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Nahe dem Abgrund

von Hans Josten.

Über dem Wiesental hinter Brachtlingen lag der Morgennebel. Leise zirpten ein paar frühe Vöglein, wie erlöst nach der schwülen Nacht, und nippten durstig vom kühlen Wasser des Bächleins, das sich durch die frisch gemähten Wiesen hinschlängelte. Langsam, wie feiner Staubregen, sank der Nebel zur Erde. Hoch über dem Tal, droben am Abhang des Wetterkopfes, hatte sich die Frühsonne schon durch den Nebeldunst Bahn gebrochen und steigerte die drückende Schwüle, die seit Tagen bereits unter dem dichten Blätterdach des Hochwaldes schwälte, ins Unerträgliche. Endlich mußte doch eine Entladung kommen. Mensch und Vieh, Baum und Feldfrucht lechzten nach einem Gewitterregen. Wen heute seine Montagsarbeit ins Freie führte, der würde seufzen und schwitzen und schimpfen, zumal der gestrige Sonntag mit seiner Gluthitze für keinen eine wirkliche Erholung gewesen war.

Droben am Wetterkopf, eine halbe Stunde oberhalb des Dorfes, tönten je und dann Axtschläge durch die Morgenstille. An dem vorgeschobenen Berghang, kurz vor der tiefen Tannenschlucht, aus deren schwarzem Grunde das muntere Bächlein hervorquoll, war ein einzelner Holzarbeiter beim Aufräumen eines großen, frisch gefällten Tannenschlages beschäftigt. Rock und Weste hatte er abgeworfen. Das weit geöffnete Hemd ließ die braunverbrannte Brust und die sehnigen Arme frei. Trotzdem rieselte ihm der Schweiß am ganzen Körper herunter. Von einer Anzahl mittelstarker Fichten, deren Stämme als Grubenholz verwendet werden sollten, hatte er die Seitenäste abgehauen und war nun dabei, sie auf einen größeren Haufen aufzuschichten.

Mißmutig aufseufzend stand er einen Augenblick still und schaute die Lichtung hinunter nach dem Fußpfad, der sich am Abhang entlang ins Dörfchen schlängelte.

»Wo Eckners Peter nur bleibt? Denkt wohl, ich hätte Lust, hier allein zu schuften! Hat sich natürlich diese Nacht wieder den üblichen Sonntagsrausch angesoffen und macht heute blau. Als ob ich gestern abend nicht auch gehörig einen weg gehabt hätte; bin darum aber doch heute pünktlich an der Arbeit. – Freilich, der Nachdurscht ist auch danach. Donnerwetter, so'n Brand! – Das Bier war aber auch verdammt warm, – und dann die Stickluft in Krügers niedrigem Tanzsaal – Deixel noch mal! – Un nu heute wieder diese verteufelte Hitze!«

Er stapfte ärgerlich nach der großen Eiche, unter der er seinen Rock liegen hatte und holte die mit Kaffee gefüllte Blechkanne heraus. Aber kaum hatte er sie zum Munde geführt, da setzte er auch schon wieder ab und spuckte aus.

»Pfui nee, das Zeug ist ja noch heiß. Dann doch lieber 'nen Krügerschen Doppelkorn«. Er zog aus der Brusttasche seiner Joppe ein flaches Schnapsfläschchen und tat einen kräftigen Zug.

Die Sonne schien ihm voll ins Gesicht, das in heller Glut zu brennen schien. Es waren scharfe, eigen geprägte Züge, die nicht unschön zu nennen waren. Aber jetzt sah man auf ihnen deutlich die Spuren einer durchzechten Nacht. In den rotumränderten Augen glomm ein Feuer, das von nichts Gutem sprach. Und an Stirn und Schläfen, unter dem krausen Schwarzhaar, das sich gegen Kamm und Bürste sträuben mochte, waren die Adern geschwollen, als ob ein innerer Zorn sich noch nicht ausgetobt hätte.

Durch den Branntwein schienen die Vorgänge der letzten Nacht wieder in ihm wach zu werden. Er ballte die Hände.

»Donnerwetter, jetzt – wenn ich den roten August unter den Fäusten hätte! Dann sollten mich die andern nicht wieder zurückhalten, wie gestern abend. Der Schweinhund, der! Wenn die Anna nur ahnte, was das für einer ist, wie der's im Feld getrieben hat mit den polnischen und französischen Weibsbildern – bah, keine war ihm zu dreckig, keine zu gemein – pfui noch eins! – Nicht mehr ansehen möcht sie ihn. Und ihr Alter würde sich auch 'nen andern Schwiegersohn wünschen als den. Aber natürlich – Geld hat er, frech und patzig ist er – und wo der Vater Gemeindevorsteher ist. –

Ha, Bürschchen, komm du mir nochmal in den Weg! Die Anna kriegst du doch nicht! Die gehört mir und bleibt mir. Und wenn der Vater nicht will, dann – muß er eben! Dann ist's seine eigene Schuld –«

Er stierte mit wildem Blick vor sich hin und machte eine Bewegung, als ob er jemand an sich reißen und in seinen sehnigen Armen zermalmen wollte.

»Anna, jetzt – du – wenn du hier wärst!« kam es zischend durch seine fest aufeinander gebissenen Zähne, und ein wilder Zug sinnlicher Gier lag um seinen Mund. »Hochzeit feiern tät ich mit dir – heut noch – auf der Stelle, – ob du wolltest oder nicht. Ich will nicht ewig warten, du. Ich will nicht, will nicht! – – – Ach, fort«, unterbrach er sich plötzlich und strich sich mit dem Handrücken über die Stirn – »nee, dazu ist sie zu fein und – zu rein.«

Ein milder Ausdruck zog über sein Gesicht, und in seine Augen kam für einen Augenblick ein warmes Leuchten.

»Mädel, ich hab dich lieb. Herrgott noch mal, hab ich dich lieb – du!« Er griff nach seiner Axt. Mit pfeifendem Hieb sauste sie in den zunächst liegenden Stamm, daß sie bebend haften blieb.

»Mei' müßt' du werden, mei' müßt' du sein«, summte er auf einmal mit rauhem, leidenschaftlichem Ton vor sich hin.

Hastig griff er dann in das Astgewirr hinein und fing an, Ordnung zu schaffen. Plötzlich zuckte er zusammen und schaute auf seine rechte Hand. Im jachen Zugreifen war er gegen einen scharfkantigen Aststumpf gefahren. Quer über den Handrücken zog sich eine tiefe Schramme, aus der ein paar schwarze Blutstropfen hervorsickerten.

»Pah, nur so'n Ritsch!«

Er achtete nicht weiter auf die unbedeutende Wunde und arbeitete rüstig fort. In seine Gedanken vertieft, merkte er nicht einmal, wie bei den ruckartigen Bewegungen, mit denen er die Tannenäste aus dem Gewirr herausriß, und neue Zweige zurechthieb, je und dann ein Tropfen Blut ihm an die Hose spritzte und Stiel und Eisen der Axt benetzte.

Als gegen 8 Uhr der Haubergsvorsteher vorüberkam, fand er ihn fleißig bei seiner Arbeit.

»Morgen Herzkamp! Eckners Peter hat sich mal wieder krank melden lassen. Na, man weiß schon, was ihm fehlt. Er bleibt doch ein alter Söffel. Schön von dir, Karl, daß du wenigstens gekommen bist!«

»Ja, Braunsvatter, ein Spaß ist's aber wahrhaftig nicht, heute zu schuften bei der tollen Hitze.«

»Du hast wohl auch noch viel herauszuschwitzen, was du heut nacht 'reingeschüttet hast, was? Ihr müßt doch gestern abend wieder mal arg wüst gewesen sein beim Krüger.«

»Na, so schlimm war das nicht«, brummte Herzkamp.

»Karl«, sagte der Haubergsvorsteher freundlich und eindringlich, »Karl, du weißt, daß ich's ehrlich mit dir meine. Dein Großvater und ich waren gute Freunde. Wenn ich dir 'nen Rat geben soll: laß dich nicht mit Völkers August ein. Das ist ein Heimtücker, der«.

»Tu ich denn das?« fuhr der Holzknecht auf, »er soll mich in Ruh lassen – und – die Anna. Die gehört mir, und wenn ich dem alten Kämpf tausendmal nicht gut genug bin. – – Und gestern? – Was braucht sie immer und immer mit ihm zu tanzen, mit dem Schürzenjäger, dem dreckigen! – Das freche Lachen von heut nacht soll er mir noch büßen.«

»Ruhig, Karl, ruhig! Man merkt doch das Herzkämpersche Blut. Das will immer gleich aufspritzen in jachem Zorn oder stammender Liebe. Alles gleich stürmisch, wie'n Feuerbrand. Wenn du einmal warten könntest –!«

»Warten könntest? Wart ich noch nicht lang genug, Braunsvatter? Acht Jahre sind's jetzt her, daß die Anna und ich einig geworden sind. Kein ander Mädel hab ich angesehen und keins angerührt, selbst nicht im Feld draußen. Alles um die Anna. Und ich hab doch auch ein Blut in den Adern und möcht' auch ein Mädel in die Arme drücken wie die andern Burschen. – Aber jetzt halt ich's nicht mehr aus – ewig das Alleinsein zu Haus in der leeren Kammer!«

»Nimm Rat an und tu nix Gewaltsames. Das bessert's auch nicht. Warten, Karl, gut Ding will Weile haben. Und schließlich – was willst denn sonst machen?«

»Pah, es gibt Mädel genug, die nicht zu stolz sind, Herzkämpers Karl zu nehmen. Heut nacht – die Müllerskati – gleich hätt' ich sie haben können – so vom Fleck weg.«

»Die? Herzkämper, die? Die statt Kämpfs Anna? Dann könntest mir leid tun.« Verächtlich spuckte er aus und schüttelte zornig den Kopf.

»Na, ich hab's ja auch nicht getan, Braunsvatter. Aber kannst mir glauben, lang halt ich's nicht mehr aus.«

»Karl, wenn du nur willst!« sagte der Alte fest und wandte sich zum Gehen, »du kannst viel, wenn du willst

Er stapfte davon. Mürrisch wandte sich der Holzknecht wieder zur Arbeit. Aber seine Bewegungen waren noch hastiger und ungestümer geworden.

»Wenn du willst – ha, das sagt die Anna auch immer. Aber bald will ich nicht mehr.«

Als die Dorfkirche 10 Uhr schlug, warf er sich unter der großen Eiche ins Moos, um sein Frühstück zu verzehren.

Tiefe Falten lagen auf seiner finsteren Stirn, während seine Zähne wie in hartem Trotz in das braune trockene Brot bissen, das seinen Morgenimbiß bildete.

Kämpfs Anna – wie die Gedanken an sie ihm heute so heiß durch den Kopf schwirrten! Was das Mädel für eine Gewalt über ihn hatte! Immer war er ein rauher Mensch gewesen. Einen Vater hatte er nie gekannt; der hatte die Mutter ins Unglück gebracht und dann in Armut und Schande sitzen lassen. Da hatte der kleine Karl früh heran gemußt, zuerst mit Kartoffelauflesen und Viehhüten bei den Bauern, später mit Schanzenmachen in Hauberg. Wie stolz war er, als er der Mutter sein erstes selbstverdientes Geld heimbrachte! Freilich wild war er, und heißes Blut hatte er von früh auf gehabt. Wie er aufbrauste, als kleiner Bub schon, wenn die Kameraden von den großen Bauernhöfen ihn über die Achsel ansahen! Völkers August zumal, der mit dem fuchsroten Haar, war immer sein schlimmster Gegner gewesen, solange er denken konnte. – Nur eine hatte alles mit ihm fertig gebracht, Kämpfs Anna. Wenn er den Rothaarigen verhauen wollte, – einmal, wie er der Anna einen Eisball an den Kopf geworfen hatte – und damals im Sommer, wie er ihr die Düte mit Kirschen aus der Hand schlug – da hatte sie ihren kleinen, wild aufbrausenden Verteidiger mit ihren beiden Händchen festgehalten: »Sei ruhig, Karl, sei ruhig! Ich habe Angst vor dir, wenn du so wild bist.« Ach, ihre kleinen Fäustchen hätten ihn ja nicht zu halten vermocht; aber den blauen Kinderaugen hatte er nicht widerstehen können. Die waren stärker als seine Wut und seine Hitze. Eins nur konnte er schon damals nicht begreifen: daß sie solch unbegrenztes Vertrauen zu ihm hatte. Und das Wunderbarste war: wenn sie ihm etwas zutraute, wahrhaftig, dann konnte er es auch. Mit den Schulaufgaben war es so gewesen – und später mit größeren Dingen.

»Karl, du kannst es; wer soll es denn können, wenn nicht du!« – Wenn sie das sagte und ihn mit der ganzen Zutraulichkeit ihrer süßen Kinderaugen ansah, dann gings wie ein Strom von Kraft durch seine Adern. Ach, das waren die Sonnenstrahlen seiner traurigen Kinderjahre gewesen. Die waren so hell, so leuchtend, daß er darob all die Dunkelheit und Lieblosigkeit daheim im Armenhausstübchen ertragen hatte.

Dann war er groß geworden. Ein Handwerk wollte er lernen oder in die Stadt in die große Maschinenfabrik. Dreher oder Monteur – das wäre etwas für ihn. Geschickt war er, und er hatte einen klugen Kopf. Aber die Mutter hatte hart aufgelacht: »Ach was, hier bleibst du und hilfst mir Geld verdienen!«

Da war er Holzknecht geworden; zu hauen gabs ja genug in den stundenweiten Hochwäldern droben am Wetterkopf. Bald kam die Zeit, wo er merkte, daß aus der Kinderfreundschaft mit Anna Kämpf etwas Anderes wurde, – etwas wunderbar Großes, heilig Schönes.

Aber als er seiner Mutter etwas davon andeutete, war ihre Antwort wieder das kalte, häßliche Lachen: »Du bist wohl nicht klug. Willst ja hoch hinaus. Gleich die reichste Bauerntochter und den schönen Hof dazu? Der alte Kämpf wird dich zum Hause hinausjagen, oder willst etwa die Anna hier ins Armenhaus holen?«

Da hatte er mit den Zähnen geknirscht und war in stummer Wut hinausgegangen.

Von da an war ihm das erbärmliche Loch unterm Dach, das ihm als Schlafraum diente, widerlicher denn je. Mit seiner Mutter verstand er sich je länger je weniger. So war's denn gekommen wie so oft: er suchte Gemütlichkeit und gute Kameraden da, wo beides auf die Dauer doch nicht zu finden ist, im Wirtshaus. Und mehr als einmal schaute er tiefer ins Glas als ihm gut war. Und bei jeder wüsten Rauferei und viel tollen Streichen war er dabei.

Wenn Anna ihm, was freilich selten vorkam, begegnete, sah sie ihn wohl mit so traurigen Augen an, daß es ihm ins Herz schnitt. Und er mußte manchen, manchen Abend trinken, um die stillen, wehen Augen zu vergessen, die ihn Tag und Nacht verfolgten.

Nur einmal – ach, den Tag vergaß er nicht, während des Krieges war er es gewesen, als er gerade auf Urlaub daheim war – da hatte sie wieder die alte Gewalt über ihn gewonnen: das war bei dem Brand drunten bei der Setzerlies. Das war ein armes Weib; ihr Mann war im Kriege gefallen, und sie schlug sich ehrlich und fleißig mit ihren fünf Kindern durch. Eines Abends, keiner wußte, wie's gekommen war, stand ihr Hof in lichten Flammen. Die Feuerwehr des Dorfes vermochte nichts auszurichten gegen die Glut, die gierig um sich fraß. Händeringend stand das arme Weib mit ihren bleichen Kindern dabei und sah mit schreckweiten Augen, wie ihr bischen Hab und Gut ein Raub der Flammen wurde.

»Die Bleß, o die arme Bleß!« schrie sie plötzlich und sprang unter die Schar der Männer, »rettet doch meine Kuh!«

»Unmöglich«, sagte der alte Kämpf, der zugleich Brandmeister der freiwilligen Dorffeuerwehr war, »es ist ganz unmöglich, durchzukommen. Ihr seht doch, die brennende Scheune versperrt ja den Weg. Und die Stalltür brennt auch schon. Jeden Augenblick kann das Strohdach heruntersausen. Wer dann im Stall ist, ist rettungslos begraben. Da wagt sich keiner mehr durch.«

Tatsächlich sahen sich die Männer gegenseitig ratlos an.

»Nee, das kann man nicht verlangen, ein Menschenleben für ein Tier zu opfern.«

Da hatte plötzlich Karl Herzkamp, der an der Feuerspritze stand und wacker mitgepumpt hatte, eine weiche Hand auf seinem Arm gefühlt. Als er sich umwandte, stand Anna im Gedränge hinter ihm und sah ihn mit ihren alten Kinderaugen so lieb und flehend an.

»Karl, ist das wirklich unmöglich, der armen Frau ihre Kuh zu retten? Ich meine – du, wenn du wolltest, du könntest es.«

»Anna, glaubst du? –«

Den Atem hatte er angehalten, kurz hatte er die Frage hervorgestoßen.

»Versuchs, mir zulieb!« flüsterte sie.

Und wieder hatten ihn die tiefen Blauaugen mit dem ganzen Herzensvertrauen angesehen, das so unwiderstehlich für ihn war.

»Du, ich kann's! Für dich tu ich's!«

Dann hatte er mit beiden Händen in den Wasserbehälter gegriffen und sich von oben bis unten die Kleider naß gemacht.

»Was hast du vor, Herzkämper?«

Ohne eine Antwort zu geben, hatte er eine Wagendeichsel ergriffen, war mit großen Sprüngen über den Hof gerannt, in dem überall Fetzen des brennenden Strohdachs aufflammten, und hatte mit ein paar mächtigen Stößen die Stalltür aufgesprengt.

»Zurück, Herzkämper, du bist ja verrückt«. Fünf, sechs auf einmal hatten es geschrien. Aber schon hatte er mit seiner Deichsel das brennende Stroh fortgefegt, das ihm den Weg versperren wollte, und war in der Stalltür verschwunden.

»Wasser auf die Stalltür!« hatte Kämpf sofort kommandiert, und der dünne Strahl der kleinen Dorfspritze fuhr zischend in die Glut.

Wie es möglich war, das hat nachher keiner zu sagen gewußt; aber Herzkamp hatte die Kuh wirklich aus dem schon brennenden Stall herausgebracht. Zwei Minuten später rutschte das ganze brennende Strohdach rechts und links vom Dachstuhl herunter und begrub auch den Stall unter seiner Lohe. Nie wieder vergaß Karl den Blick, mit dem ihm Anna nachher die Hand drückte.

»Du, das war brav! Ich wußt' es ja.«

»Anna, wenn du es sagst, dann kann ich alles, alles!« – – –

Ach, wie lange war das schon her! Damals hatte er die Brust voller Hoffnungen. Wie ihn das anspornte und hob: Mochten sie alle gering von dem Holzknecht denken, Anna hatte Vertrauen zu ihm. Freilich, der alte Kämpf wies ihn kurz ab, als er nach seiner Rückkehr aus dem Kriege es endlich wagte, um Annas Hand zu bitten. Da war es schlimmer mit ihm geworden. Und seitdem gar der rote August sich um Annas Gunst bemühte, war mit Karl Herzkamp nichts mehr anzufangen. Kein Tanz, bei dem er nicht in brennender Eifersucht Streit anfing. Und gestern, ja gestern war das Maß voll geworden. Völkers August hatte sich wieder so dreist an Anna herangedrängt, daß Karl Herzkamp nur mit Mühe von seinen Freunden zurückgehalten werden konnte; Mord und Totschlag hätte es sonst wohl gegeben. Da hatte er eine zeitlang draußen im Garten gestanden, stumpf und dumpf vor sich hinbrütend. Endlich hatte er wie rasend mit der Müllerskati getanzt, dem frechsten, verrufensten Mädel im ganzen Dorf, und war früh am Morgen mit ihr heimgegangen. Unterwegs war sie immer aufdringlicher geworden und hatte ihn in wildem Taumel geküßt, daß ihm Hören und Sehen verging. Wenn ihm da nicht die stillen, traurigen Augen seiner Anna eingefallen wären, die ihn ansahen so weh und doch noch mit einem Rest des alten Vertrauens – wahrhaftig, es wäre vielleicht zum Aeußersten gekommen. So behielt er noch Besinnung genug, als sie vor ihrem Elternhaus standen, sich loszureißen. Aber wüste Träume hatten ihn in den paar Stunden gequält, die er in seiner heißen Dachkammer Ruhe suchte.

War es ein Wunder, wenn ihm auch jetzt noch das Blut wie im Fieber durch die Adern rann? Nun, beim Morgenimbiß, griff er wieder nach der Schnapsflasche. Das tat nicht gut. Die Träume der letzten Nacht wurden wieder lebendig, in denen die stürmischen Liebkosungen der Kati eine große Rolle gespielt hatten. Zorn und Trotz wirbelten in seinem Kopf durcheinander.

»Ha, jetzt ein Weibsbild in den Armen haben! Wenn's nicht anders ist, kann ich auch ohne die Anna leben. Das sollt ich ihrem Vater schon zeigen.«

Wieder reckte er die nervigen Arme, und die Augen flackerten in brennender Lust. Da hörte er ein leises Geräusch unten auf dem Pfad. Eine junge Dame in duftigem, weit ausgeschnittenem Sommerkleid ging vorüber, ohne daß sie ihn sah.

»Ah, das Stadtfräulein!«

Sie hatte Schuh und Strümpfe ausgezogen und ging barfuß auf dem weichen Gras. Hell blinkten ihre weißen Füße im Sonnenschein.

Karl Herzkamp pfiff leise durch die Zähne. Das Flackern in seinen Augen wurde nun wirklich unheimlich. Er erkannte sie, sie wohnte ja als Sommergast bei Kämpfs. Anna hatte ihm manches von ihr erzählt.

»Ha, weiß schon, wo sie hingeht. Will wieder ihre Luftbäder nehmen droben im Gebüsch am Wettertopf. Ist auch so'ne neue Mode für die verrückten Stadtleut, sich im bloßen Hemd in die Sonne zu legen.« –

Plötzlich furchte sich seine Stirn, zischend sog er die Luft zwischen den Zähnen ein.

»Ha, sie meint wohl, da oben käme nie einer hin! Als ob Herzkämpers Karl nicht alle Wege hier kännte, auch die allerverstecktesten!«

Ein böses Lauern glomm in seinen Augen. Minutenlang saß er da und starrte der Gestalt nach. In seinem Innern kämpfte es. Wieder griff er nach der Schnapsflasche, um das stürmische Blut zu beruhigen. Aber das Gegenteil war natürlich die Folge. Leise stand er auf und schlich dem fremden Fräulein nach in die schwarzen Tannen hinein. Kein Laut war hier zu hören, lastend und dumpf lag die Schwüle unter dem undurchdringlichen Geäst. Etwa zehn Minuten mochte er so geschlichen sein, halb geduckt, wie ein Raubtier, das zum Sprung ansetzt – da schimmerte es hell vor ihm auf. Fräulein Petring saß vor einer Staffelei und malte ihren stillen Waldwinkel, auf dem die Sonne ihre lustigsten Tänze aufführte.

»Ich komme zu früh. – Ach was, zu früh, jetzt will ich –«

Erstaunt sah die Malerin auf, als plötzlich ein Zweig hinter ihr knackte, und ein Mann von ziemlich zweifelhaftem Aussehen aus dem Dunkel der Tannen trat. Ein jäher Schreck zuckte ihr durch die Glieder, als sie in die Augen des halb Betrunkenen sah. Doch sie faßte sich schnell, sah ihn freundlich an und sagte so fest, wie ihre etwas zitternde Stimme es zuließ: »Guten Morgen!« – Und, als müsse sie ihre eigene Stimme hören, die ihr bei dem unheimlichen Schweigen des Fremden die Angst vertreiben sollte, fuhr sie schnell fort: »Was haben Sie hier für ein entzückendes Fleckchen Erde in Ihrem herrlichen Wald! Ich bin ganz verliebt in Ihr schönes Brachtlingen und besonders hier in die schwarzen Tannen.«

Karl Herzkamp war ganz verwirrt. Ihre Freundlichkeit und scheinbare Zutraulichkeit entwaffneten ihn völlig. Wie eine große Ernüchterung kam es über ihn.

»Hm«, brummte er, »schön ist's hier freilich. Aber – es ist nicht ganz ungefährlich, hier so allein unter den schwarzen Tannen.« »Schafskopf«, dachte er, »das wolltest du doch garnicht sagen. Dazu bist du ihr doch nicht nachgeschlichen.« Aber er kam nicht dazu, den Gedanken weiter zu verfolgen. Mit einem freilich etwas erzwungenen Lachen gab Fräulein Petring zurück: »O, wer sollte mir hier etwas tun?«

»Na, eine junge Dame, wie Sie … es gibt doch Menschen, die …«

Er schwieg verlegen.

»Hören Sie mal, Sie machen mich ja ordentlich bange. Da ist es ja ein Glück, daß Sie jetzt bei mir sind. Da habe ich ja Schutz. Darf ich mit Ihnen gehen? Ich bin nun wirklich etwas ängstlich geworden, hier so allein zu bleiben.«

Bei diesen Worten ging eine merkwürdige Veränderung auf dem Gesicht des Mannes vor. Die Starre und Wildheit wich, und es kam ein großes Staunen in seine weitgeöffneten Augen. Da war wieder dies merkwürdige Vertrauen, das ihm bei Anna immer so gefreut hatte. Vor diesem Vertrauen zog sich all das Häßliche, was er eben noch gedacht und gewollt hatte, wie ein geprügelter Hund in den äußersten Winkel seines Herzens zurück.

»Ja«, sagte er und seine Stimme bekam einen eigentümlich hellen Klang, »so lange ich bei Ihnen bin, tut Ihnen keiner was. Da können Sie sicher sein.«

Bald kam wieder Farbe in Fräulein Petrings blaß gewordenes Gesicht. Mit einem erleichterten Aufatmen packte sie ihr Malergerät zusammen, warf noch einen raschen fragenden Blick auf den sonderbaren Waldmenschen, in dessen Mienenspiel sie eine so überraschende Veränderung gelesen hatte, und ging dann zutraulich plaudernd mit ihm den Weg zurück, den sie gekommen war.

»Was ist Ihr Brachtlingen doch für ein entzückendes Nest! Und was für prächtige Menschen haben sie hier! Ich wohne nun schon seit drei Jahren alle Sommer in meinen Ferien bei Kämpfs. Was sind das für gediegene Leute! Der Vater so ehrenhaft und treu; allerdings auch ein bischen störrisch und hartköpfig, wie hier in Westfalen die Männer sind. Die Mutter – schade, daß sie voriges Jahr so plötzlich starb – ganz das Gegenteil von ihm, eine rechte Hausmutter, freundlich und gütig zu allen, ob reich oder arm. Und die Anna ist wohl ganz ihr nachgeschlagen. Die habe ich besonders in mein Herz geschlossen. Was ist das für ein Mädel, flink und fleißig den ganzen Tag!«

»So war die schon als kleines Kind«, kam es leise wie verträumt von Karls Lippen. »Wir haben zusammen auf der Schulbank gesessen manches Jahr und – sind gute Freunde gewesen.«

Ein Wort gab das andere, und bald hatte Fräulein Petring heraus, wer ihr Begleiter war. Anna hatte ihr so einiges gebeichtet von ihrer unglücklichen Liebe und des Vaters Starrsinn. Nun wußte Fräulein Petring hundert kleine feine Züge von Anna zu erzählen, daß aus Karls Herzen auch die letzte Spur von all dem häßlichen Nachtspuk schwand, der ihn vorhin fast zum Verbrecher gemacht hätte. Da wurde auch er gesprächig und zutraulich und ließ die fremde Dame ein wenig in seinen Aerger und Kummer hineinschauen.

»Wenn's noch lange so weiter geht, dann werde ich schlecht. Ich kann einfach nicht mehr. Ohne die Anna geht alles Gute in mir tot. Wenn ich ein Lump werde, hat's der alte Kämpf mit auf dem Gewissen.«

»Sie ein Lump? Wenn ich das der Anna sagte, würde sie mit einem lieben Lächeln den Kopf schütteln. Die hat ein unbegrenztes Zutrauen zu Ihnen. ›Wissen Sie, Fräulein Petring‹, sagte sie gestern noch zu mir, ›ich kenne meinen Karl besser, als er sich selbst kennt. Was der ehrlich und fest will, das erreicht er doch noch. Der liebe Gott wird ihm schon helfen. Und ich halt ihm die Treue, mag kommen, was da will. Einmal wird der Vater ja doch seinen Widerstand aufgeben. Und dann sollen die Leute im Dorf, die jetzt über den Karl schelten, erst mal sehen, was noch alles an Gutem und Feinem in meinem Bub drin steckt. Er hat nur eine liebe Hand nötig, die ihm den Zorn und die Hitze aus dem Gesicht streicht. Die will ich ihm geben. Dann wird noch alles gut.‹ So hat sie gesagt; und Sie hätten mal sehen sollen, wie sie dabei strahlte, und wie rot sie wurde. Haben Sie nur noch Geduld, Herzkamp, unser Herrgott lebt noch und läßt Sie nicht im Stich.«

»Ich dank' Ihnen, Fräulein, ich danke Ihnen. Die Anna denkt – viel zu gut – von mir. Und Sie auch. – Das verdiene ich garnicht … aber nun will ich – so werden, wie sie meint. Und will auch warten –. So, hier ist mein Arbeitsplatz«, fuhr er nach kurzer Pause fort, »wenn Sie hier in Rufnähe bleiben, kann Ihnen nichts zustoßen.«

»Schön, ich klettre dann etwas da oben auf der Höhe herum und sehe, daß ich da noch ein schönes Bild male. Guten Morgen, und vielen Dank, Herr Herzkamp, für Ihre Begleitung! Und Anna darf ich doch einen schönen Gruß von Ihnen bestellen, nicht wahr?«

»Ja, sagen Sie ihr, – ich bliebe ihr – auch treu.«

Mit gesenktem Kopf reichte er ihr die Hand und kletterte durch das Astgewirr der großen Tanne zu, unter der er seine Axt hatte liegen lassen. Fräulein Petring aber wanderte den Fußpfad weiter und bog dann rechts ab, um die Höhe zu gewinnen.

*

Zwei Stunden mochten verstrichen sein. Vom Dorf läutete die Mittagsglocke. Nun mußten bald die Essenträger kommen, die jeden Mittag drüben zur Grube »Glücksfund« gingen. Mit denen pflegte dann seine Mutter auch ihm das Essen zu bringen. »Donnerschlag, jetzt muß ich aber nachholen, was ich versäumt. Herrgott, was wär geworden, wenn ich – das vorhin – getan hätte!« Mit wahrem Feuereifer gab er sich wieder an seine Arbeit.

Eine Viertelstunde mochte er geschafft haben, da hörte er mit einem Mal einen gellenden Schrei oben von der Höhe her, wo Fräulein Petring verschwunden war. »Hilfe! Herzkamp! Hilfe!« Er horchte auf; da, wieder der gräßliche Schrei, aber nur noch wie ein Aechzen und Stöhnen. »Sollte ihr … Herrgott, wenn ein anderer dieselben gemeinen Gedanken …!« Eine furchtbare Angst schnürte ihm die Kehle zu. Er riß seine Axt in die Höhe und rannte den Hang hinauf. Bald kam er an das Unterholz. Die Zweige schlugen ihm rechts und links um den Kopf. Er riß sich die Wunde an seiner rechten Hand wieder auf, drei, vier neue Schrammen an Gesicht und Händen kamen dazu. Er achtete nicht darauf.

Oben blieb er stehen, sein Atem ging in Stößen.

»Fräulein, wo sind Sie?«

Keine Antwort. Er lauschte. Da hörte er's drüben im Hauberg rascheln, als ob einer mit raschen Schritten davon liefe. Er stürzte vorwärts in der Richtung, aus der das Geräusch kam. Nun war er an dem Pfad, der vom Dorf heraufkam und der hier einen Knick machte. Hier mußte Fräulein Petring vorhin hergekommen sein. Im Vorüberspringen sah er gerade noch, wie unten ein paar Essenträger angerannt kamen. Die mußten die Hilferufe auch gehört haben. Aber weiter, nur nicht lange aufhalten! Sonst konnte es zu spät sein. Da schimmerte etwas durch die Büsche.

»Herr Gott, da liegt sie.«

Im Gras neben ihrer umgestürzten Staffelei lag Fräulein Petring besinnungslos auf dem Rücken, das Gesicht blutüberströmt. Ihr Kleid war zerfetzt; man sah, eine rauhe Hand mußte ihr in den Gürtel gefaßt und ihn mit einem Ruck aufgerissen haben.

Als hätte einer ihm einen fürchterlichen Schlag vor den Kopf gegeben, so stand Herzkamp da und starrte auf die wie tot daliegende Gestalt. »O Gott, wenn – ich das getan hätte! Wie gräßlich, wie gräßlich …« Da wurden Stimmen laut. Die alte Brinkmutter und ein paar Mädchen mit ihren Eßgeschirren kamen keuchend angerannt.

»Was ist, Herzkämper, was ist? Wer hat das getan?« Die Fragen überstürzten sich. Die Mädchen wandten sich mit gellendem Schrei ab und liefen den Berg wieder hinunter. Nur die alte Frau Brink, die gewohnt war, fest zuzugreifen, kniete ohne Besinnen neben der Besinnungslosen nieder und horchte auf ihren Atem.

»Sie lebt noch. Vorwärts, Herzkamp, holt mal Hilfe! Wir müssen sie hinunterschaffen. Was steht Ihr denn da und starrt so daher? Und Eure Hand blutet ja! Und die Axt …? O Gott, Herzkamp, habt Ihr …?«

Das Wort blieb ihr im Halse stecken. Mit schreckensbleichem Gesicht schaute sie den wie betäubt Dastehenden an. Da fuhr er auf und schrak zusammen.

»Ich, Brinkmutter? – was denkt Ihr; helfen hab ich ihr wollen. Aber ich kam zu spät. Da hab ich mich so erschrocken. Dort hinunter ist er gelaufen, ich habe seine Schritte noch gehört. Ich will sehen, ob ich ihn noch fassen kann.«

Dann rannte er fort in die Büsche hinein. Es dauerte nicht lange, da waren ein paar Männer zur Stelle, die die Schwerverletzte ins Dorf brachten. Eine schwere Wunde zog sich über die rechte Kopfhälfte; man konnte nicht recht sagen: rührte sie von einem Axthieb oder von einem abgerutschten Stich her? Die Striemen am Halse, das zerrissene Kleid und die Schrammen an den Händen ließen erkennen, daß sie sich verzweifelt zur Wehr gesetzt haben mußte. Was der Verbrecher gewollt, war unverkennbar – Er mußte aber gestört worden sein.

Der Dorfvorsteher hatte sofort an den Arzt und an's Amtsgericht telefoniert und stand nun mit dem schnell auf dem Rad herbeigeeilten Doktor Brand und dem Polizisten bei dem alten Kämpf in dessen Gaststube. Der Arzt schüttelte bedenklich den Kopf.

»Ob sie durchkommt, ist mehr als fraglich. Anna, bleiben Sie bei ihr und erneuern Sie den Verband fleißig. Wenn sie zu sich kommt, rufen Sie mich sofort wieder.«

Die Männer gingen hinunter. – – »Wer kann das getan haben?« fragte der alte Kämpf. Der Polizist zuckte die Schultern. Der Dorfvorsteher räusperte sich: »Der Herzkamp soll ja bei ihr gewesen sein und ganz verstört ausgesehen haben. Die Leute erzählen, er habe diese Nacht stark gezecht.«

»Nein, solch eine Tat trau ich ihm nicht zu«, kam es schwer und ernst von Kämpfs Lippen. »Ein Wilder ist er, aber eine Ruchlosigkeit – nein, die tut er nicht.«

Ein überlegenes Lächeln lag auf des Vorstehers Gesicht.

»Hm, wißt Ihr das so genau? Er soll es doch gestern abend schlimmer denn je getrieben haben, und nachher ist er mit der Müllerskati zusammen gesehen worden in nicht gerade vorteilhaftem Zustand. Bei Krüger hat er sich diese Nacht um 1 Uhr noch seine Schnapsflasche füllen lassen. Man könnte ja vielleicht feststellen, wieviel da noch drin ist. Und warum war er denn so verstört, als die Brinksmutter ihn an der Unglücksstelle traf? Er hat doch im Kriege genug Verletzte gesehen? Und dann, die Mädchen sagen doch beide, sie hätten genau gehört, daß Fräulein Petring »Herzkamp« geschrien hätte. Sie muß ihn also erkannt haben. Nee, wenn ein Fall klar liegt, dann ist es dieser.«

Der Polizist ging hinaus und hörte denn auch bald, daß Karl Herzkamp aus dem Wald ins Dorf zurückgekehrt sei, natürlich ohne den Verbrecher gefunden zu haben.

»Schrecklich hat er ausgesehen!« flüsterten ihm ein paar Frauen zu, »so wild die Augen und die ganzen Hände voll Blut.«

Bald stand der Verdächtige vor den dreien drinnen in der Stube.

In der Schnapsflasche war nicht mehr viel, und er gab zu, heute morgen davon getrunken zu haben. An Hand, Gesicht, Hemdsärmeln, Hosen und Beil war frisches Blut. Seine Angabe, daß er sich beim Holzfällen gerissen habe, nahm man mit schweigendem Achselzucken hin. Die Aussagen der Mädchen und besonders der alten, unbedingt zuverlässigen Brinksmutter waren ebenfalls außerordentlich belastend. Er selbst war auffällig ruhig geworden. Aber auch sein Schweigen legte man ihm als verdächtig aus.

Nach und nach hatte sich das halbe Dorf vor Kämpfs Hause eingefunden. Allerhand dunkle Gerüchte schwirrten hin und her. Und wie es immer geht: das Böse wurde nur zu gern geglaubt.

Nur die Setzerlies begehrte auf, als sie von dem Verdacht gegen den Herzkämper hörte … »Was, der? Das ist eine niederträchtige Verleumdung. Ein wilder Bursch ist er, ja. Aber eine Schlechtigkeit, ein so gemeines Verbrechen – nee, dazu ist er nicht fähig. Der hat mir damals die Bleß gerettet, weil er die arme Kreatur nicht sterben sehen und nicht brüllen hören konnte, und der sollte ein Menschenleben morden können? Schämt euch, daß ihr so etwas glaubt!«

Auch der alte Haubergsvorsteher, der im ganzen Dorf geachtet und beliebt war, trat für den Angeklagten ein. Aber es half nichts, der Befund war so schwerwiegend, daß der inzwischen im Auto angekommene Amtsrichter seine Verhaftung anordnete.

Merkwürdig gefaßt ließ Herzkamp es zu, daß der Gendarm, den der Amtsrichter mitgebracht hatte, ihm die Hände auf dem Rücken zusammenkettete. Nur als Anna ins Zimmer trat, zuckte er zusammen und bebte am ganzen Körper.

»Karl, du? Was ist? – Herr Gott im Himmel, das ist ja garnicht möglich«, schrie das arme Mädchen auf, als sie den Geliebten in Ketten dastehen sah. »Karl, sag doch nur was! … Es ist nicht wahr, Karl, sag, daß es nicht wahr ist!«

»Nein, Anna, es ist nicht wahr. Ich schwör' dir's bei Gott, ich hab's nicht getan. Wenn Fräulein Petring wieder zu sich kommt, wird sich ja alles herausstellen. Sei nur ruhig, Anna, und trau mir« – setzte er ganz leise hinzu. »Trau nur du mir, – wenn sie's auch alle glauben …!«

Ganz weich hatte seine Stimme geklungen, und in seinen Augen lag ein so heißes Flehen, daß es Anna durchs Herz schnitt.

Sie sah ihn fest und tief an, ruhig hielt er den Blick aus. Da kam das alte sonnige Leuchten unbegrenzten Vertrauens in ihren Blick.

»Du, ich glaube dir!« sagte sie leise und innig.

»Dank, Anna, Dank! Das vergesse ich dir nie.«

Aufrecht und festen Schrittes ging er dann zur Türe hinaus.

Aufschluchzend warf sich Anna in ihres Vaters Arme. »Vater, hilf ihm doch! Dein Wort gilt was. Sag wenigstens, daß du's auch nicht glaubst.«

»Anna, das habe ich schon gesagt. Du weißt, was ich gegen ihn habe. Aber ungerecht bin ich darum nicht. Doch machen können wir jetzt nichts. Gott gebe, daß Fräulein Petring durchkommt; sie wird jedenfalls sagen können, was es mit Herzkamp auf sich hat.«

»O Gott, ich will sie pflegen wie ich nur kann. Es muß ja noch alles ans Licht kommen. Was soll sonst aus mir werden?«

Tief erschüttert führte der alte, sonst so aufrechte Mann sein Töchterchen die Treppe hinauf und trat mit ihr an's Lager der immer noch ohnmächtig Daliegenden. Da schlug die Kranke die Augen auf; aber augenscheinlich kannte sie niemand.

»Herzkamp – Anna!« Leise, fast unhörbar stieß sie die Worte hervor. Helle Angst brach aus den weit geöffneten Augen.

»Herzkamp, – ha, so rotes Haar – das goldene Hirschgeweih – nein, tu mir nichts – ich fürchte mich!« Immer lauter wurde ihre Stimme. »Du, tu mir nichts! – Herzkamp!«, schrie sie plötzlich gellend laut.

Anna verfärbte sich auf's neue.

»Was soll Karl Herzkamp, Fräulein Petring?« fragte sie hastig.

Da kehrten die Blicke der Irren wie aus uferloser Ferne zurück. Verwundert starrte sie das Mädchen an, das sich über sie beugte und ihr leise die Hand streichelte.

»Fräulein Petring, was ist mit meinem Karl? Wer hat Ihnen was getan, Fräulein Petring?«

Ein leises Lächeln huschte über das leichenblasse Antlitz.

»Anna – Karl Herzkamp.«

Dann zuckten die Lippen, die Augen schlossen sich wieder.

Das arme Mädchen brach zusammen und lag bald selbst mit Fieber zu Bett. Am andern Tage aber fühlte sie sich stark genug, um Fräulein Petrings Pflege wieder übernehmen zu können. Es war noch keine Veränderung im Befinden der Aermsten eingetreten. Zuweilen flüsterten die Lippen ein paar wirre Worte; manchmal schrie sie auf in markerschütternder Angst. Aber zu entnehmen war ihren Worten nichts.

Eine ganze Woche ging dahin. Im Dorfe hatte eine genaue Untersuchung stattgefunden; alle Verdachtsgründe waren nur bestätigt worden; keine Spur von dem wahren Täter. Auch eine Ortsbesichtigung droben auf der Höhe und ein Abstreifen des Waldes hatte kein Licht in die dunkle Angelegenheit gebracht. Am Gericht war man allgemein überzeugt, den rechten Verbrecher gefaßt zu haben. Nur der alte Dorfpfarrer, der Karl Herzkamp im Gefängnis besuchte, sagte in seiner ruhigen Art: »Ich habe schon manchen Verbrecher vor mir gehabt. Dieser sieht nicht wie ein Verbrecher aus. Ich kenne ihn doch von klein auf. Seine Ruhe ist nicht die eisige, lauernde Ruhe des gewiegten Mörders, sondern die Ruhe der Unschuld.« Als er zum zweiten Mal in die Zelle ging, blieb er wohl eine halbe Stunde bei dem Gefangenen. Da hatte ihm Karl Herzkamp alles gebeichtet und in tiefer Reue auch erzählt, in welch furchtbarer Versuchung er gewesen sei. Nun betrachte er die Untersuchungshaft als eine gerechte Strafe. Die Wahrheit werde sicher noch ans Licht kommen, darüber sei er ganz beruhigt. Und dann glaube er, daß auch Gott ihm vergeben werde.

Da hatte der greise Seelsorger innig mit ihm gebetet und ihm beim Weggehen fest die Hand gedrückt.

Inzwischen waren zehn Tage seit der grausigen Tat vergangen. Doktor Brand fuhr täglich nach Brachtlingen hinaus und machte ein immer bedenklicheres Gesicht.

»Es ist ein Wunder, daß sie überhaupt noch lebt. Aber sie scheint eine auffallend kräftige Natur zu haben, vielleicht kommt sie doch noch durch.«

Mit steigender Angst wartete Anna von Tag zu Tag auf die Aussagen des Arztes. Tag und Nacht wich sie nicht mehr vom Lager der Kranken. Auf jeden Atemzug lauschte sie, auf jedes leise Röcheln, das über die schmerzlich zusammengepreßten Lippen kam.

Da endlich hörte das wilde Zucken des Gesichts und der Hände auf; der schreckhaft irre Glanz wich aus den Augen, wenn sie sich zu ganz kurzen, lichten Augenblicken öffneten.

Und endlich, am Freitagmorgen, kamen die ersten klaren Worte.

»Anna, dein Karl – ist ein – treuer Mensch«, flüsterte sie wie im Traum.

»O, Fräulein Petring, sagen Sie, was ist mit Karl Herzkamp?«

»Ach Anna, wo – bin ich? – Ich habe wohl – lange geschlafen? – O mein Kopf! – Bin ich krank?«

»Ja, sehr krank sind Sie, schon fast zwei Wochen. Und ganz still müssen Sie liegen. Sie sind im Wald überfallen worden.«

»Ach – ja – Anna, o, das war fürchterlich! Der Mensch sah so gräßlich aus; die Augen, o die Augen vergeß ich nie.«

»Aber Karl war es doch nicht, der Sie angefallen hatte? Denken Sie sich, man hat ihn im Verdacht; und er sitzt seit Sonntag im Gefängnis.«

»Nein, Anna, Ihr – Karl – hat mich beschützt, – er ist ja – so stark – und treu.« Die müden Augen schlossen sich wieder in neuer Ohnmacht.

Mit einem Jubelruf stürzte Anna herunter zu ihrem Vater.

»Vater, sie hat gesprochen, ganz klar. Karl ist es nicht gewesen. O ich wußte es ja. Aber wer es gewesen ist, davon hat sie nichts gesagt. Ach, Vater, nun müssen sie Karl doch loslassen.«

Noch am selben Morgen machte sich Kämpf auf den Weg zum Gericht. Aber man zuckte die Schultern. »Wer ist dabei gewesen, als Fräulein Petring das gesagt hat?«

»Nur meine Tochter Anna.«

»Hm, ist sie nicht mit dem Angeklagten verlobt – oder wenigstens halb und halb?«

Der alte Bauer schüttelte langsam den Kopf. »Nein, verlobt nicht; ich habs nicht haben wollen, daß sie sich heirateten. Aber freilich, die Anna und der Karl, die haben sich lieb. Und ich weiß nicht, ob ich recht getan habe, sie – na, das gehört nicht hierher.«

Ein tiefer Seufzer kam aus des Alten Brust.

Der Richter schüttelte den Kopf.

»Nun, Herr Kämpf, das müssen Sie selbst zugeben, Ihre Tochter ist ein nicht ganz unparteiischer Entlastungszeuge. Ich will natürlich Ihre Aussage zu Protokoll nehmen. Aber aus der Untersuchungshaft entlassen kann ich den Herzkamp daraufhin nicht.«

Schweren Herzens ging Kämpf seinem Dorfe zu.

Weit draußen kam ihm Anna schon entgegen. Sie hatte es nicht ausgehalten vor Erwartung und gemeint, ihr Vater würde ihren armen Karl gleich mitbringen.

Das war eine bittere Enttäuschung, als er allein kam und ihr erzählte, wie's gegangen war.

Langsam in bedrücktem Schweigen kehrten sie ins Dorf zurück.

Vor der großen Scheune in Völkers Hof hielt ein hochbeladener Wagen mit Heu. Oben darauf stand der rote August, fluchend und scheltend, und fuchtelte mit der Heugabel in der Luft herum.

»Vater, sieh nur, er ist schon wieder betrunken«, flüsterte Anna, »seit dem Unglückstag soll er jeden Abend bei Krüger sitzen bis spät in die Nacht und trinken und trinken. Es ist doch scheußlich. Ich bin froh, daß ich ihn damals am Sonntag so abgefertigt habe, als er so frech wurde. Jetzt wird er mich wohl für immer in Ruh lassen.«

»Kind, ich glaube es ja jetzt selbst, er paßt nicht zu dir – und auch nicht zu mir. – Du«, fügte er leise hinzu, »Anna – weißt, wenn Karl wieder da ist, – will ich nichts mehr dagegen haben, daß du ihn nimmst.«

»Vater«, hauchte Anna beglückt und drückte dem Alten still die Hand.

Inzwischen hatte der rote August die beiden bemerkt. Mit lallender Stimme rief er über den Hof:

»'n Tag – Kämpfsvater! Bist beim lieben Schwiegersohn im Gefängnis gewesen? Hat er jetzt gebeichtet!?«

»Schämen sollst du dich«, gab Kämpf ihm zurück, »schämen sollst du dich, am frühen Morgen schon trunken zu sein und einen Unschuldigen zu beschimpfen, der sich nicht wehren kann.«

»Unschuldig? Der Mörder, der!«

»Er ist kein Mörder«, fuhr Anna auf. »Fräulein Petring hat es selbst gesagt, daß er es nicht gewesen ist. Sie war ganz klar bei Besinnung. Und Karl ist genau so unschuldig wie du.«

»Wa – wa – was? Wie ich?« brüllte der Trunkene und torkelte auf dem Heu hin und her, w–wie ich? Hat das die olle Petring auch gesagt, die blödsinnige, verdammte Hexe? Ist sie immer noch nicht krepiert? Stopf ihr doch das Maul zu, wenn sie was sagen will! Unschuldig, w–wie ich!? W–wie ich? Hä – – hätt' ich sie doch lieber ganz –«. Er stockte plötzlich und blickte wirr um sich. Mit einem gräßlichen Fluch stieß er die Gabel ins Heu vor sich hin und hielt sich daran fest.

»Du – Anna«, fuhr er mit einem rohen Lachen fort, »willst du nicht mit deinem unschuldigen Schatz im Gefängnis Hochzeit machen? Das wird fein, du und der Mörder, der Schweinhund, der Lump.« Ein Strom unflätigster Schimpfnamen folgte.

»Schlaf mal erst deinen Rausch aus, ehe du dich unter anständigen Menschen sehen läßt«, sagte da Vater Kämpf mit Nachdruck und Würde und wandte sich zum Weitergehen.

»W–was, anständige M–menschen? Bin ich kein anständiger Mensch, du Lump, du?«

Mit einem Ruck riß er die Heugabel hoch und schwang sie an der Luft, um sie den beiden nachzuschleudern, kam aber dabei so stark ins Schwanken, daß er das Gleichgewicht verlor. Die Gabel fiel ihm aus der Hand, mit dem Stiel nach unten, er selbst stürzte hinterher und spießte sich die spitzen Zinken durch den Oberschenkel. Mit einem gräßlichen Schrei schlug er schwer auf das Steinpflaster des Hofes und blieb besinnungslos liegen.

Sein Vater, der Dorfvorsteher, war bei den letzten Worten aus dem Haus getreten und hatte den wüsten Auftritt mit angesehen. Alles stürzte auf den Schwerverletzten. Kämpf riß die Heugabel aus der furchtbaren Doppelwunde heraus, dann trugen sie ihn ins Haus.

Es dauerte nicht lange, da kam er zur Besinnung. Brüllen und Schreien wechselten mit gräßlichen Flüchen und erneuten Ohnmächten. Schweigend griff Anna zu, wusch mit geübten Händen die Wunden aus, legte einen Notverband an und machte nasse Umschläge um die Stirn, die im Fieber zu glühen begann.

Anna ließ wie in halber Betäubung die Augen durchs Zimmer schweifen. Es sah unordentlich in Augusts Stube aus. »Ja, wo keine Mutter mehr ist«, seufzte der Vorsteher, als er Annas Blicke sah.

»O Gott, was ist das?« sie zeigte auf einen Schlips, der auf dem Waschtisch lag.

Ein kleines goldenes Hirschgeweih schmückte die Nadel, die darin steckte.

»Die Schlipsnadel?« fragte Völker, »was ist daran Besonderes? Die hat August sich neulich auf der Kirmes gekauft.«

»Vater«, erregt stieß Anna die Worte hervor, »Vater! Woher kennt Fräulein Petring die?« –

»Fräulein Petring? Was hat die mit der Schlipsnadel zu tun?« fragte erregt der alte Völker.

»Ja, wenn wir das wüßten?« kam es fast tonlos von Annas Lippen. »Sie spricht in ihren Fieberphantasien immer wieder von einem goldenen Hirschgeweih.«

Wie gebrochen sank der alte Völker auf einen Stuhl. Aschfahl war er geworden. Kein Wort kam über seine Lippen.

Anna machte sich schnell mit dem Verwundeten zu schaffen und wusch ihm das Blut von Bein und Fuß. Die Kühle schien dem Kranken wohl zu tun; er schlug wieder die Augen auf und richtete sich etwas in die Höhe.

Als er Annas Tun bemerkte, schrie er auf wie in plötzlicher Ernüchterung.

»Anna, du? Das tust du für mich?«

Er sank hintenüber und stöhnte schwer.

»Anna, laß das! – Anna, geh!« Jedes Wort war wie ein Schrei. »Anna, ich bin's nicht wert, – o Gott – ich habs ja getan – ich – ich –« die Stimme schwoll immer stärker an und ging in ein gräßliches Brüllen über – »Anna! Vater! Ich bin der Mörder!«

Minutenlang war eine lautlose Stille im Zimmer. Dann barg Anna ihr Gesicht in die Hände und schluchzte laut auf. Da kam zur rechten Zeit die Gemeindeschwester, der man von dem Unglücksfall berichtet hatte.

Wie eine Schlafwandlerin wankte Anna am Arm ihres Vaters nach Haus. Da fanden sie Doktor Brand bei Fräulein Petring, die bei klarem Bewußtsein war. Sie hatte dem Arzt erzählt, ein Mensch von vielleicht 26 Jahren in brauner Joppe, mit brandrotem Haar, offenbar betrunken und wie verschlafen, mit ganz verschwiemelten Augen, sei im Wald auf sie zugetreten, als sie dort oben malte, und habe sie angesprochen. Sie meine ihn öfters im Dorfe gesehen zu haben. Er sei dann rasch zudringlich geworden und habe sie vorn in den Gürtel gefaßt. Erschreckt habe sie um Hilfe gerufen. Herzkamp sei ja in der Nähe gewesen und habe ihr seinen Schutz angeboten. Da sei er über sie hergefallen; weiter wisse sie nichts. Doch ja, eins habe sie noch in der Erinnerung, das habe sie blitzartig gesehen, als er sich über sie warf: als Schlipsnadel habe er ein kleines goldenes Hirschgeweih getragen.

Sofort ließ Vater Kämpf die Braunen anspannen und den Arzt aufs Gericht fahren.

Als der Knecht in der Dämmerung mit dem Wagen zurückkam, saß ein zweiter Fahrgast neben ihm auf dem Bock.

»Karl! Mein Karl.«

Mit einem Jubelruf stürzte Anna aus dem Hause. In einem Satz war Karl Herzkamp vom Bock herunter und schloß die Weinende in die Arme. Hastig zog sie ihn ins Haus, wo der Vater ihm mit gesenktem Haupt entgegentrat.

»Karl, du sollst sie haben, Karl. Sie hat an dich geglaubt, immer, immer!«

»Kämpfsvater, erst muß ich beichten, was ich dem Pfarrer im Untersuchungsgefängnis schon gebeichtet habe.«

Still wurde es im Zimmer; die drei saßen zusammen im halbdunkeln Eck um den großen Familientisch und langsam, tropfenweise, kamen die Worte von Karls Lippen. Alles erzählte er, alles, von seiner lichtlosen Jugend und seinen elenden häuslichen Verhältnissen, von seiner brennenden Ungeduld und Verzweiflung, von seiner Wildheit und der Müllerskati, von der Schnapsflasche und der furchtbaren, furchtbaren Versuchung – und immer wieder klang es durch, das eine, befreiende: Annas Vertrauen, das war die Kraft, die ihn hielt. Weil Anna an ihn glaubte, darum war er kein Lump und Verbrecher geworden.

Als er auserzählt, nahm Vater Kämpf seine Hand und preßte sie, daß Karl zusammenzuckte. »Herzkämper, wenn ihr – schuldig worden wärt, – dann wäre ich mitschuldig geworden, weil ich euch den stärksten Halt genommen hatte. Vergebt mir!«

»Kämpfsvater, ihr müßt mir vergeben. Ich hab's euch ja wahrhaftig nicht leicht gemacht, mir die Anna zu geben. Aber nun versucht es einmal, Vertrauen zu mir zu haben! Wenn ihr mir's zutraut, wahrhaftig, dann werde ich ein andrer Mensch. Wenn ihr nach einem Jahr zufrieden mit mir seid, dann – dann gebt mir die Anna! Unser Herrgott soll es euch vergelten!«

Still nickte der Alte: »Kinder, ja, so soll's sein. Habt euch nur lieb!« Da warf sich Anna an seine Brust, küßte ihn innig und flog dann ihrem Karl in die Arme.

»Karl, du! Ich habs ja gewußt, daß noch alles gut würde. Ich glaube an dich, und nun soll uns nichts mehr voneinander reißen.«

»Amen!« sagte der alte Kämpf und faltete die Hände.

Droben im Krankenzimmer schlief Fräulein Petring der Gesundung entgegen. Des Vorstehers Sohn aber lag in wirren Fiebern; in die an sich nicht so gefährliche Fleischwunde mußte wohl Schmutz von der Gabel gekommen sein: in der zweiten Nacht setzte Wundstarrkrampf ein, und nach drei Tagen war der rote August tot.

Karl Herzkamps Leben aber nahm eine ganz neue Wendung. Der alte Kämpf selber nahm ihn als Großknecht in seinen Dienst, und was ihm zuerst an Erfahrung und Uebung fehlte, das ersetzte er reichlich durch Eifer und Treue. Und wie zwei Glückssterne leuchteten über seinem Leben die stillen, treuen Augen seiner Anna, die ihm immer wieder zu sagen schienen: »Ich traue dir, du kannst es


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