Charles Perrault
Märchen
Charles Perrault

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Riquet mit dem Schopf

Riquet, der Königssohn, kam so häßlich und schlecht gebaut zur Welt, daß die Hofdamen, die sich mit dem bekannten: »Oh, das prächtige Kind!« oder: »Oh, das liebe Kind!« auf den Lippen der Wiege näherten, plötzlich verstummten und mit einem verlegenen Lächeln davonschlichen, um draußen vor der Türe, von der hohen Wöchnerin ungesehen, die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen. Was ihn neben seiner Häßlichkeit noch auszeichnete, war ein Haarschopf über der Stirne, den er fix und fertig mit in die Welt brachte, weshalb man ihn auch Riquet mit dem Schopf nannte.

Die Königin war über die Häßlichkeit ihres Sohnes in Verzweiflung, aber die Fee, die ihr in der schweren Stunde Beistand leistete, tröstete sie und versicherte, daß der häßliche Junge nichtsdestoweniger einen liebenswürdigen Kavalier ausmachen werde, von wegen des vielen Geistes, den er haben werde. Und sofort beschenkte sie ihn auch mit der Fähigkeit, der Person, die er dermaleinst lieben werde, so viel Geist leihen zu können, als er selbst haben werde, ohne darum dümmer zu werden. Denn der Geist ist wie ein Licht, an dem sich viele hundert Lichter entzünden können, ohne daß darum das erste an Leuchtkraft verlöre.

Dieses tröstete die königliche Mutter ein wenig, und ganz beruhigte sie sich, als der kleine häßliche Prinz in der Tat bald die schönsten Zeichen von Geist und Verstand an den Tag legte. Er sagte so viele schöne Sachen, und er tat alles, was er tat, mit so viel Anmut und Geschick, daß man bei Hof und in der Stadt von nichts anderem zu erzählen wußte. Alle Welt war von ihm entzückt, und den Schopf über seiner Stirn erklärte man damit, daß so viel Geist in seinem Kopfe allein nicht Platz genug gehabt hätte und daß ihm daher die Natur den Schopf als eine besondere Vorratskammer beigegeben.

Als er ungefähr sieben bis acht Jahre alt war, setzte die Königin eines benachbarten Reiches zwei kleine Prinzeßlein auf einmal in die Welt. Diejenige, welche zuerst das Tageslicht erblickte, war so schön, so schön, daß die Königin vor Freude darüber beinahe den Verstand verloren hätte. Um der allzu großen Freude, die ihr hätte schaden können, einen Dämpfer aufzusetzen, versicherte die Fee, die ihr Beistand leistete – dieselbe, die bei der Geburt Riquets mit dem Schopf zugegen gewesen –, daß dafür gesorgt sei, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen und daß die Prinzessin ebenso dumm als schön sein werde. Die Königin hatte kaum Zeit, sich von dem Schrecken, den ihr diese Worte der Fee einflößten, zu erholen, als sie schon einen zweiten, weit ärgeren erleben sollte, denn die zweite Prinzessin, die jetzt zum Vorschein kam, war ein Ausbund von Häßlichkeit.

Die Königin war so verzweifelt wie jene andere, als sie Riquet mit dem Schöpf gebar, und jammerte gewaltig.

»Euer Majestät können sich doch trösten«, meinte die Fee, »denn die Prinzessin wird so viel Verstand haben, daß man darüber ihre Häßlichkeit vergessen wird.«

»Gott gebe es«, seufzte die Königin, »aber könnte man nicht etwas tun, damit die andere, die so schön ist, auch ein klein wenig davon bekäme?«

»In dieser Beziehung«, versicherte die Fee, »bin ich ohnmächtig. Meine Macht erstreckt sich nur auf die Schönheit. Um Euer Majestät zu zeigen, daß ich mein möglichstes leisten will, beschenke ich die schöne Prinzessin mit der Kraft, eine beliebige Person mit Schönheit auszustatten.«

Wie nun die beiden Prinzessinnen heranwuchsen, wuchsen auch ihre guten Eigenschaften mit ihnen, und man sprach überall von der Schönheit der älteren und vom Verstande der jüngeren. Aber freilich wuchsen auch ihre Fehler mit den Jahren. Die jüngere wurde zusehends häßlicher, die ältere von Tag zu Tag dümmer. Sie wußte entweder gar nichts zu sagen, oder sie sagte eine Dummheit. Sie konnte nichts in die Hand nehmen, ohne es zu zerbrechen, sie trank kein Glas Wasser, ohne sich zu begießen, und von lernen war gar nicht die Rede. Schönheit besitzt gewiß eine große Anziehungskraft, trotzdem war die jüngere in jeder Gesellschaft immer obenauf. Anfangs sammelte man sich um die ältere, um sie anzusehen und ihre Schönheit zu bewundern, bald aber wandte man sich der jüngeren zu, um ihr zuzuhören, da sie stets ganze Feuerwerke von Witz losließ, und nach einer Viertelstunde war die Schöne allein, während sich alles um die Häßliche drängte. Die Dumme merkte das trotz aller Dummheit und hätte gern ihre ganze Schönheit für den halben Geist ihrer Schwester hingegeben. Die Frau Mutter war selbst dumm genug, ihr ihrer Dummheit wegen Vorwürfe zu machen, was der armen Prinzessin den größten Kummer verursachte.

Eines Tages, als sie sich mit ihrem Kummer in die Einsamkeit des Waldes zurückzog, trat plötzlich ein kleiner, sehr häßlicher, sehr unangenehm aussehender, aber prächtig gekleideter Mann auf sie zu. Diese aufgeputzte Vogelscheuche war der junge Prinz Riquet mit dem Schopf, der sich nach den Porträts, die man überall von der schönen Prinzessin verkaufte, in sie verliebt hatte und der eigens hierherkam, um sie leibhaftig zu sehen und mit ihr zu sprechen. Überaus froh, sie so allein zu finden, näherte er sich ihr auf die achtungsvollste und gebildetste Weise. Klug, wie er war, bemerkte er bald ihre tiefe Traurigkeit und sprach: »Unbegreiflich, o Herrin, ist es, daß eine so schöne Person so traurig sein kann, wie es Euer Herrlichkeit zu sein scheinen, denn wahrlich, wie viele ausgezeichnet schöne Frauenzimmer ich in meinem Leben schon zu bewundern das Vergnügen hatte, so ist doch keine unter ihnen, die sich mit der Schönheit von Euer Gnaden im entferntesten zu vergleichen oder zu messen imstande sein dürfte.«

»Ihr seid gütig, mein Herr«, sagte die Prinzessin und nichts weiter.

»Schönheit«, nahm Riquet wieder das Wort, »ist ein so großer Vorzug, daß sie alles andere ersetzen muß. Wer Schönheit besitzt, sollte sich meiner Meinung nach durch nichts betrüben lassen dürfen.«

»Mir wäre es lieber«, sagte die Prinzessin, »ich wäre so häßlich wie Ihr und hätte Verstand, statt schön zu sein, wie ich bin, und dabei so dumm, wie ich es leider ebenfalls bin.«

»Nichts, Hoheit«, sagte Riquet darauf, »nichts beweist so sehr, daß man Verstand hat, als der Glaube, keinen zu besitzen. Und es liegt in der Natur der Sache, daß wer Geist hat, immer nicht genug haben kann und sich einbildet, gar keinen zu haben.«

»Das verstehe ich nicht«, erwiderte sie, »ich weiß nur, daß ich sehr dumm bin, und das macht mich so außerordentlich traurig.«

»Wenn es nichts ist als das, o Herrin, so kann ich Eurer Trauer leicht ein Ende machen.«

»Wie wollt Ihr das anfangen?«

»Ich habe«, sagte Riquet mit dem Schopf, »die Macht, so viel Geist, als der Mensch nur vertragen kann, derjenigen Person zu übermachen, die ich zu lieben gezwungen bin. Und da Ihr diejenige Person seid, so hängt es nur von Euch ab, so viel Geist zu bekommen, als der Mensch menschenmöglicherweise überhaupt haben kann – allerdings unter der einzigen Bedingung, daß Ihr mich gütigst heiraten wollt.«

Die Prinzessin stand verblüfft und sagte nichts.

»Ich sehe«, sagte Riquet mit dem Schöpf schmerzlich lächelnd, »daß Euch dieser Antrag stutzig macht, und ich verwundere mich darüber nicht im mindesten, doch gebe ich Euch ein ganzes Jahr Bedenkzeit.«

Die Prinzessin hatte so wenig Verstand und dabei so große Lust, welchen zu haben, daß sie sich das Ende eines Jahres gar nicht vorstellen konnte, und so ging sie auf den Antrag ein. Sie hatte kaum das Wort ausgesprochen, daß sie Riquet mit dem Schopf in einem Jahr heiraten wolle, als sie sich wie in einer anderen Haut fühlte. Sie war überrascht, mit welcher unglaublichen Leichtigkeit ihr die Gedanken kamen und sie dieselben aussprach, wie fein, gewandt und natürlich sie sich ausdrückte. Sie fädelte ein so lebhaftes und inhaltsreiches Gespräch ein, sie war so witzig, glänzend und scharfsinnig, daß Riquet mit dem Schopf fast besorgt war, er habe ihr mehr Verstand gegeben, als er für sich behalten, was in Anbetracht der beabsichtigten Ehe nicht sehr vorsichtig gewesen wäre.

Bei Hofe konnte man sich über die plötzliche Verwandlung der Prinzessin nicht genug verwundern. Denn kommt es auch alle Tage vor, daß kluge Leute Dummheiten sagen oder sogar ganz dumm werden, so gehört die Verwandlung dummer Leute in geistreiche doch zu den größten Seltenheiten und so ist etwas der Art höchstens alle tausend Jahre einmal vorgekommen. Die Prinzessin sagte jetzt ebenso viele Gescheitheiten, wie sie früher Albernheiten gesagt hatte. Das war eine allgemeine Freude und Lustbarkeit!

Nur die jüngere Prinzessin hatte keine Ursache, sich zu freuen, denn nunmehr hatte sie vor der älteren nichts voraus, und sie erschien jetzt neben ihr als nichts anderes denn als eine häßliche, verfehlte Kreatur.

Der König richtete sich nach dem Rate der plötzlich so klug gewordenen älteren Tochter. Manchmal schloß er sich stundenlang mit ihr ein, um ihre Ansichten über die wichtigsten Staatsangelegenheiten entgegenzunehmen und dann so zu tun, als wären es seine eigenen Ansichten. Da sich das Gerücht von dieser wunderbaren Umwandlung der Prinzessin rasch durch die Welt verbreitete, strömten die Prinzen von allen Seiten herbei, sich um die Hand einer so schönen und geistreichen Prinzessin zu bewerben. Aber unter allen war kein einziger, der ihr geistreich genug erschienen wäre.

Doch kam endlich ein so mächtiger, reicher, verständiger und schöner Königssohn, daß sie nicht umhin konnte und sich mit ihrem Herzen ihm zuneigte. Der König, der das bemerkte, sagte, daß er ihr vollkommen freie Wahl lasse. Da man aber, je gescheiter man ist, desto schwerer in Heiratsangelegenheiten sich entscheidet, dankte sie ihrem Vater und bat ihn, ihr Zeit zu lassen. Um reiflicher und ungestörter über diese Sache nachzudenken, ging sie in den Wald, zufällig in denselben Wald, in dem sie die Bekanntschaft Riquets mit dem Schopf gemacht hatte.

Da hörte sie mitten durch ihre tiefe Nachdenklichkeit von unten herauf ein dumpfes Geräusch wie von vielen Personen, die hin und her gehen und sich viel zu schaffen machen. Wie sie aufmerksam hinhorchte, vernahm sie, wie jemand sagte: »Bringe jene Pfanne«, ein anderer: »Hole den Kessel«, ein dritter: »Lege Holz ins Feuer«, und so fort. Der Boden öffnete sich zu ihren Füßen, und sie sah in eine große Küche, voll von Köchen, Küchenjungen und Hofdienern, die beschäftigt waren, ein großes Festmahl herzurichten. An zwanzig bis dreißig oberste Hofbratenbereiter kamen hervor, marschierten unter den Bäumen hin, gruppierten sich mit Spicknadeln, Hacken, Messern und solchen Waffen in den Händen um einen großen Tisch und fingen nach dem Takte eines melodischen Gesanges zu arbeiten an.

Ganz erstaunt fragte die Prinzessin, für wen sie sich so bemühten? »Wir arbeiten«, antwortete einer derselben, »für den Prinzen Riquet mit dem Schopf, der sich morgen zu verheiraten gedenkt.«

Da war die Prinzessin noch mehr erstaunt. Sie erinnerte sich, daß morgen das Jahr um sei und daß sie versprochenermaßen den häßlichen Prinzen heiraten solle. Sie fiel aus den Wolken. Sie hatte die ganze Geschichte vergessen, weil sie damals, als sie das Versprechen gegeben, ein Dummkopf gewesen und weil sie von dem Augenblick an, da sie von ihm den Verstand erhalten, alles aus der Zeit ihrer Dummheit vergessen.

Zeichnung: Dore

Nachdenklich ging sie weiter, aber nach kaum dreißig Schritten begegnete sie Riquet mit dem Schopf, der sich ihr kecklich und schön .aufgeputzt vorstellte wie ein Prinz, der eben im Begriff steht, in den heiligen Ehestand zu treten.

»Ihr seht, Prinzessin«, sagte er lächelnd, »wie glücklich ich bin, und ich zweifle nicht, daß Ihr ebenfalls hierher kommt, um Euer Wort einzulösen und mich, indem Ihr mir Eure Hand reicht, zum Glücklichsten aller Sterblichen zu machen.«

»Ich gestehe Euch«, sagte die Prinzessin verlegen, »daß ich in dieser Angelegenheit noch zu keinem Entschluß gelangt bin, und ich glaube nicht, daß ich mich je so, wie es Eure Hoheit wünschen, werde entschließen können.«

»Ihr setzet mich in Erstaunen«, sagte Riquet mit dem Schopfe.

»Das glaube ich«, versicherte die Prinzessin, »und ich gebe zu, daß, wenn ich es mit einem ungebildeten Manne, mit einem Manne ohne Geist, zu tun hätte, ich mich in diesem Augenblicke in großer Verlegenheit befände.«

»Eine Prinzessin muß vor allem ihr Wort halten!« rief er dagegen, »Ihr müßt mich heiraten, weil Ihr es versprochen habt.«

Sie erwiderte: »Derjenige, zu dem ich hier zu sprechen die Ehre habe, ist der geistreichste Mann der Welt, und so bin ich gewiß, daß er Vernunft annehmen wird. Ihr wißt, daß ich mich, selbst als ich dumm war, nicht entschließen konnte, Euch zu heiraten. Wie wollt Ihr nun, daß ich jetzt, mit dem Geiste, den Ihr mir gegeben und der mich nur wählerischer macht, es über mich gewinne, einen Entschluß zu fassen, den ich in aller Dummheit nicht zu fassen imstande war? Wenn Ihr mich auf jeden Fall heiraten wollt, so hattet Ihr unrecht, mir meine Dummheit zu benehmen und mir Lichter aufzustecken, bei denen ich die Dinge deutlicher sehe als zuvor.«

Und Riquet mit dem Schopf darauf: »Wenn es einem Dummkopf wohl anstände, wie Ihr anzudeuten die Güte hattet, Euch beim Wort zu nehmen, warum solltet Ihr es mir verdenken, o Gebieterin, wenn ich in einem Falle, wo es sich um das Glück meines ganzen Lebens handelt mich so gebärde wie ein Dummkopf? Ist es vernünftig, daß Leute von Geist vor solchen, die keinen haben, im Nachteil bleiben sollen? Wollt Ihr das behaupten, Ihr, die so viel besitzt und die sich so sehr nach dem Geiste gesehnt hat? Allein der Worte sind genug gewechselt. Zur Sache, wenn Ihr nichts dagegen habt! Von meiner Häßlichkeit abgesehen, mißfällt Euch etwas an mir? Genügen Euch nicht meine Herkunft, mein Geist, mein Charakter, meine Manieren?«

»Oh«, rief die Prinzessin, »alles, was Ihr hier nennt, kann ich an Euch nur bewundern.«

»Wenn dem so ist«, rief Riquet mit dem Schopf noch lauter, »dann bin ich meines Glückes gewiß, denn Ihr könnt mich in den liebenswertesten der Männer umgestalten.«

»Wie soll das möglich sein?«

»Ihr werdet es möglich machen«, versicherte Riquet, »wenn Ihr mich genugsam liebt, um zu wünschen, daß es so sei. Um der Sache und allen Zweifeln ein Ende zu machen, erfahret hiermit, daß dieselbe Fee, die mir am Tage meiner Geburt die Kraft verlieh, die Person, die ich lieben werde, mit Geist und Verstand auszustatten, Euch, o meine Angebetete, die Fähigkeit bescherte, den, den Ihr auserwählen und dem Ihr eure Gunst gewähren wollt, mit Schönheit zu begaben.«

»Oh«, jubelte die Prinzessin, »wenn sich die Dinge so verhalten, dann wünsche ich von ganzem Herzen, daß Ihr der schönste, der reizendste, der liebenswürdigste aller Prinzen werdet und daß die Feengabe an Euch aufs glänzendste und verschwenderischste ihren Zauber bewahrheite.«

Schon stand Riquet mit dem Schopf als der schönste, schlankeste, bestgebaute, reizendste Ritter vor ihren Augen. Es gibt Leute, die behaupten, daß Riquet nach wie vor eine Vogelscheuche geblieben und daß nicht der Zauber der Fee, sondern der Zauber der Liebe allein diese Verwandlung bewirkt habe. Aber wie immer sich die Sache verhalten möge, soviel steht fest, daß die Prinzessin sofort in die dargebotene Hand einschlug. Und am folgenden Tage wurde die Hochzeit gefeiert, wie es Riquet mit dem Schopf vorausgesehen und vorbereitet hatte.

 


 


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