt.« Er verstand sich von Anfang an recht gut mit dem neuen Zaren und zog ihn nach der Gründung des griechischen Königreiches und der Besiegung der Türkei durch Rußland in den dreißiger Jahren immer näher an sich heran. Die Autokraten finden sich, zu Wasser und zu Land.

In Krakau aber wurde nach der französischen Juli-Revolution, die einen frischen Wind in das polnische Segel blies, die Lage völlig unhaltbar. Es trieb offensichtlich Österreich zu, aber Metternich wollte den Schein wahren. Es handelte sich ihm nicht darum, Krakau zu annektieren – wie Hitler 1939 Danzig annektierte –, sondern darum, sich dazu zwingen zu lassen, es zu annektieren; schuldlos zu sündigen, war jetzt sein staatsmännisches Ziel in derlei Fällen geworden. Er erreichte es zumindest diesmal noch, wenn auch auf weitläufigem Umweg. Zunächst brachte er 1836 eine kollektive militärische Okkupation Krakaus zuwege durch Rußland, Preußen und Österreich, die von ihm geschaffene Mächtegruppe, genannt Heilige Allianz. Während der Okkupation, die bis 1841 dauerte, kam ein Handelsvertrag Krakaus mit Österreich zustande, aus dem sich die Einbeziehung des ehemaligen Königreiches in das 251 österreichische Zollgebiet zwangsläufig ergab. Dann aber, 1846, war es soweit. Wieder züngelte eine revolutionäre Erhebung auf, die Flamme des Aufruhrs griff rasch um sich, bis in die Nachbarländer hinein, und Österreich, eins dieser Länder, erhielt von den beiden anderen Nachbarn den Auftrag, Ordnung zu machen. Noch immer wollte Metternich nicht annektieren; noch immer schien ihm die Birne nicht reif und süß genug, um sie anzuschneiden. Da verlor der Zar am Ende die Geduld. Er drohte zu annektieren, wenn Österreich nicht annektierte. Und nun endlich tat ihm Metternich den Gefallen. Er verscherzte sich damit den Rest der Neigung des liberalen Westeuropa. Ein Entrüstungssturm fegte durch Frankreich und England ob dieser offensichtlichen Mißachtung bestehender Verträge, deren Heiligkeit Metternich seit Jahrzehnten beteuernd im Munde führte. Er selbst war darum auch mit seinem Gewissen nicht einig; er soll nach Unterfertigung der Annexionsurkunde, den Kopf tief in die Hand gestützt, längere Zeit gedankenvoll vor sich hingestarrt haben. Aber schließlich durfte er sich damit trösten, daß Österreich ein schönes Stück Land gewonnen und einen Krieg vermieden hatte. Was nicht jeder Diktator in gleicher Lage von sich behaupten kann.

Daß Metternich in diesem Abschnitt seines Lebens, der von 1815 bis 1848 reicht, tatsächlich Diktator, immer in Österreich und meistens auch in Europa, war, kann keinem Zweifel unterliegen, obwohl er sich die Bezeichnung verbeten hätte. Er legte so wenig Wert darauf, dafür zu gelten, daß er sich zeitweise sogar über seine Ohnmacht lustig macht. Einmal schreibt er an seinen Sohn, den er bald darauf verlieren sollte, mit einem jener witzigen Vergleiche, die den Reiz und die Gefahr seines in Umschreibungen schwelgenden Stils ausmachen: »Meine Lage ist die des Gekreuzigten. Ein Arm ist in Konstantinopel angenagelt, der andere in Lissabon. Der Leib windet sich in inneren Krämpfen. Canning ist's, der mich ans Kreuz geschlagen 252 hat (my crucifier), und der ungarische Landtag der in Essig getauchte Schwamm, der mir an einer Stange heraufgereicht wird.« Metternich stellt sich dar als die seltene, ja einzigartige Spielart eines Diktators, der Humor hat. Doch mitunter ging er auch ihm aus; dann seufzt, stöhnt und jammert er, oder er legt sich, wie er dies 1839 tat, einen Schlaganfall heuchelnd für ein paar Wochen ins Bett und verwünscht sein Leben. Im Genuß der Macht mußte auch er, wie jeder Gewalthaber, schließlich erkennen, daß die Macht nicht immer ein Genuß ist.

*

Im März 1835 stirbt Kaiser Franz, achtundsechzigjährig, mit Hinterlassung eines Testamentes. Darin vermachte der Monarch den von ihm beherrschten Völkern huldvoll »seine Liebe«. »Ich vermache dir meine Liebe«, wurde der wohlgelaunte Biedermeiergruß satirisch veranlagter Wiener. Die Krone vererbte er seinem schwachsinnigen ältesten Sohn Ferdinand, dem aber ein Regentschaftsrat beigeordnet wird, bestehend aus dem Erzherzog Ludwig und Metternich, dem allgewaltigen und unentbehrlichen Großwesir des weithin gedehnten Reiches. Von nun also bis 1848 ist Metternich nicht mehr Diktator, nur noch Regent. Man muß wohl sagen »nur noch«; denn wenngleich er jetzt, seiner gehobenen Stellung entsprechend, unter dem Donner der Geschütze in die Städte einzieht wie ein gekröntes Haupt, so ist doch der tatsächliche Umfang seiner Macht, dank dem unglücklichen Regentschaftsrat, eher kleiner geworden als größer.

Das Zeitalter des Kaisers Franz, das die Kunsthistoriker das Wiener Biedermeier nennen, kenntlich am blauen Bienenkorb, war auch politisch mit dem blauen Bienenkorb, dem Wahrzeichen des Alt-Wiener Porzellans, abgestempelt und der Kaiser 253 selbst ein Biedermeier-Despot. Das Regierungssystem, dessen er sich bediente, nannte sich gemütvoll-heuchlerisch das »patriarchalische«, der Kaiser war der Vater und mehr noch der zärtlich geliebte »Papa« seiner vielen Völker, die er regierte, wie ein Wiener Hausherr jener Zeit seine weit auseinander liegenden Betriebe überwacht. Er war der Prinzipal und Metternich erster Prokurist des Geschäftshauses und der Vermögensverwaltung. Das ging ganz gut so ein paar Jahrzehnte lang. Am Abend kamen Prinzipal und Prokurist regelmäßig zusammen und sperrten sich für ein paar Stunden ein; dann hieß es, daß sie zusammen »arbeiteten«, und die Kinder, will sagen die Völker, gingen auf Zehenspitzen, um sie nicht zu stören. Außerdem spielten die beiden auch einmal in der Woche im Quartett mit. Der Kaiser spielte die erste Violine und Metternich strich das Cello. Er beugte sich tief herab über sein Instrument, so daß man etwas weniger merkte, um wieviel sein Kopf die anderen Mitspieler überragte.

Der Biedermeierstil macht alles klein und herzig, oder wie man in Wien sagt: lieb. Und alles wird ein niedlicher Witz, oder wie man in Wien sagt, ein »G'spaß«, ein Späßchen. Man setzt sich beispielsweise auf ein lehnenloses Stühlchen, und sofort beginnt es »du, du liegst mir am Herzen« zu spielen, unter dem Druck der Persönlichkeit. Dem Biedermeier ist ein infantiler Zug zu eigen, wie er ja auch der »Papa«-Ideologie ungefähr entspricht. Im Maße, als es dann älter und kindischer wird, geht es leicht in Schwachsinn über, was denn auch tatsächlich geschah, als den guten Kaiser Franz eine Lungenentzündung dahinraffte, eine liebe kleine Lungenentzündung, werden die Biedermeier-Wiener gesagt haben. Der ihm nachfolgende Schwachsinn auf dem Throne war der Kaiser Ferdinand.

Aber auch der Biedermeier-Kaiser Franz, der immerhin noch ein wirklicher Kaiser war, hatte in den letzten Jahrzehnten fast 254 nur noch audienzgebend regiert. Die Audienz ist eine spanisch-habsburgisch-österreichische Spezialerfindung. Jeder darf unter Bekanntgabe eines vernünftigen Grundes um eine Audienz ansuchen, und wer brav war, dem wird sie auch gewährt. Dann darf er zum Kaiser gehen und schön antworten, um was er gefragt wird. Das macht dem Audienzwerber eine Freude und den Kaiser, der sie gewährt hat, im Laufe der Jahre ungeheuer populär. Auch Kaiser Franz Josephs schließliche Volkstümlichkeit, die er erst in den letzten Jahren seiner achtundsechzigjährigen Regierungszeit genoß, beruhte in der Hauptsache auf einem solchen Korallenriff millionenfach erteilter Audienzen. Und bei Kaiser Franz war es ganz ähnlich, obwohl er alles in allem nur achtundsechzigjährig wurde. Dafür aber erteilte er täglich im Schweiße seines Angesichts Audienz, von sieben Uhr morgens angefangen; dies teils weil er ein Frühaufsteher und weil es eine habsburgische Tradition war, einer zu sein, teils auch, weil alte Leute erfahrungsgemäß früher aufwachen. Rechnet man dazu, daß die Audienzwerber schon eine Stunde vorher im Vorzimmer des Kaisers anzutreten hatten und erst dort ihre Nummer zugeteilt erhielten, die, wie beim Zahnarzt, die Reihenfolge ihrer Vorsprache zwischen sieben Uhr früh und drei Uhr nachmittags regelte, so kann man sich die Aufregung ausmalen, die, zumal an Wintermorgen, in der Antichambre Seiner Majestät unter den sich hastig und unausgeschlafen Versammelnden entstand. Ein vormärzlicher österreichischer Schriftsteller – man nannte diese Zeit den »Vormärz«, weil ihr erst der rauhe März des Revolutionsjahres 1848 ein Ende machte – weiß zu erzählen, wie bestürzt einer seiner Freunde war, der, zu spät aufgestanden, unrasiert zur Audienz erschien und noch dazu das Unglück hatte, als erster aufgerufen zu werden. Fassungslos sein Kinn streichend, tritt er vor den Kaiser hin, der ihn kritisch mustert, und entschuldigt mit ein paar gestammelten Worten seine Unrasiertheit. Worauf Kaiser Franz, 255 mit einem Blick auf den sprossenden Bartwuchs, ganz freundlich sagt: »Na, da gehn S' halt gegenüber zum Hoffriseur und lassen S' sich rasieren! Mich treffen S' später auch noch!«

So ging es zu und so wäre es auch weiter zugegangen, wäre Kaiser Franz nicht durch sein plötzlich erfolgtes Ableben verhindert gewesen, weitere Audienzen zu erteilen. Wer sollte es nach ihm tun? Sein ältester Sohn Ferdinand war nach dem Hausgesetz zur Nachfolge berufen, doch schien sein gutmütiger Schwachsinn ihn davon auszuschließen. Als die Lungenentzündung eine ernste Wendung nahm, schüttelten die patriarchalisch regierten Wiener besorgt die Köpfe, da es ganz unklar schien, wer sie von übermorgen an patriarchalisch regieren würde. Die österreichische Rente ging dementsprechend bedenklich zurück, die Börse eskomptierte, wie gewöhnlich, die allgemeine Angst. Nur das Haus Rothschild machte eine Ausnahme und kaufte, während die anderen verkauften. Rothschild wettete mit dem Einsatz seines ganzen Vermögens auf den Weiterbestand des Habsburgerreiches. Und das war um so auffallender, als der Baron Rothschild, wie männiglich in Wien bekannt, ein naher Freund des Staatskanzlers Metternich war. Also –? Die Wiener waren zu aufgeregt, um die Schlußfolgerung sogleich zu ziehen. Aber nach drei Tagen kam heraus, was hinter ihrem Rücken gespielt worden war.

Der Kaiser hinterließ ein Testament, das vom Fürsten Metternich beraten, wenn nicht verfaßt war. Zum Nachfolger rückte nun doch der Erstgeborene Ferdinand auf, trotz seiner stadtbekannten Geistesschwäche, die übrigens seine allgemeine Beliebtheit nicht beeinträchtigte, vielleicht sogar erhöhte. Seine wehrlose Herzensgüte hat etwas vom Scharm des Dostojewskijschen »Idioten«. Einmal wäre er um ein Haar das Opfer eines Anschlags auf sein Leben geworden. Der Unglückliche, der die Pistole auf ihn gerichtet hatte, wurde entwaffnet, die Menge wollte ihn niederschlagen. Ferdinand trat vor und deckte den 256 Attentäter mit seinem Leibe. Er bestand auf seiner völligen Straflosigkeit und ließ ihm schließlich sogar aus der Staatskasse für den Rest seines Lebens eine angemessene Pension auszahlen, um ihn in aller Hinkunft vor Not und Verzweiflung, die ihn zu der Tat getrieben hatte, zu bewahren. Es war dies einer jener Fälle, wo Schwachsinn und Heiligkeit einander nahe berühren. Man weiß nicht, ob man lachend knien oder kniend lachen soll.

Immerhin konnte man einer solchen Hand das Ruder des Staatsschiffs nicht allein anvertrauen. Also bestimmte das Testament des Kaisers Franz weise die Einsetzung eines von ihm vorgesehenen »Regentschaftsrates«. Er bestand aus dem phlegmatischen und arbeitsscheuen Erzherzog Ludwig, einem jüngeren Bruder des Kaisers, und Metternich, dessen Urteil und Rat in jedem Falle heranzuziehen der Kaiser letztwillig ausdrücklich befahl. Später trat dann auch noch Graf Kolowrat in diesen Regentschaftsrat ein, der, ein Nebenbuhler und Neider Metternichs, nach Möglichkeit verhinderte, was Metternich wollte und was zu einer Entscheidung drängte, weil Erzherzog Ludwigs zähe Faulheit nicht hatte erzwingen können, daß es unerledigt liegen blieb. Die Drei lähmten sich solcherart wechselseitig. Aber wenigstens blieb alles beim alten und Metternich immerhin Regent, eine Art ungekrönter Kaiser von eignen Gnaden. Rothschild hatte, gestützt auf seine persönliche Information, richtig spekuliert. Das Bankhaus kam auf seine Kosten, und nur Österreich wurde, etwas später, fallit.

Was Metternich durch diesen schlau sich selbst neutralisierenden Regentschaftsrat geschaffen hatte, war ein, wenn man so sagen darf: perpetuum immobile seiner Politik. Hatte er es aus Ehrgeiz ausgesonnen? Kaum; er war nicht ehrgeizig. Eher tat er es aus Pflichtgefühl. Denn wer sollte ihn ersetzen und dem »Kutscher von Europa« die Zügel, wenn er sie sinken ließ, aus der Hand nehmen? Er sah niemand, und sah richtig. Wie in 257 jeder Diktatur fehlte es bereits an Nachwuchs; wie jeder Diktator war er von Kreaturen umgeben. Freilich ist eins wie das andere, worauf sie sich gerne berufen, die Schuld der Diktatur. Indem sie die Charaktere niederdrückt und verbiegt, verhindert sie die Entwicklung von Persönlichkeiten. Jedes Wachstum setzt Freiheit voraus; zum Glück. Denn wenn es anders wäre, wüchsen die Bäume der Diktatur in den Himmel.

*

Zwei Ereignisse dürfen in diesem Bericht über die späteren Regierungsjahre des sich dem Patriarchenalter nähernden Diktators nicht fehlen. Das eine ist das Ende der napoleonischen Legende durch den frühen Tod des Herzogs von Reichstadt, dessen rührenden Schatten zu beschwören wir uns vorbehalten. Das andere ist die diplomatische Schachpartie mit dem französischen Botschafter St. Aulaire, die uns den Meister der Politik im besten und im schlimmsten Sinne noch einmal im Vollbesitze seiner Gaben zeigt.

Der junge St. Aulaire hatte Metternich noch am Ausgang seiner glänzenden Pariser Zeit gekannt. Er war unter anderm derjenige, der ihn am Tage seiner Ankunft in Paris, nach der Besiegung Napoleons, am 11. April 1814, vor dem Spiegel im Frisiermantel überrascht hatte. Zwanzig Jahre später begegnen wir St. Aulaire am Wiener Hofe wieder, wo er als französischer Botschafter das Juli-Königtum vertritt. Keine angenehme Aufgabe, denn Louis Philippe, »der König mit dem Regenschirm«, war in Wien aus zwei Gründen höchst unbeliebt. Einmal, weil er als illegitimer Nachfolger des legitimen Charles X. die Krone, wie die Fürstin Metternich es ausdrückte, gestohlen hatte, und zweitens, weil er liberal regierte und sich als »König der Franzosen« auf eine wechselnde parlamentarische Mehrheit stützte. Daß er bei alledem auch noch Erfolg hatte und der von 258 Metternich wiederholt vorausgesagte Zusammenbruch dieses widernatürlichen Regimes augenscheinlich doch nicht erfolgte, machte ihn um nichts beliebter.

St. Aulaire war ein Diplomat mittleren Ranges und ein ausgezeichneter Schriftsteller. Als solcher hat er uns ein reizvolles Bild des Metternichschen Wien in französischen Farben überliefert, dessen Mittelpunkt die Brautwerbung des Herzogs von Orléans um die Hand der österreichischen Erzherzogin Therese bildet. Der Herzog von Orléans, ein bildhübscher junger Mann von sechsundzwanzig Jahren, war der französische Thronfolger und die neunzehnjährige Erzherzogin Therese die Tochter des Erzherzogs Karl, des Besiegers Napoleons, der am Wiener Hofe als Liberaler galt. Dieser Makel, auch in den Augen Metternichs, machte ihn und seine Tochter für das Vorhaben St. Aulaires nur um so tauglicher.

Der Botschafter hatte diese Heiratsintrigue von langer Hand eingefädelt. Er hatte zunächst vorfühlend festgestellt, daß die junge Erzherzogin sich anläßlich eines Empfanges auf der französischen Botschaft ein Bild des Herzogs von Orléans von ihm neugierig hatte zeigen lassen, also offenbar nicht ganz abgeneigt schien, später einmal Königin von Frankreich zu werden, trotz der üblen Erfahrungen, die ihre beiden Tanten Marie Antoinette und Marie Louise auf diesem Wege gemacht hatten. Auch hatte St. Aulaire stundenlange Unterredungen mit dem französischen Königspaare aus diesem Anlaß bereits gehabt, deren Inhalt Metternich insoweit kannte, als man ihn in Paris geheimzuhalten wünschte. Das war die Regel; er war eingeweihter als die Eingeweihten. Was oft so weit ging, daß er die geheimen Instruktionen der Botschafter früher als diese selbst in Händen hielt. Um dies zu ermöglichen, waren fast alle europäischen Postverbindungen derart gelegt, daß sie über Österreich liefen, wo die Briefe sorgsam aufgemacht und wieder zugeschlossen wurden. Auch der »Code«, in dem die diplomatischen 259 Schriftstücke abgefaßt waren, bildete kein Hindernis; der Abteilungsleiter Eichenfeld war stolz darauf, fünfundachtzig solcher Chiffrenschlüssel zu besitzen. Sogar den russischen Code, den rätselhaftesten von allen, wußte man in Wien schließlich aufzulösen, allerdings erst nachdem ein Fachmann, der dafür ein Jahresgehalt bezog, in einer auf vier Jahre verteilten Bemühung einen Schlüssel hergestellt hatte. Man ließ sich im damaligen Österreich ebenso wie im späteren Nazi-Deutschland die Geheimnisse der anderen etwas kosten; es lohnte sich. Und so schlecht die Staatsfinanzen zuzeiten auch sein mochten, dafür hatte man immer Geld. Auch dies ist ein Gattungsmerkmal der Diktatur.

Ende Mai kam der Herzog von Orléans in Begleitung seines jüngeren Bruders, des Grafen von Nemours, in Wien an. Mitte Juni reisten die beiden Prinzen unverrichteter Dinge wieder ab. Dazwischen hatte sich die diplomatische Schachpartie abgespielt, die Metternich gewann, obwohl er sie scheinbar zerstreut und sozusagen nur mit der linken Hand spielte, und obwohl man meinen sollte, daß es kein besonderes Kunststück war, einen dem Hause Österreich unbequemen Freier abzulehnen. Aber so einfach war die Sache nicht. Der Herzog von Orléans, der nach Wien gekommen war, um eine Habsburgerin heimzuführen, sollte nicht nur einen Korb bekommen, er sollte ihn in einer Weise bekommen und nach Paris zurücktragen, daß die ganze Welt es merken mußte, und dazu mußte man ihn nicht nur abweisen, sondern vorher ermutigen und sicher machen. Beides gelang Metternich dank der Unerfahrenheit der zunächst Beteiligten, zu denen auch Erzherzog Karl gehörte. Der französische Prinz gefiel dem alten Schlachtenlenker, wie er auch seiner Therese gefiel, und unter dem Eindruck eines Besuches, den die jungen Herren bei ihm auf der romantischen Badener Weilburg gemacht hatten, sagte er bereitwillig ja. Später mußte er dieses Ja verwirrt wieder zurücknehmen, weil die Entscheidung 260 nicht er, sondern der Kaiser, also Metternich, zu fällen hatte. Aber niemand konnte diesem nachweisen, daß er Nein gesagt oder gedacht hatte; denn wozu hatte man den Regentschaftsrat, als um sich dahinter zu verschanzen? Tatsache war nur, daß der Herzog von Orléans nach zwei schönen Juniwochen in Wien und Umgebung seine Brautfahrt in südlicher Richtung fortsetzte, und daß sein Nachfolger auf der Weilburg alsbald der verwitwete König von Neapel war, der an seiner Statt die Braut heimführte. Die arme kleine Erzherzogin Therese, von der man annehmen darf, daß sie in den Herzog von Orléans ein bißchen verliebt war, wurde wenig glücklich im ungeliebten Neapel, wo sie in verhältnismäßig frühen Jahren verkümmert starb. Der französische Thronfolger aber heiratete bald darauf eine mecklenburgische Prinzessin, die klug und liebenswürdig und noch dazu liberal war. Was half es schließlich dem reaktionären Österreich, daß bald nach der verunglückten Brautwerbung ein Attentat auf den König Louis Philippe stattfand, das Metternichs Auffassung, man dürfe sich mit diesem »König, auf den man schießt«, nicht einlassen, scheinbar bestätigte? Die Abwendung von dem liberalen Westen, die sich damals sichtbar vollzog, wurde ein Jahrhundert später, im Weltkrieg und nachher, als sie das österreichische Wrack an die Nazi-Küste trieb, das Verhängnis Österreichs, woran der Augenblickserfolg Metternichs wenig änderte. Der Korb, mit dem er den Herzog von Orléans nach Hause schickte, kam dem österreichischen Volke schließlich teuer zu stehen.

*

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß der glücklich verheiratete elegante Staatskanzler, der in diesen Jahren nach 1830 die Geschicke Österreichs lenkte und dadurch auch das Geschick des Erdteils wesentlich mitbestimmte, die nicht eben anziehendste 261 Phase dieses reichen und weitverzweigten Lebens bezeichnet. Das Bild des Sechzigjährigen läßt bei aller Entschlußkraft, jung zu bleiben, naturgemäß den Glanz der Jugend vermissen. Was hat er dafür eingetauscht? Die verzichtende Güte des Alters ist noch nicht sein Teil, und was ihm an Wärme des Herzens immer fehlt, ersetzt noch nicht eine selbstlos gewordene Weisheit. So sehen wir ihn zwischen Erfolg und Mißerfolg immer nur seine alten Rollen weiterspielen, mit der Routine eines bejahrten Meisters, aber nicht immer mit der Erlebniskraft des Künstlers. Diese Kraft der Teilnahme ist es auch, die wir im Falle des Herzogs von Reichstadt vermissen. Nicht daß er den Sohn Napoleons in den Tod getrieben hätte; das hat er nicht. Aber daß er nicht mehr dabei empfand, als dieses junge Leben erlosch, zu dessen Hüter er bestellt war, ist Metternichs Schuld, von der ihn menschliches Empfinden kaum ganz wird freisprechen können. Es war nicht Grausamkeit, die ihn bewog, nur Fühllosigkeit. Nicht eine Tat vermissen wir, nur ein Träne. Politik, die alles ist, hätte in diesem Falle nicht alles sein dürfen. 262

 


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