Paul Heyse
Spielmannslegende
Paul Heyse

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Wenn sie mich daher Bruder Siechentrost nannten, fuhr er mit stillem Lächeln fort, so wußte ich wohl, wem dieser Name gebührt: dem schwarzen Gesellen da, der mächtiger und heilkundiger ist als ich. Hat er doch auch mich selbst getröstet und geheilt, da ich an Menschenfeindschaft und Weltverachtung krankte und ein Herz voll mißtönender Wünsche und Begierden in mir trug. Wie manches Mal in der ersten Zeit, wenn ich Untreue und Undank erfuhr und schwer unter der Torheit der feigen Menschen seufzte, war ich nahe daran, dies armselige Leben wegzuwerfen wie ein zerrissenes Gewand, das mich gegen Frost und Unwetter nicht mehr schützte. Dann brauchte nur mein Finger unbewußt eine der Saiten zu berühren, und ich schämte mich meines Kleinmuts und wandelte gelassen meine Straße, bis ich zu milderen Menschen kam.

Er trat an die Wand, wo die kleine Geige hing, und fuhr sanft mit der Hand über die Saiten, wie man einem schlafenden Kind über die Locken streicht, und ein leise schwirrender Ton ward wach, als tönte die Seele des Instrumentes aus dem Traum. Gerhard wagte nicht ihn zu bitten, daß er sie herabnehme und ihn ein Lied hören lasse. Doch hätte er viel darum gegeben, jene Strophen vom Mai noch einmal zu hören. Statt dessen wandte der Bruder sich plötzlich zu ihm und sagte: Ihr müßt nun heimgehen, mein junger Freund. Der Laurer draußen wird längst seinen Posten verlassen haben. Euch aber möchte man zu Hause vermissen, und Ihr kämet in Ungelegenheit. Daß Ihr mich aufgesucht habt, dank' ich Euch von Herzen. Doch muß es nicht wieder geschehen, schon um meinetwillen nicht. Denn ich soll einsam bleiben und darf mich nicht wieder an freundliche Menschennähe gewöhnen, nachdem ich sie mit manchem Kampf und Schmerz entbehren gelernt. Ihr aber kehrt in die Welt und zu den Euren zurück, und wenn Ihr Euer Herz je wieder siech fühlet und des Trostes bedürft, der in diesen Saiten schläft, so findet Euch an den Feiertagen ein, wo die Leute zusammenströmen, den schönen Frühling beim Becher zu genießen. Da werdet Ihr auch meine Stimme aus irgendeinem Versteck heraus erschallen hören, und wenn ich denke, daß ich zu Euch rede, werden mir meine besten Lieder einfallen. Nur dürft Ihr hinfort nicht mehr mit Gold aufwiegen wollen, was leicht ist wie die Luft, und doch unschätzbar. Ihr wisset nun, wie wenig ich bedarf, und der Herr, der die Sperlinge nährt, die doch nur einen dürftigen Gesang haben, wird auch den grauen Singvogel mit dem Schellenkleide nicht verderben lassen.

Er schritt aus der Hütte, und Gerhard folgte ihm. Das Herz war ihm so voll, daß er keines Wortes mächtig war. Draußen am Rande der Sandbank drückte er noch einmal die Hand des wundersamen Mannes, von dem er so schwer sich trennte, wie von dem ältesten Freunde. Dann schwang er sich auf den ungefügen Brückensteg und schritt eilig hinüber. Die Luft hatte sich verdunkelt, ein grauer Flor, der ein Frühlingsgewitter ankündigte, überzog das gestirnte Firmament, die Straße war völlig einsam. Nur wie er schon die Stadt erreicht und mit Hilfe eines ansehnlichen Schweiggeldes sich bei der Wache den Einlaß erkauft hatte, glaubte er in dem dunklen Winkel hinter dem Torturm eine Gestalt zu erblicken, die hier ein freiwilliges Wächteramt versah. Einen Augenblick war es ihm sogar, als ob er jenen Vetter erkennte, den er am ersten Abend bei seiner Braut angetroffen. Er rief leise den Namen des Wichts, doch blieb alles still, und er selbst schlug sich das unheimliche Begegnen wieder aus dem Sinn. Die Worte, die er auf dem unfruchtbaren Eiland vernommen, begleiteten ihn auf dem nächtlichen Schleichwege in seiner Eltern Haus und hielten ihn noch lange wach, nachdem er durch ein Hinterpförtchen sich glücklich in seine Kammer gestohlen hatte.

Nachts war das Gewitter über der Stadt niedergegangen und die Luft am Morgen wieder hell und klar. Doch in zwei Häusern schlich noch eine stockende Schwüle durch die Zimmer, die sich nicht in starken Schlägen, nur in zuckendem Wetterleuchten und verhaltenem Grollen entlud. Herr Hinrich Eschenauer begrüßte den Sohn mit einem finsteren Kopfnicken und wies ihm einsilbig seine Arbeit an. Die Mutter machte sich stumm mit rotgeweinten Augen in seiner Nähe zu schaffen, und mehr als einmal schien es, als wollte sie den Bann des Schweigens brechen, den eine fremde Macht ihr auferlegt, immer aber bezwang sie sich und zog sich mit Seufzen und Kopfschütteln, wie ein Mensch, der etwas Schweres und Schreckliches nicht zu fassen vermag, wieder zurück. Gleich nach Mittag war Gerhard, nicht weil es ihn zog, sondern wie um eine unliebe Schuldigkeit zu tun, nach dem Hause am Münsterplatz hinaufgegangen, hatte seine Braut auch allein angetroffen, aber trotz des weitoffenen Brusttüchleins wie in einen Panzer geschnürt, der sie dem Freunde so unnahbar machte, wie wenn über Nacht eine Mauer zwischen ihnen aufgerichtet worden wäre. Als er sie liebreich um den Grund dieser starren Kälte befragte, erwiderte sie, mit halbzugedrückten Augen an ihm vorbeisehend und mit den seidenen Ohren des Hündchens spielend: wie man in den Wald rufe, so schalle es heraus, und man erkenne die Menschen daran, welche Gesellschaft sie suchten. Und da er ernstlicher in sie drang, diese tiefsinnigen Sprüche zu deuten und auf ihn und sie selbst anzuwenden, versetzte sie mit einer ausbrechenden Leidenschaftlichkeit, in der das ganze enge, eitle und ungütige Herz des verzogenen Kindes zutage kam: sie habe keine Lust, mit aussätzigem Volk und unehrlichen fahrenden Leuten sich einzulassen, und wenn ihm ein solcher Umgang lieber sei als der ihre, möge er's beizeiten sagen, sie wisse dann, woran sie sei, und könne danach tun.

Nun setzte er sich neben sie und begann, so sehr er sich bezwingen mußte, nicht wild herauszufahren und ihr mit zornigen Worten ihre Herzenshärtigkeit vorzuwerfen, was er von den Schicksalen des Bruder Siechentrost wußte. Er hoffte ihren lieblosen Starrsinn dadurch zu schmelzen, da er noch immer nicht glauben konnte, daß in dieser weichen weißen Hülle kein zartempfindendes Herz verschlossen sei. Als er aber geendet hatte, stand sie mit gleichmütiger Miene auf, holte aus einem Wandschränkchen einen Teller mit süßem Backwerk und fing an, ihr Hündchen zu füttern. Darauf nahm sie ein kleines beinernes Kämmchen und strählte und glättete damit das weiche Fell ihres Lieblings. Nicht wahr, Pilgram, sagte sie zu ihm hinabgebückt und drückte ihre Lippen gegen sein glänzendes Ohr, wir beide sind ein paar reinliche Leute, und von etwas Unsäuberlichem wollen wir nicht einmal reden hören, geschweige uns näher damit einlassen. Du hättest dich auch bedankt, Bürschlein, wenn man dir zugemutet hätte, dem armen Lazarus vor dem Hause des reichen Mannes die Schwären zu lecken. Pfui der Schmach! Wen Gott gezeichnet hat, den sollen die Menschen meiden!

Gerhard stand auf. Er hörte den Vater, Herrn Anselm Rode, draußen über den Flur gehen und traute sich nicht Besonnenheit genug zu, in dieser Stimmung ihm gegenüber jedes herbe Wort zu unterdrücken. Lebt wohl, Imagina! sagte er. Ich wünsche Euch, daß Ihr mit der Gesellschaft, die Ihr der meinigen vorziehet, zeitlebens zufrieden sein möget. Grüßt den Vater! Mich ruft ein Geschäft nach Hause.

Hiermit ging er von ihr, und sie fühlte nicht, daß es ein Abschied war für alle Zeit. Sie war von den kühlen und klugen Weibern, die es sich zum Gesetz machen, ihre Herrschaft über den Mann frühzeitig zu beginnen und die Zügel immer fest in der Hand zu halten, da doch ein rechter Mann nur durch freie und reine Hingebung eines rechten Weibes bezwungen wird. So saß sie mit höhnischem Lächeln und hörte seine Schritte draußen verhallen.

Gerhard aber ging seines Weges, als wären ihm Flügel gewachsen und ein schwerer Stein vom Herzen gerollt. Er sagte sich, daß alle Hoffnung vergebens sei, hier ein Glück zu finden oder zu schaffen, und daß der Schnitt, der das lose Band zerteile, je rascher je milder sein würde. Einer seiner alten Gesellen kreuzte ihm den Weg. Ob er von der Braut komme? fragte er ihn lachend. Es sei hohe Zeit gewesen, daß er heimgekehrt, um nach dem Rechten zu sehen. Ein loser Vogel von einem Federfuchser habe sich eingefunden und nicht übel Lust gezeigt, an dem blanken süßen Träublein zu picken. Er werde dem Fant wohl schon begegnet sein und ihm nach Gebühr heimgeleuchtet haben. Der Herr Vetter sei übrigens kein Kostverächter und nasche herum, wo er gedeckten Tisch finde. Nacht für Nacht sehe man ihn in das Haus einer übelberufenen Witwe schleichen, die draußen im letzten Häuschen des Dorfes, wo gestern St. Florian gefeiert wurde, ihr stilles Wesen treibe. Daneben würde er sich nicht lange bitten lassen, der Eidam des Herrn Schöffen zu werden, zumal er in Mainz kahlgerupft wie eine Martinsgans aus einem Spielhaus entronnen sei. Nun, damit habe es jetzt gute Wege.

Gerhard antwortete nur mit einem hastigen Händewink und flog seinem väterlichen Hause zu. Er wußte nun, wer gestern den Späher gemacht und hernach den Zuträger bei den Seinen. Als er in das Schreibstübchen seines Vaters trat, fand er den alten Herrn eben im Begriff, einem Knecht aufzutragen, daß er ein Pferd satteln und nach Diez hinüberreiten solle, mit einem Auftrage an einen dortigen Geschäftsfreund. Errötend, da er fürchtete, seine Bitte möchte nicht gewährt werden, erbot er selbst sich zu diesem Ritt; er sei des Stillsitzens nach der langen Reise noch nicht wieder gewohnt. Der Vater sah ihn kalt und prüfend an, nickte dann aber und erklärte ihm, um was sich's handle. Als sie unter vier Augen waren, setzte er noch hinzu: Mir ist hinterbracht worden, daß du dir seltsame Gesellschaft suchst, wie sie ehrbaren Bürgerssöhnen nicht geziemt. Ich will glauben, daß ein langes Herumstreifen auf den Heerwegen dich daran gewöhnt hat, mit zweifelhaftem Volke dich einzulassen und niedrige Kameradschaft zu dulden. Doch warn' ich dich hiermit ernstlich, von nun an strenger auf deinen Wandel zu achten. Ich will nicht, daß Gerhard Eschenauers Namen in einem Atem mit Unreinen und Unehrlichen genannt werde. Hiernach hast du dich zu richten, bei meinem väterlichen Zorn.

Der Sohn neigte stumm sein Haupt und ging dann hinab, sein flandrisches Pferdchen zu satteln und zu zäumen. Ehe er es aber bestieg, machte er sich noch eine Weile in seiner Kammer zu schaffen und trug endlich einen leichten Mantelsack, in welchem allerlei Kleidervorrat zusammengelegt war, in den Stall hinab. Die Mutter trat aus der Tür, da er eben forttraben wollte. O Kind, sagte sie, wohin reist du nun wieder? Tu mir nur das nicht an, daß du auf böse Wege gerätst! – Mutter, sagte er, indem er ihr eine Hand entgegenstreckte, seid unbesorgt. Ich gehe immer den Weg, den mein Gewissen mich weist; so werden es wohl Gottes Wege sein, ob sie uns armen Menschen auch dunkel scheinen.

Der Tag war hingegangen, und eine milde Nacht hatte sich über Tal und Hügel herabgesenkt. In der Hütte auf der Sandbank lag der einsame Siedler im ersten Schlaf, der ihn nicht vor Mitternacht heimzusuchen pflegte. Da hörte er plötzlich ein ungewohntes Geräusch draußen im Flusse, ein Rauschen und Plätschern und wunderliches Schnaufen, und fuhr alsbald in die Höhe und an den Eingang seines Schuppens, um durch das Loch zu spähen, das in die Brettertür geschnitten war. Er sah einen Reiter auf einem dunklen Pferde die Wellen durchstampfen, die dem Tier nur eben bis an die Flanken gingen, und gleich darauf setzte der kleine Braune die beiden Vorderhufe auf den Kiesgrund, stand so einen Augenblick, sich schüttelnd und hell in die Nacht hinauswiehernd, bis er auch seine Hinterbeine aus dem frischen Bade zog und nun frei und fröhlich auf dem festen Eilande stand.

Sein Reiter aber schwang sich sofort herab und ging, ohne das geduldige Tier anzubinden, auf die Umzäunung los. Da trat ihm der Herr der Insel entgegen.

Er hatte die Stirne gefurcht und ein unwilliges Wort auf den Lippen. Aber der Jüngling kam ihm zuvor.

Ich wußte, daß Ihr mich schelten würdet, rief er, da ich Euer Gebot nicht achtete und doch wieder zu Euch kam. Doch sollte und mußte es noch ein letztes Mal sein, und wenn ich gelobe, mich von jetzt an Eurem Willen zu fügen, dürft Ihr mir Eure Hand nicht entziehen. Es soll ein Abschied sein, wer weiß, auf wie lange Zeit. Denn es duldet mich nicht drüben in der Stadt, wo ich geboren bin und ich mich fremder fühle, als in der ersten besten Herberge an der Landstraße. Höret mich erst an, lieber Freund, und dann urteilt, ob ich bleiben kann, wenn ich mein Verlöbnis gelöst und damit zwei Familien schwer gekränkt habe. Das aber muß ich tun, oder die Lüge eines ganzen Lebens zerfrißt mir das Herz im Leibe.

Der andere erwiderte kein Wort. Er hörte mit traurig stiller Miene, was sein junger Freund ihm vom heutigen Tag zu berichten hatte. Und nun schloß Gerhard, nun versucht nicht weiter, mich irrezumachen in dem, was wie der Wille einer höheren Macht in meinem Innersten lebt. Zu Euch aber drängte mich's nicht allein, Euch dies kund zu tun, denn was bin ich Euch, daß Ihr Euch kümmern solltet, was aus mir würde, sondern weil ich es nicht ertragen kann, Euch fernerhin in diesem ungewissen und dürftigen Stande hinleben zu sehen. Zumal es mir schwant, daß man meine Entschlüsse zum Teil Euch Schuld geben wird, als hätte das Begegnen mit Euch mir die Lust erweckt, gleichfalls ein Vagant zu werden und ein seßhaftes Tagewerk zu verschmähen. Hiervon bin ich so weit entfernt, daß ich nicht nur in der nächsten besten Stadt eine Stelle suchen will, wo ich genügliche Arbeit und Erwerb finde, sondern auch Euch zureden möchte, es noch einmal mit einem ruhigen Wohnen an einem Ort und regelmäßigem Tun und Schaffen zu versuchen. Dies ist nun freilich in den Landen am Rhein und Main, da man Euch allerorten kennt, nicht möglich. Doch hab' ich gedacht, wenn Ihr an den Rhonefluß hinabzöget, wo Euer Name und Schicksal unbekannt sind, würdet Ihr leicht in einer der großen blühenden Städte dort Unterkunft finden und lohnende Arbeit in Eurer alten Weberzunft. Und darum habe ich eine vollständige Gewandung bis auf die Schuhe und das Barett im Mantelsack mitgebracht und hinlängliches Geld, daß Ihr Eure dürftige Hütte noch in dieser Nacht verlassen und den Rückweg in ein bürgerliches Leben antreten könntet. Versagt es mir nicht, Euch diesen geringen Dienst zu leisten, und bedenkt, daß auch Euch die Tage kommen werden, die uns nicht gefallen, da Ihr alt und gebrechlich sein werdet, Eure Stimme rauh und Eure zitternde Hand nicht mehr des Bogens mächtig. Dann werdet Ihr um ein friedliches Dach und eine freundliche Nachbarschaft froh sein, unter denen Ihr Eure letzten Tage nicht mehr als ein Ausgestoßener dahinzuleben braucht.


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