Paul Heyse
Spielmannslegende
Paul Heyse

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Hierauf fing die Geige einen neuen, gar lustigen Tanzreigen an, so daß die Zuhörer im Kreise nicht lange auf einem Fleck blieben, sondern jeder die Seine bei der Hand fassend sie frisch herumzuschwingen begann. Auch in Imaginas Händchen zuckte es, und sie schien mit einem leisen Wink ihrer schönen Augen Gerhard aufzufordern, daß er dem Beispiel der übrigen folgen möchte. Seine Augen und Gedanken aber hingen fest an dem grauen Manne droben im Wipfel, und er merkte es nicht einmal, als sie seine Hand unmutig fahren ließ und sich mit einem Seufzer von ihm abwandte. Da hörte die Musik plötzlich auf. Eine lange Stange, an welcher ein ledernes Säckchen befestigt war, schob sich sacht zwischen den lichten Zweigen herab und gerade zwischen das Paar, das dem Stamme zunächst stand. Doch als ob eine giftige Schlange aus dem Baumwipfel nach ihr gezüngelt hätte, fuhr die Braut mit einem lauten Schrei zusammen, stieß mit dem Ellenbogen die schwankende Gerte fort, daß das Säckchen sich umschwang und seinen dürftigen Inhalt an Kupfermünzen klirrend im Grase verstreute, und drängte sich, ohne auf Gerhards Bitten und Ermahnungen zu achten, mit schreckensbleichen Wangen durch das Gewühl hindurch nach dem Platz, wo sie ihren Vater mit seinem Freunde verlassen hatten.

Der junge Mann stand unbeweglich und sah ihr mit tieferglühtem Gesichte nach, heimlich die Faust ballend und ein bitteres Wort zwischen den Zähnen murmelnd. Dann bückte er sich, um das entrollte Geld wieder zu sammeln, besann sich aber eines Besseren, und zog den Beutel aus seinem Wams, aus dem er zwei blanke Goldstücke nahm, die legte er in das Säcklein, sah zu dem Spielmann hinauf, lüpfte mit einer ehrerbietigen Gebärde den Hut, und ihn freundlich nach oben schwenkend und mit dem Haupte dazu nickend, wandte er sich nun seinerseits ab und verlor sich unter dem erstaunt ihn umgaffenden Volke.

Es war ihm aber so wunderlich zumut, daß er es nicht über sich gewinnen konnte, zu seiner Gesellschaft zurückzukehren und gleichgültige Worte zu wechseln, auch nicht den Weg nach der Stadt einzuschlagen, da er die forschenden Augen seiner Mutter und ihre Frage, wo er denn die Braut gelassen, nicht ertragen hätte. Als ihm daher jener Freund in den Weg kam, der über sein Fernbleiben stutzig geworden war, trug er ihm seine Entschuldigung an den Schwiegervater auf, daß er sich wegen eines plötzlichen Unwohlseins ihnen auf dem Heimweg nicht anschließen könne, und indem er seinen alten Gesellen mit so eigenen Augen anblickte, daß der im Ernst glaubte, ein Fieber sei bei dem Freund im Anzuge, machte er sich hastig von ihm los und eilte von der belebten Stätte hinweg in die einsameren Busch- und Heckenwege, die zwischen den niederen Anhöhen sich hinzogen.

Sobald er allein war, begann es in seinem Innern zu singen und zu klingen, und die Worte und Weisen, die er kürzlich vernommen, wachten in ihm auf und durchwogten ihn wie ein starker Strom, der allen Werkeltagsstaub und -kehricht mit fortspülte und ihn so rein und festlich stimmte, daß er selbst die Scham und den Kummer über seine getäusche Liebeshoffnung vergaß. An der heimlichsten Stelle, mitten in einem jungen Hainbuchenwäldchen hatte er sich ins Gras geworfen, die Arme unter dem Kopf verschränkt, die Augen geschlossen. Da lag er ganz still, von den Vogelstimmen ringsum in seinem Sinnen nicht gestört, und dachte beständig daran, welch eine Macht es doch sein müsse, die dem ausgestoßenen und von allen Menschen gemiedenen Manne gleichwohl zu so tiefem Frieden verhelfe, daß seine einsame Seele in lauter Wohllaut sich auflöse und er zu den Festen der Glücklichen, die sich weit über ihn erhaben dünkten, das Beste und Erquicklichste beisteuern könne, unbeirrt von dem Undank und der Verachtung, die trotz alledem sein Teil bleibe. Wenn er damit sein eigenes Los verglich, wie er alles besaß, was für begehrens- und beneidenswert galt, und dennoch ein heftiges Ungenügen, ja einen tödlichen Schmerz an seinem Herzen nagen fühlte, geriet er in ein tiefes Staunen über die Rätsel dieses Menschenlebens, und wie wenn er eherne Reifen um seine Brust hätte sprengen wollen, atmete er gewaltsam auf und biß die Zähne zusammen, daß es jeden erbarmt hätte, der zufällig des Weges gekommen und des blühenden Jünglings, der sich in geheimer Qual verzehrte, gewahr worden wäre.

Auf einmal aber tauchte ein Gedanke in ihm auf, der den wühlenden Streit seiner Gefühle wie mit einem Zaubersegen beschwichtigte. Er lag nun wohl noch eine Stunde lang, mit ganz stiller Miene, die Augen nach den Zweigen über sich gekehrt, durch welche nach und nach die Sterne immer leuchtender hervortraten. Der Vogelsang war längst verstummt, von der Straße am Flusse drunten hörte er dann und wann ein Lachen heimkehrender Kirchweihgäste heraufschallen, und die Lieder, die der Spielmann gesungen, gingen drunten von Mund zu Mund, in mancherlei Entstellungen, zuweilen aber ganz echt und unverfälscht, und jedesmal klopfte dem Lauscher im Walde droben das Herz wie einem Liebenden, der das Lob seiner Geliebten von Fremden verkünden hört. Mit der Zeit verstummten auch diese Töne, und nur das stille Sausen des Nachtwindes in dem jungen Laube umher blieb rege. Da erhob er sich endlich und schritt langsam zum Fluß hinab.

Er begegnete drunten auf der Uferstraße keiner Menschenseele, und auch in dem Dorfe, wo das Kirchlein des heiligen Florian stand, lag alles in tiefem Schlaf. Als er um die Krümme des Weges bog, sah er in der Ferne das Wahrzeichen der Stadt Limburg, den siebentürmigen Dom in den Sternenhimmel ragen, und eine zarte Mondsichel hing wie ein zerbrochener silberner Ring am Wetterhahn der höchsten Turmspitze. Ihm aber wurde immer leichter und fröhlicher ums Herz, je mehr er sich der Stadt näherte, und erst als er dicht an den Fuß des Felsens herangekommen war, der nun wie eine ungeheure schwarze Wand vor ihm aufstieg, so daß die drohend aufgetürmten Mauern der Burg und die Pfeiler und Streben, die den Chor des Münsters umgeben, sich vornüber zu neigen und den kleinen Menschen drunten zurückzuschrecken schienen, schlug ihm das Herz vor geheimem Grauen, und er lüftete den Hut, um die kalten Tropfen an seiner Stirne wegzuwischen.

Da, wo der Fluß am Fuß des Felsens sich zurückbäumt und sich zu einem Umweg bequemen muß, so daß er nach Mitternacht strömend die sanft herabsteigende Höhe umfängt, hatte die Mühle gestanden, die bei dem Eisgang vorm Jahr weggerissen worden und seitdem nicht wieder aufgebaut war. Nur die Insel mit ihren hohen Bäumen, in deren Schatten er als Knabe oft gespielt, fand er wieder, zwischen ihr aber und dem Ufer war eine kahle Sandbank aus den Wellen aufgetaucht, durch angespültes Geröll und Ziegeltrümmer der zerstörten Häuser angewachsen, so daß sie jetzt etliche Fuß über dem Stromspiegel lag, hie und da schon von dürftigem Gras und wilden Kräutern übergrünt. In der Mitte dieses unfruchtbaren Eilands erhob sich ein dunkles Hüttchen, den Schuppen ähnlich, in denen die Vogelsteller auf ihren Fang zu lauern pflegen, mit schief nach hinten abfallendem Dach, das mit Rasenstücken beschwert und gegen die Winterstürme gesichert war. Rings um dieses elende Bretterhaus war eine Art Zaun aufgeführt, aus unregelmäßigen Pfählen und Planken, die nicht allzu dicht aneinander in den Kiesgrund eingerammt waren. Der Ort sah so trostlos nackt und unfruchtbar aus, daß niemand ihn für eine menschliche Wohnstätte gehalten haben würde. Auch führte keine Brücke auf das steinige Eiland hinüber. Nur ein Weidenstamm, den der tosende Fluß unterwühlt und aus seinem Grunde herausgerissen, war quer über die schmale Wasserstraße gefallen, am Ufer seine alten zerrissenen Wurzeln in die Höhe streckend und drüben das knorrige Haupt mit den dürren Zweigen in den Kiesgrund bettend. So hatte er einen natürlichen Steg gebildet, den nun Gerhard, nachdem er sich sorglich umgesehen und keinen anderen Zugang hatte erspähen können, mit behenden Füßen erklomm und in wenigen Schritten bis zu Ende ging.

Erst wie er drüben war und auf die dunkle Hütte hinter dem Zaun zuschreiten wollte, fiel es ihm aufs Herz, ob es auch recht und wohlgetan sei, den Schlummer des Einsamen, der sein einziges Labsal sein mochte, zu stören, und mit welchem Gesicht er ihn anstarren möchte, wenn er plötzlich als ein Wildfremder bei ihm einbräche, da er doch selbst nicht klar wußte, was er hier zu suchen kam. So blieb er plötzlich stehen und wagte es nicht, an die kleine, aus rohen Stäben gefügte Pforte zu pochen, mit welcher der Zaun verschlossen war. Nur ein hölzerner Riegel, von außen leicht zu öffnen, war innen vorgeschoben. Über die Planke aber ragte der lange Siechenstecken hervor, an welchem der Lederbeutel hing, zum warnenden Zeichen, daß hier ein Unreiner und Verbannter hause, über dessen Schwelle kein glücklicher und geselliger Mensch den Fuß setzen dürfe.

Der verwegene Gast aber, der sich hiervon nicht schrecken ließ, war noch nicht mit sich eins geworden, was er zu tun habe, als die Tür des Hüttleins plötzlich aufging und der Einsiedler heraustrat. Er hatte wie alle solche, die allein und oft im Freien zu nächtigen pflegen, einen leisen Schlaf, und schon Gerhards Schritte auf dem Weidensteg hatten ihn aufgeweckt. Nun sah er mit Erstaunen den jungen Bürgerssohn, der am Abend unter der Linde sich so milde und menschlich gegen ihn bewiesen, an dem Zaunpförtchen stehen und fand nicht sogleich ein Wort, ihn zu begrüßen, da er vergebens darüber sann, was ihn zu dieser Nachtstunde hergeführt haben möchte. Auch Gerhard schwieg, weil er ganz von seinem Anblick befangen war. Er trug jetzt nicht mehr den blauen Siechenkittel und das Sorgentüchlein, sondern einen Rock aus Lammsfellen kunstlos zusammengenäht und mit einem schmalen Lederriemen über den Hüften gegürtet, die hageren Beine unbekleidet, an den Füßen Sandalen, wie die Barfüßermönche zu tragen pflegen, mit groben Schnüren um die Knöchel befestigt. Jetzt erst konnte der Jüngling sehen, welch eine mächtige Stirn unter dem Tuch verborgen gewesen war. Darunter brannten zwei sanfte, sehr ernsthafte graue Augen, und das Gesicht, das ein weicher Bart umfing, hätte keinem Apostel oder Heiligen Schande gemacht.

Was sucht Ihr hier so spät? fragte er mit einer tiefen, gedämpften Stimme. Wißt Ihr auch, wo Ihr seid und daß Ihr keinen Schritt weiter tun dürft, ohne Euch zu verunreinigen? Wenn Ihr Euch bei dieser nächtlichen Dämmerung verirrt habt, will ich Euch den Weg weisen, obwohl die Kirche droben nahe genug herabschaut, daß man sich leicht zu den Häusern, die sie behütet, zurückfinden sollte. Wer seid Ihr aber und warum habt Ihr mich heut unter der Linde – denn ich erkenne Euch wohl wieder – so reich beschenkt, wie es mir von keinem Fürsten oder Bischof je zuteil geworden? Das sagt mir noch, und dann laßt uns scheiden; denn es bringt keinen Segen, mir nahe zu kommen, obwohl es nur eine törichte Einbildung ist, daß der Hauch des Todes noch immer von mir ausgehe.

Nein, wahrlich, erwiderte Gerhard, von einer seltsamen Rührung ergriffen, vielmehr ein Lebenshauch strömt aus Eurem Gesang und den Saiten Eurer Geige, und nicht verirrt habe ich mich, sondern den rechten Weg gefunden, da ich zu Euch kam. Denn ich war unfroh und in mir selbst entzweit, und seitdem ich Euch gehört, ist es still und friedlich in mir geworden, und nun meine ich: wer solche Wunder wirken kann, müsse eine besondere himmlische Gnade empfangen haben, wenn auch die kurzsichtigen Menschen es nicht wissen und ahnen, und die Kraft, die ihm geholfen hat, sich selbst über seinen elenden Stand emporzuschwingen, könne er nun auch anderen mitteilen, denen nicht wohl ist in ihrer Haut, und die umsonst an den Stricken und Banden zerren, mit denen ihr Schicksal sie umschnürt hat.

Während dieser Rede hatte der Bärtige den jungen Mann unverwandt betrachtet, als wollte er im Grunde seiner Seele lesen, ob dies alles ernstlich gemeint sei oder nur eine künstliche Veranstaltung der Neugier, in einem müßigen Gehirn ersonnen, um seinen Lebensgeheimnissen auf die Spur zu kommen. Der Widerschein des gestirnten Himmels aus dem leise ziehenden Flusse war so hell und der Kiesgrund so weiß gewaschen, daß sie einander jedes Fältchen im Gesicht erspähen konnten. Also sagte der Einsame nach einem bedenklichen Schweigen:

Es ist lange her, daß ich im Beichtstuhl gesessen, und die Weihen hab' ich verscherzt, indem ich dem Kloster entlief und das Leben eines fahrenden Mannes führte. Wenn Ihr aber ein beladenes und ungewisses Herz habt und mir vertrauen wollt, junger Herr, so schüttet Eure Sorgen und Nöte vor mir aus und glaubt, daß ich es ernstlich damit nehmen werde, Euch Trost und Rat zu spenden, so viel ein Mensch dem andern mit dem Beistande unseres Herrn und Heilandes spenden kann. Wer seid Ihr und was sind das für Stricke und Banden, von denen Ihr Euch gefesselt fühlt?

Nun begann Gerhard ihm alles zu sagen: welches Leben er bisher geführt, wie und warum er in die Welt hinausgezogen und wie er es daheim gefunden, als er endlich zurückgekehrt. Er verschwieg ihm nicht, daß ihm die Luft in der Heimat den Atem beklemme, sein Herz den alten Freunden entfremdet, vor allem aber die Augen ihm darüber aufgegangen seien, daß diese so herzlich ersehnte Liebste nichts Besseres sei als ein gleißendes Bild ohne Gnade, eine seelenlose Puppe, in deren Armen ihn ein tödlicher Frost befallen und sein junges Leben hinwelken machen werde. Es habe ihn seit gestern abend ein heimliches Fieberfrösteln beschlichen und sei nur von ihm gewichen, als er unter der Linde seinem Spiel gelauscht. Wie er das kindische Geschöpf dort so ungerührt an seiner Seite gesehen, und wie sie dann vollends mit unmenschlicher Härte gegen das unverdiente Unglück ihm den Rücken gewandt, da habe er gefühlt, daß das Band, das ihn an sie geknüpft, zerrissen und jeder Funke der alten Minne in ihm erstickt worden sei.

Hierauf schwieg der Jüngling, von der Erinnerung an jene Stunde aufs neue erbittert und empört, und auch sein Beichtiger verfiel in ein tiefes Sinnen. Er war an den Eingang seiner Hütte zurückgetreten und lehnte am Pfosten der Tür, die eine Hand in den langen Bart vergraben, die andere um den Ledergurt geballt. So standen sie eine geraume Zeit einander gegenüber, durch das Zaunpförtchen geschieden.


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