Sagen aus Kärnten
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Die Rauhnacht im Mölltal

Weit verbreitet ist im Volk der Glaube, daß das Vieh in der Christnacht imstande sei, in menschlicher Sprache zu reden, und daß die Tiere im Stall einander mitteilten, was ihnen und den Menschen im kommenden Jahr bevorstehe. Will man sie hören, so muß man sich auf Farnkraut legen, das auf dem Land als Viehstreu verwendet wird. Mancher kühne Bursche soll es schon unternommen haben, den Gesprächen der Tiere zu lauschen, aber keiner konnte am andern Tage mitteilen, was er gehört hatte; denn jedesmal ereilte noch in der Rauhnacht den vorwitzigen Eindringling die Strafe für seine Neugierde, man fand ihn am Morgen als Leiche.

Im Mölltal lebte einst ein Bauer, der sich überzeugen wollte, ob es wahr sei, was man von den Tieren in der Christnacht erzählte. Er traf also seine Vorbereitungen und begab sich am Heiligen Abend in den Stall, um zu horchen, ob seine Ochsen wirklich reden würden, und was sie vom kommenden Jahr zu berichten wüßten. Die Ochsen lagen bei seinem Eintreten in den Stall ruhig an ihrem Stand. Lange rührte sich nichts, kein Laut drang durch die Stille der Nacht. Als es gegen Mitternacht ging, erhaben sich die Tiere von ihrem Lager, reckten und streckten sich gähnend, und plötzlich hörte er, wie ein Ochs zu dem anderen sagte: »Übers Jahr werde ich nicht mehr im Haus sein; denn der Schinder wird mich früher holen. Du aber bleibst im Haus, man wird dich mästen und schlachten, und am nächsten Weihnachtstag wird die Bäuerin dein Fleisch als Festbraten auf den Tisch stellen. Der Knecht, der uns füttert, wird dir den Tod geben.«

Der Bauer, der verwundert zugehört hatte, wollte den Stall verlassen. Aber als er an der Stalltür stand, vernahm er nochmals die Stimme des Ochsen und blieb stehen, um zu lauschen. »Den Holzstock, der dort an der Tür lehnt!«, hörte er sagen, »werden wir noch in diesem Jahr auf den Friedhof ziehen; hernach wird die Bäuerin den Knecht heiraten.«

Als der Lauscher an der Tür inneward, daß er mit den Holzstock gemeint sei, fiel er vor Schrecken vom Schlag getroffen zu Boden. Am nächsten Morgen fand man ihn tot im Stall auf, und er wurde noch vor Beginn des neuen Jahres begraben. Auch alles übrige traf ein, wie er die Ochsen vorhergesagt hatten. Der eine Ochs verendete im Lauf des Jahres an einer Seuche, der Schinder holte ihn und vergrub das Aas auf dem Schindanger; der andere Ochs wurde zum nächsten Weihnachtsfest vom Knecht geschlachtet, das Fleisch kam als Festbraten auf den Tisch; die verwitwete Bäuerin aber heiratete den Knecht.

 


 


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