Aristoteles
Nikomachische Ethik
Aristoteles

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Fünfzehntes Kapitel.

Von der Scham kann man nicht wohl wie von einer Tugend sprechen, da sie mehr von einem Affekt als von einem Habitus an sich hat. Man bestimmt sie als eine Furcht vor Schande, und sie betätigt sich ähnlich wie die Furcht vor Schrecklichem: wer sich schämt, errötet; wer den Tod fürchtet, erblaßt. So scheinen denn beide in gewissem Sinne etwas Körperliches zu sein, was wohl mehr einen Affekt als einen Habitus verrät.

Dieser Affekt paßt nicht für jedes Alter, sondern blos für das jugendliche. Wir nehmen an, daß der Mensch in diesem Alter diese Eigenschaft haben müsse, weil er unter dem Einflüsse der Leidenschaft steht und viele Fehler begehen würde, vor denen er durch das Schamgefühl behütet bleibt. Und wenn junge Leute Scheu und Scham zeigen, loben wir sie, bei einem alten Mann aber wird niemand die Verschämtheit loben, weil wir meinen, daß er nichts tun dürfe, worüber man sich schämen muß. Den tugendhaften Mann trifft es nicht, sich zu schämen, da man sich nur über Verkehrtheiten zu schämen braucht, die eben nicht vorkommen dürfen.

Wenn manches wirklich, manches nur nach menschlicher Auffassung schimpflich ist, so verschlägt das nichts. Man soll keines von beiden tun, und so wird man sich gar nicht zu schämen haben. Es verrät einen schlechten Mann, wenn man fähig ist, etwas, was irgend wie schimpflich ist, zu tun.

Ist man so gesinnt, daß man nach einer schlechten Handlung sich schämen würde, und hält sich deshalb für rechtschaffen, so ist das ungereimt. Denn man schämt sich über freiwillige Handlungen, der rechtschaffene Mann wird aber nie mit freiem Willen böses tun. So müßte denn die Scham bedingungsweise eine sittliche Eigenschaft sein, insofern man sich nämlich in dem Falle schämen würde, daß man wirklich schlechtes täte. Die Tugenden ertragen aber keine Bedingungen.

Wenn es eine Schlechtigkeit ist, unverschämt zu sein und ohne Scham und Scheu Schimpfliches zu tun, so ist es darum noch keine Tugend, bei solchen Handlungen Scham zu empfindenDieser und die zwei vorausgehenden Absätze erledigen drei Einwürfe gegen den Satz, daß es den tugendhaften Mann nicht trifft, sich zu schämen: erster Einwurf: er kann trotz seiner Tugend tun was nach menschlicher Anschauung schimpflich ist, und dann müßte er sich schämen. Antwort: er tut auch das nicht; zweiter Einw.: er würde sich schämen, falls er böses täte. Antw.: a) er tut nichts böses, b) es könnte ihm auch wegen eines eventuellen Schamgefühls dieses Gefühl nicht wirklich beigelegt werden. Der dritte Einwurf ist so klar wie seine Widerlegung. – Aristoteles hatte oben II, 7, vorletzter Abs. auch von der Entrüstung, νέμεσις, gesagt, sie sei keine Tugend, sondern ein lobenswerter Affekt. Hier spricht er nicht von ihr, weil von ihr das gleiche gilt wie von dem Gefühl der Scham und Scheu. Von beiden handelt er in dem 2. Buche der Rhetorik. .

Auch die Enthaltsamkeit ist keine reine Tugend, sondern eine Eigenschaft von gemischter Art. Das wollen wir weiter unten nachweisen. Jetzt aber wollen wir von der Gerechtigkeit handelnDie Enthaltsamkeit, εγκράτεια, ist keine eigentliche und vollkommene Tugend, weil sie mit Begierde und Lust zusammengeht, aber lobenswert. Aristoteles berührt sie hier passend, weil auch Scheu und Scham keine eigentliche Tugend ist, aber Lob verdient und in dem Alter an der Stelle ist, wo Begierde und Lust mächtig sind. .


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