Jeremias Gotthelf
Das Erdbeeri Mareili
Jeremias Gotthelf

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Indessen mit dem Mißgeschick schien es denn doch ernst zu sein, es ging ihm alles verkehrt und wie verhexet. Im ersten Hause, für welches es seine schönsten Erdbeeren gebeizt, war niemand daheim als eine alte, böse Magd. Diese hatte Mareili schon lange auf dem Strich, mißgönnte ihm jedes gute Wort, jedes Geschenk, welches man ihm gab, als wenn es von ihrer Sache genommen wäre. Wie die jetzt glücklich war, als sie es einmal in Schußweite vor ihrem Maule hatte! Man brauche nichts, sagte sie. Es würde ihm auch besser anstehen, etwas zu arbeiten, als nur den faulen Hund zu machen, alle Tage den Leuten vor der Türe zu stehen. Das sei nicht viel anders als betteln; wer bettle, stehle und mache sonst noch, was er könne, bsunders so große Meitscheni, pfy Tüfel! Vor dem Gsindel komme man selbst nicht mehr zur Arbeit, werde alle Augenblicke davongesprengt. Mareili bekam den Hals so voll, daß es nicht einmal fragen konnte, wann es wiederkommen solle, und ging weiter, fand in einem Hause die Leute, welche Erdbeeren aßen, krank, ein anderes Haus mit Erdbeeren so überfüllt, daß sie nicht alle brauchen konnten, an einem vierten Orte sagte man ihm trocken: ›Mangeln keine.‹ Und als es sagte, es hätte doch so schöne, ließ man es einfach ohne Antwort stehen, bis es endlich ging. Das tat ihm so weh, man glaubt es nicht.

Sein Herz ward ihm ganz schwer, sein Gemüt voll Elend, denn mit seinen Kunden stund es nicht bloß in einem Erdbeeriverkehr, sondern in einem gemütlichen, sie waren so gleichsam seine Freunde und Verwandte. Sein Elend half ihm nicht von den Erdbeeren, es mußte seinen Ring weiter schlagen, mußte zu neuen Häusern, sogar vor Wirtshäuser. Diese waren ihm in der Regel am meisten zuwider, da fiel es in die Hände der Köchinnen und Stubenmägde, die gar zu gerne schnöde und schnippisch mit den Leuten umgehen, besonders mit Erdbeerimeitscheni. Mareili fürchtete sie auch mehr als die großen Hunde vor den neuen Häusern, von denen es noch nicht wußte, aus welchem Ton sie bellen. So setzte es endlich wohl etwas von Erdbeeren ab, doch langsam und mit Verdruß statt mit Freude. Wenn es vor dem Gschänden nicht einen so großen Grausen gehabt und die Erdbeeren dafür ihm nicht zu lieb gewesen wären, es hätte sie hinter einen Zaun geschüttet und wäre heimgelaufen.

Da könne man sehen, dachte es, ob man sich der Zeichen achten soll. Wenn man doch nur den rechten Glauben hätte, könnte es einem nicht fehlen. Bei einem Hause gab ihm endlich eine freundliche Frau Bescheid. ›Kann sie wäger nicht nehmen, Meitschi‹, sagte sie, ›ich täte es dir sonst gerne zu Gefallen, aber wir essen keine Erdbeeren, sie erkälten uns zu sehr. Aber weißt was, ungefähr eine Viertelstunde von hier ist ein großes Herrenhaus, haben immer viele Leute dort. Dorthin gehe; hast schöne, brauchst sie sicher.‹ So weit war Mareili noch nie gegangen, so weit von Hause noch nie gewesen, noch nie in der Nacht ausgeblieben, schon so spät und noch so weit! Solche Angst um Absatz hatte es nie empfunden. In Gottes Namen, dachte es, eine Viertelstunde zwingt nicht alles, aber dann keinen Schritt weiter, sondern heim. Es war eine lange Viertelstunde. Maßleidig schleppte Mareili sie ab. Endlich merkte es an wohlgepflegten Baumgängen die Nähe des Herrenhauses. Mit Bangen betrat es sie, und dieses Bangen mehrte sich bei jedem Schritte. Es war so einsam in denselben, so seltsam knirschte der Kies unter seinen Tritten, so feierlich rauschte der Wind in den alten Bäumen, es kam ihm vor, als ginge es zu einem Zauberschlosse, von dem die Mutter ihm oft erzählt hatte, wo alles, was in dessen Nähe kam, verzaubert und verwandelt wurde in Pflanzen oder steinerne Säulen oder gebannt in Bäume oder Brunnen. Es trappete immer leiser ab, gerade wie wenn es des Morgens durchs Stübchen ging und die Mutter nicht wecken wollte. Plötzlich sah es seinen Engel neben sich stehn, weiß und schön wie vor Jahren, die mächtige Fee im Zauberschlosse, die alles verwandelte, was in ihre Nähe kam. Und Mareili versteinerte, starrte mit offenem Mund und Augen wie damals an der Erdbeerihalde die Erscheinung an. Der Engel sah das plötzliche, lautlose Erstarren des Mädchens, betrachtete es schärfer, länger mit seinen wunderbaren, tiefen Augen, rief dann freudig: ›Was, mys Erdbeeriengeli von den Bergen! Bists oder bists nicht, red, mys Kind, oder kannst nit, bist stumm, doch nicht? Gelt, du kannst reden?‹ Und des Engels Macht, welche in seinen Augen war, löste den Bann, zog die Stimme aus der zusammengezogenen Brust, und das Erdbeeriengeli sagte endlich: ›Gottlob nit!‹

Es ist ein selten Ding auf Erden, daß zwei Engel sich begegnen, sich jahrelang im Andenken bewahren und als Engel wieder finden – auf Erden. Der eine Engel war das Schloßfräulein, der andere das Erdbeeri Mareili. Das Erdbeeri Mareili war innig bewegt, seine Augen begannen zu strahlen in feuchtem, dunkelblauem Glanze, es freute sich seines Engels, aber still und innerlich. Des Schloßfräuleins Freude war lauter; so weit seine weiche Stimme reichte, sammelte es die Leute, stellte das Erdbeeri Mareili unter sie und erzählte, wie endlich das Erdbeeriengeli gefunden sei, von dem es ihnen so oft erzählt, wie es dasselbe gefunden, als sie auf ihren Berg gegangen, oben in einer Weide schlafend unter einer Haselstaude, dasselbe aufgeweckt und ihm Erdbeeren abgekauft und so reuig gewesen, daß es dasselbe so schnell verlassen, weil es gefürchtet, die übrige Gesellschaft nicht mehr zu finden. Das Kind habe ganz einem Engelein geglichen, aber nicht geredet, es wisse nicht, ob aus Furcht, oder weil es stumm gewesen. Mareili mußte nun Auskunft geben, wer es sei. Es komme aus dem Tschaggeneigraben, man sage ihm nur das Erdbeeri Mareili, berichtete es. Da war wieder eine große Freude unter allen, denn alle hatten schon von dem Erdbeeri Mareili gehört, und das Fräulein sagte, es habe sich schon lange geärgert, daß dasselbe nicht zu ihnen komme, Aufträge gegeben, daß man es ihnen zuweise, aber keine Ahnung gehabt, daß das Engeli und das Mareili ein Wesen seien. Daß Mareili seinen Erdbeeren abkam und bewirtet wurde, versteht sich, und recht betrübt ward das Fräulein, als Mareili heimpressierte und für kein Lieb da über Nacht bleiben wollte, weil dsMüetti Angst hätte; und ein gut Meitschi macht, soviel an ihm, Müetti nie Angst. Es mußte versprechen, bald, bald wiederzukommen, und doch sah lange das Fräulein traurig ihm nach mit den Augen voll Liebe, als ob es schon oft erfahren, daß verschwunden und nicht wiedergekommen, was es geliebt, und wieder nun fürchte, es möchte die liebe Erscheinung auch schwinden und nicht wiederkommen.

Von Mareili war alle Müdigkeit gewichen; es kam heim, als hätte es Räder unter seinen Füßen, als hätte die Freude ihm Flügel wachsen lassen. Einen Augenblick nur hatte es ihns betrübt, daß es nicht ein wirklicher Engel gewesen, des Fräuleins holdes Wesen hatte ihns bezaubert, jetzt war es glücklich, seinen Engel auf Erden zu haben in Menschengestalt. Jetzt sei es doch gut gewesen, dachte es, daß es den Weg unter die Füße genommen trotz trübem Wasser, alten Weibern und der Ägersten Gekreisch. Indessen hätten die doch allweg etwas zu bedeuten gehabt, einen ganzen Tag voll Verdruß und Unglück. Aber weil es das alles ausgehalten, sich in nichts versündigt, die Beeren nicht hinter den Zaun geworfen, sei am Ende doch alles gut gekommen, große Freude und Glück, welche es nie gehabt, wenn das Mißgeschick ihns nicht so weit getrieben. Und allweg hätte es nicht alles annehmen und aushalten können den ganzen Tag, wenn es nicht gemahnt worden wäre an Unglück und Verdruß und sich daraufhin hätte fassen können. Wie gute Eltern den Kindern gute Ermahnungen auf den Weg geben, daß sie sich in acht nehmen möchten vor allem Bösen und standhaft sein in allem Guten, so werde es auch Gott tun, wenn man ihn lieb habe. Darum sei gut, wenn man sich allem achte und denke, es komme von Gott.

Die Mutter verstaunete ganz, als Mareili ihr berichtete, wie es ihm heute ergangen, und wie es den Engel lebendig auf der Welt gefunden. Als sie aber vor Erstaunen zu sich selbsten kam, sagte sie alsbald: ›Habe ich es nicht von Anfang an gesagt, es sei kein Engel gewesen, sondern eine vornehme Herrenfrau oder Herrentochter?‹ Daran, daß sie es von Anfang an gesagt und nur um Mareilis willen geschwiegen, lebte sie wenigstens ebensowohl als am Engel selbst. Mareili gönnte und ließ der Mutter die Freude, recht gehabt zu haben, wie die Mutter ihm die Freude am Engel, und, wo jedes dem andern seine Freude gönnt, da ists schön, da ist Friede.

Wo ein gefundener Engel in einen Lebenskreis trittet, da gibt es neues Leben begreiflich. Um ihn bewegten sich ihre Gespräche, er bildete den Mittelpunkt ihres Erdbeerilebens. Mit besonderem Geiste wurden für das Fräulein die schönsten Beeren gewonnen. Mareili kannte natürlich die Stellen, wo sie am schönsten und größten wuchsen, dort sammelte es, wenn es ins Schloß gehen wollte. Zweimal in der Woche geschah es anfänglich, bis die Beeren rarer wurden; das waren seine Festtage, sorgfältiger kleidete es sich, früher machte es sich auf den Weg, rascher ging es, es war ihm fast, wie wenn es an großen Feiertagen zur Kirche ging. Das Fräulein sah es fast allemal, fühlte die magnetische Kraft in den dunkeln Augen, die ihm das Herz bewegten, fast wie der Engel das Wasser im Teiche Bethesda, mit dem Unterschied jedoch, daß es Mareili nicht trüb ward im Herzen, sondern hell und licht, eine klare Freudenflamme loderte. Das Fräulein sprach, wenn immer tunlich, mit Mareili, freute sich seiner und war teilnehmend, doch etwas ungleich, freundlicher und ernster, milder und erregter. Mareili fühlte den Unterschied und betrübte sich darüber, doch nur um des Fräuleins willen, dachte nicht von ferne daran, den Grund dieser Verschiedenheit bei sich zu suchen. Das Fräulein war sein Engel geblieben, seine Erscheinung ihm jedesmal eine himmlische. War diese Erscheinung trüber, dunkler, so kümmerte es sich darüber, sah mit großer Liebe zu ihr auf und hätte fragen mögen, was fehle, ob es helfen könne.

Und wenn es auch nur die Erscheinung hatte, sie ihm bloß von ferne zunickte und auch nicht nickte, so war Mareili zufrieden und dachte wohl darüber nach, was ihr wehtue oder Freude mache. Mareili dachte sich den lieben Gott auch von Empfindungen bewegt, traurig und vergnügt und hellauf, alles nach dem Tun der Menschen; wenn es dem lieben Gott so geht, warum sollte es einem Engel nicht auch so gehen und zwar um so mehr, je ähnlicher er dem lieben Gott ist? Das betrübte Mareili sehr, wenn es das Fräulein gar nicht sah. Fragen durfte es nicht nach ihm. Es stellte sich dann alles mögliche vor, dachte ihn auch verschwunden für ihns, war nicht eher wieder froh, bis es ihn wieder sah und dann gewöhnlich freundlicher als nie. ›Wann kommst wieder?‹ frug das Fräulein, als es eben einmal so freundlich gewesen. ›Nicht mehr‹, sagte Mareili, und aus seinen großen Augen rollte Träne um Träne. ›Es waren heute die letzten.‹ Das Fräulein erschrak selbst ob dieser Antwort. ›Was soll ich machen, wenn mein Erdbeeri Mareili nicht wieder kommt?‹ sagte es. ›Aber warum weinst so?‹ fragte das Fräulein. ›Hast dann nichts mehr zu verdienen? Aber ihr werdet wohl nicht alles gebraucht, sondern etwas zurückgelegt haben für den Winter?‹ ›Es ist nicht wegen dem‹, schluchzte Mareili, ›aber ich habe grusam Längizyti!‹

›Liebes Kind‹, sagte das Fräulein, ›man muß sich an alles gewöhnen in der Welt und es nehmen, wie Gott es gibt. Es ist dir sicher gut, wenn du dich auch gewöhnst an das Daheimbleiben, es ist wohl langweiliger, das beständige Herumlaufen ist kurzweiliger, macht aber auch die Menschen leichtsinnig, und wer sich zu sehr an das Straßenleben gewöhnt, wird zu viel Gutem untauglich und nimmt selten ein gutes Ende.‹ Es ging dem guten Fräulein, wie es manchem Prediger, berufenem und unberufenem, geht, sie zielen wohl gut und treffen richtig, aber nicht in die rechte Scheibe. Es ging dem Mareili tief ins Herz, daß das Fräulein meine, es hätte Anlagen zur Landstreicherin, aber es konnte es nicht sagen, sondern bloß denken oder fühlen, daß eine ganz andere Längizyti als die nach der Straße ihns plagen werde. Statt der Antwort rollten seine Tränen nur noch größer und dicker. ›Tröste dich, mein liebes Mareili‹, fuhr das Fräulein fort, ›sei diesen Winter recht fleißig, die Zeit geht schnell, ein anderer Sommer ist bald wieder da, dann kannst du wieder gehen den Erdbeeren und ihren Essern nach, und zu uns kommst du wieder und bringst die ersten, hörst du, daß du mir nicht fehlst!‹

Da sah Mareili so eigen zu dem Fräulein auf, daß dasselbe seine weiße Hand auf dessen Kopf legte und zu ihm sagte: ›Und hörst, in sechs Wochen, achte dich dessen wohl, ziehen wir in die Stadt, vorher kommst du noch einmal zu uns und frägst nur mir nach, hörst du wohl, und komm ohne Fehler!‹ Da Mareili nichts darauf sagte, sondern ihns nur ansah, so fuhr es fort: ›Du bist ein wunderliches Kind, du mußt besser antworten lernen. Aber höre, kömmst du nicht, so kaufe ich dir auch keine Erdbeeren mehr ab.‹ Das Fräulein war an ein ganz anderes Benehmen der Untergebenen gewöhnt, die wissen gewöhnlich mit Worten und Gebärden ganz anders auszudrücken, was sie angenehm und einträglich glauben. ›Gell, du kömmst!‹ sagte das Fräulein, reichte Mareili die Hand und sah es an. Mareili brachte kaum ein Ja aus dem Weinen heraus. ›Es gspässigs Meitschi!‹ sagte das Fräulein und sah ihm nach.

Mareili fand sich zur anberaumten Zeit ein. Die dazwischenliegende Zeit war ihm eine Wüste gewesen ohne Baum ohne Haus, ein unwirtlich Land, eine Nacht ohne Mond und Sterne. Wie der Tag nahte, wo es gehen wollte, da dämmerte es, tagete endlich. Das Fräulein beschenkte das Kind reichlich mit Winterkleidern für ihns und die Mutter; denn große Wohltätigkeit war Familiensitte, man gab viel und gern, man begriff, daß Geben seliger als Nehmen sei. Als Mareili wohl sich freute, sehr dankte, aber beim Fortgehen doch noch mehr weinte, da sagte das Fräulein wieder: ›Es gspässigs Meitschi‹, und sah ihm sinnend nach.


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