Anonym
Der Heliand
Anonym

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Die Blinden vor Jericho

                Nun fuhr er vorwärts,   freudigen Sinn
In der Brust geborgen,   der Geborne des Herrn.
Zu Jerusalem wollt er   des Judenvolkes
Übeln Willen weisen,   denn wohl erkannt er
Ihr heißgrimmes Herz,   ihren harten Sinn
Und widrigen Willen.   Die Wandernden zogen
Vor Jericho hin:   der Gottessohn
In der Menge, der mächtige.   Zwei Männer saßen am Wege,
Erblindet beide,   der Besserung bedürftig,
Daß sie heilte   der Himmelswalter,
Die sie leider lange nun   des Lichtes entbehrten,
So manche Stunde.   Sie hörten die Menge nahn
Und fragten sofort   beflissentlich,
Die Starrblinden,   was für ein starker Held
In dem nahenden Volke   der Vornehmste wäre,
Der hehrste Häuptling.   Der Helden einer versetzte,
Daß Jesus Christus   von Galiläaland,
Der Heilande bester,   der Hehrste wäre
Vor dem Volk, das ihm folge.   Da wurde fröhlich das Herz
Den beiden Blinden,   da sie Gottes Geborenen
Unter der Leute Schar wußten.   Da schrien sie laut
Zu dem Heiligen Christ,   daß er ihnen Hilfe gewährte.
»Herr, du Sohn Davids,   sei uns mild mit der Tat,
Entnimm uns dieser Not,   wie du so viele nimmst
Des Menschengeschlechts.   Du bist so manchem gut,
Hilfst und heilest.«   Da wollten ihnen die Helden
Mit Worten wehren,   daß sie zu dem waltenden Christ
So laut nicht riefen.   Sie aber ließen nicht ab,
Immer mehr und mehr   über der Männer Volk
Zu schreien ungestüm.   Da stand der Heiland still,
Der Gebornen bester,   hieß sie zu ihm bringen,
Durch die Leute leiten   und legt' ihnen die Frage vor
Milde vor der Menge:   »Was möchtet ihr von mir denn
Für Hilfe erbitten?«   Da baten sie den Heiligen,
Daß er die Augen ihnen   öffnen wollte,
Dieses Licht verliehe,   daß sie der Leute Lust,
Den hellen Sonnenschein,   erschauen möchten,
Die wunderschöne Welt.   Der Waltende willfahrte,
Berührte sie mit den Händen   und half dazu,
Daß alsbald den Blinden   beiden wurden
Die Augen geöffnet,   daß sie Erd und Himmel
Durch Gottes Kraft   erkennen konnten,
Licht und Leute.   Da lobten sie Gott,
Verherrlichten den Herrn,   daß sie des hellen Tags
Sich erfreuen durften.   Sie fuhren nun mit ihm
Und folgten seiner Fährte.   Erfüllt war ihr Flehn
Und des Waltenden Werk   weithin verkündet,
Der Menge gemeldet.

                                      Hiemit war ein herrliches
Bild geboten,   da die blinden Männer
Am Wege saßen   und Wehe duldeten,
Des Lichtes ledig.   Der Leute Kinder meint' es,
Der Menschen Geschlecht,   wie sie der mächtige Gott
Im Anbeginne   durch seine einige Kraft,
Zwei Eheleute,   liebreich erschuf,
Adam und Eva,   und ihnen Aufwege lieh
Zum Himmelreiche.   Da war der Gehässige nah,
Der falsche Feind,   der sie mit Frevelwerken,
Mit Sünde bestrickte,   daß sie das ewig schöne
Licht verließen.   An leidige Stätte wurden,
In diesen Mittelkreis,   die Menschen verworfen,
Wo sie im Düster Drangsal   duldeten und Arbeit,
Auf weiter Wanderung   der Wonne darbten,
Des Gottesreichs vergaßen,   den Gramgeistern dienten,
Des Feindes Kindern,   die ihnen mit Feuer lohnten
In der heißen Hölle.   Darum waren im Herzen blind
In diesem Mittelkreis   die Menschenkinder,
Weil sie nicht erkannten   den kräftigen Gott,
Den himmlischen Herrn,   dessen Hand sie erschuf,
Nach seinem Willen bildete.   Da war die Welt so verirrt,
In Düster gedrängt,   in Dienstbarkeit,
In des Todes Täler.   Betrübt saß die Menschheit
An des Herren Straße,   Gottes Hilfe erwartend:
Die mocht ihnen nicht werden,   eh der waltende Gott
In diesen Mittelkreis,   der mächtige Herr,
Senden wollte   den eigenen Sohn,
Daß er das Licht erschlösse,   den Leutekindern
Das ewige Leben öffnete,   daß sie den Allwaltenden
Erkennen könnten,   den kräftigen Gott.
Auch mag ich euch sagen,   wenn ihr es sinnig wollt
Hören und beherzigen   (daß ihr des Heilands
Kraft mögt erkennen,   wie sein Kommen ward
In diesem Mittelkreis   den Menschen hilfreich
Und was mit seinen Taten   Tiefes meinte
Der hohe Herr),   warum die hehre Burg
Jericho heißt,   die bei den Juden steht
Mit mächtigen Mauern.   Nach dem Mond ist sie genannt,
Dem leuchtenden Gestirn.   Der läßt von seinen Zeiten nicht,
Sondern an jedem Tage   tut er das eine oder das andere,
Er wächst oder schwindet.   So in der Welt auch hier,
In diesem Mittelgarten,   der Menschen Kinder:
Sie fahren hin und folgen sich;   die frühern sterben,
Nach jenen kommen   dann junge wieder
Und wachsen heran, bis wieder   das waltende Geschick sie rafft.
Das meinte Gottes Geborner,   als er der Burg vorüber
An Jericho fuhr,   daß nicht früher den Menschen
Die Blindheit zu bessern sei,   daß sie das blendende Licht,
Das ewig schöne, sähen,   eh er selber hier
In dieser Mittelwelt   die Menschheit empfangen hätte,
Fleisch und Leib.   Da wurden die Völker der Menschen
In dieser Welt gewahr,   die hier wehvoll zuvor
In ihren Sünden gesessen,   des Gesichtes bar
Im Düster duldend,   nun komme diesem Volke
Der Heiland zu Hilfe   vom Himmelreiche,
Christ, der Könige bester.   Sie erkannten ihn nun wohl,
Empfanden seine Nähe,   da sie nun so laut
Zu dem Mächtigen riefen,   daß ihnen milde hinfort
Der Waltende würde.   Da wehrten ihnen mahnend
Die schweren Sünden,   die sie selber getan,
Vom Glauben zu lassen.   Doch mochten sie den Leuten
Ihren Willen nicht wehren:   zu dem waltenden Gott
Riefen sie laut und lauter,   bis er ihnen Heil verlieh,
Daß sie der Seligen Leben   erschauen durften,
Das Ewige Licht,   und eingehn einst
In den prächtigen Bau.   Das bedeuteten die Blinden,
Die bei Jericho   zu dem Gottessohne
So laut riefen,   daß er ihnen Heilung verleihe,
Dieses Lebens Licht,   wiewohl der Leute viel
Ihnen mit Worten wehrten,   die des Weges fuhren
Vorn und hinten.   So wehren die Frevel
In diesem Mittelkreis   dem Menschengeschlecht.
Nun hört, wie die Blinden,   als sie Heilung empfingen,
Daß sie das Sonnenlicht   erschauen mochten,
Wie die Guten taten.   Sie gingen mit dem Herrn,
Folgten seiner Fährte   und verherrlichten freudig
Des Landeshirten Lob.   So tun der Leute Kinder
Weit über diese Welt,   seit sie der waltende Gott
Erleuchtete mit seiner Lehre,   ihnen ewiges Leben,
Gottes Reich gab,   den guten Mannen,
Des hohen Himmels Licht,   und seine Hilfe jedem,
Der zu wirken willig ist,   daß er seinem Wege folgen mag.


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