Jeremias Gotthelf
Das Erdbeeri Mareili
Jeremias Gotthelf

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Als im folgenden Sommer die Erdbeerifrau sich wieder zeigte, hatte sie eine schwarze Schürze um. Dessen erschraken alle Leute und frugen, ob das Erdbeeri Mareili gestorben. Aber es war nicht Mareili, sondern Bäbeli, das gestorben. Dann entrann den Leuten wohl: ›He nu, Gottlob! So machts denn nichts.‹ Aber so war es doch der Mutter nicht. Bäbeli war ihr auch lieb gewesen, sie wußte viel von ihm zu rühmen, wie die Kinder sich lieb gehabt, wie Mareili ihm abgewartet und sich fast nicht habe wollen trösten lassen. Erst als die Erdbeeren reiften, wurde es wieder munter und fleißigte sich doppelt, damit die Mutter nicht weniger verkaufen könnte.

Und es schien, als hätten die Erdbeeren den gleichen Sinn, als wollten sie ihrem Mareili zu seinem Vorhaben helfen, denn nie blühten sie schöner und dauerten länger als in diesem Jahr. Die Frau brachte ihre Finanzen in Stand, tilgte die Rückstände, plagte die Nachbarn nicht, konnte den Hauszins zahlen ohne Hülfe der Gemeinde. Das brachte die Frau in Respekt; denn Fleiß, Sparsamkeit und niemand zur Last fallen galten von jeher viel im Bernerland. ›Marei‹, sagten die Nachbarn, ›Marei, wenn es alle so machten wie du, die Gemeinde wäre weniger geplagt mit Armen. Wenn eine begehrt, etwas zu verdienen, so ist noch immer etwas zu machen, der alte Gott und gute Leute leben immer noch, und die Kirschbäume blühen alle Jahre. Wenn du was mangelst, so sprich zu, es soll nicht nein sein, wenn wirs einmal haben. Es ist dann doch nicht, daß wir die wüstesten Hüng syge, aber dLüt müsse auch darnach tun.‹ Das sei guter Bescheid, sagte dann Marei, es danke dafür, aber solange es ihm möglich sei, plage es lieber niemand. Daß es ihnen ernst sei, hatten die Nachbarn erzeigt, als das Kind krank war, gingen ihm zum Doktor, brachten, was sie gut glaubten, was dann freilich nicht immer das Beste war.

Es schien, als habe der Tod eine besondere Freude an Mareis Kindern, denn im nächsten Winter erschien er wieder und holte Mareilis Brüderchen ab. Da war ein großer Schmerz in der Hütte, Mutter und Mareili konnten ihn kaum verwinden, zuweilen hörte man ein leises Weinen, sonst war es stille bei ihnen wie im Grabe. Die Mutter kostete ihr bitteres Leiden, sie mochte wollen oder nicht, fort und fort schluckte sie an dieser bittern Arznei, dachte an die Zukunft, was alles ihr noch warte, ob sie das Bitterste noch erleben müsse. Mareili lebte ein seltsam Leben, bald im Himmel, bald auf Erden, beide waren eins und eng verflochten ineinander. Es dachte an seine Erdbeeren in Weid und Wald im Tschaggeneigraben, an sein Schwesterchen, sein Brüderchen im Himmel, ob sie dort oben wohl auch einen Erdbeeriberg hätten, und wie groß und schön wohl die Beeren wären. Ach und vielleicht sei kein Winter da oben, sondern Sonne alle Tage und reife Erdbeeren das ganze Jahr durch und nie Schnee und Frost! Wenn doch einmal Schwesterchen und Brüderchen kämen und ihns berichteten, wie es da oben sei, wie schön das Leben und wie groß die Erdbeeren! Wenn sie doch einmal zu ihm kämen, wenn es oben im Wald alleine sei, wenn doch einmal in den Erdbeeristüdelene Schwesterchen und Brüderchen säßen, zwei weiße Engelein, grüßten es freundlich und erzählten ihm von dem Wohnen im Himmel, und wie lieb der liebe Gott sie hätte, brächten ihm viel Beeren mit von oben und Krättchen und Körbchen für ihns und für die Mutter! Wenn in den langen Abenden die Lampe schläfrig wurde und düster, die Mutter emsig das Rad trieb, der Wind mächtig ums Häuschen rauschte, da gab Mareili seinen Träumen Worte, begann leise zu reden von den Engeln und zu fragen, ob sie noch auf die Erde kämen, ob wohl, wenn man recht fleißig sei und fromm und man dem lieben Gott so recht anhielte, man einen Engel sehen könnte, und wenn es und die Mutter recht beteten, er wohl Schwesterchen und Brüderchen erlauben würde, ihnen zu erscheinen und mit ihnen zu reden?

Die Mutter erschrak über solche Gedanken und wehrte ihnen. Sie glaubte, man könnte damit sich versündigen, die Kindlein an der Ruhe stören, daß sie wiederkommen müßten. ›Und denk doch, Mareili‹, sagte sie, ›was die Leute sagen würden, wenn sie wiederkämen! Sie würden ja meinen, die Kinder hätten sich so schwer versündigt, daß sie nicht an die Ruhe könnten.‹ Zugleich machte es sie traurig, denn sie hielt solche Reden für Vorboten des nahen Todes. Kinder, die viel von Engeln sprächen, würden bald auch solche, und Kinder, welche viel vom Himmel redeten, fühlten wohl, daß Gott sie bald holen lasse in den Himmel. Sie hatte schwere Angst, der dritte Winter koste sie das dritte und letzte Kind. ›Du mußt nicht von solchen Sachen reden‹, sagte sie, ›der liebe Gott hat es ungern, und du könntest dich versündigen‹, und um Mareilis Gedanken abzuwenden, erzählte sie ihm dann Gespenstergeschichten von graulichter Art, daß sie beide schlotterten wie Espenlaub und vor Schlottern kaum zu Bette konnten.

Die Mutter konnte Mareili wohl das Reden wehren, aber nicht das Denken. Die Bilder der Seele gestalteten sich um so lebendiger, es gestaltete sich in ihm ein fast zusammenhängendes Leben mit den Gestorbenen, lange, lange Gespräche führte es mit ihnen. Immer ungeduldiger ward es im engen Stübchen, sehnte sich immer mehr nach dem Warmen der Sonne, daß sie den Schnee ihm vertreibe und die Blümlein wieder wecke in der Erde Schoß. Die Mutter dagegen freute sich nicht darauf, es machte ihr angst. Es bangte ihr, das Kind so alleine gehen zu lassen in die Wildnis, sie versuchte, ihre eigene Angst dem Kinde einzuimpfen. Sie stellte ihm vor, wenn es sich verirren würde, die Hütte nicht mehr fände und elendiglich verhungern müßte im Walde. Mareili sagte: ›Ich verirre mich nicht, ich wußte värn und vorvärn den Weg immer am besten und verirrte nie, warum sollte ich jetzt noch verirren?‹ ›Ja, wenn du verhexet würdest!‹ sagte die Mutter; ›man hat Beispiele, daß man in bekannten Wäldern so verhexet wurde, daß man nie mehr den Ausgang fand.‹ ›Aber Mutter, warum wurden wir värn und vorvärn nicht verhexet? Es sollte doch den Hexen mehr der wert gewesen sein, drei zu verhexen als nur eins, und was hätten wir wehren wollen?‹ ›Ja, aber es könnte was anders geschehen, denk, es gibt Drachen im Walde, böse Tiere, welche die Kinder fressen, und Berggeister, welche Kinder stehlen und sie in unterirdische Höhlen führen, wo sie Sonne, Mond und Sterne nie mehr sehen‹, sagte die Mutter. ›Aber, Mutter, sie hätten uns ja värn und vorvärn auch stehlen können‹, sagte Mareili, ›und haben es doch nicht getan.‹ ›Es wäre an einmal zu viel‹, sagte die Mutter, ›und willst du dann deiner eigenen Mutter nicht mehr glauben, ei, aber Mareili, das duret mich, habe doch geglaubt, du seiest nicht wie die andern wüsten Kinder, welche Vater und Mutter nichts mehr glauben wollen, und machst es mir jetzt so!‹ ›Mutter, ich will dir alles glauben, wenn du mich willst erdbeeren lassen, sonst will ich sterben, dann kann ich zu Brüderchen und Schwesterchen und kann mit ihnen erdbeeren, wo keine Unghürer sind und alle Tage Sommer.‹ ›Aber, Mareili, rede nit von Sterben, könntest dich versündigen, wollen ja erdbeeren wie sonst, aber mußt mir nicht mehr so reden‹, sagte die Mutter.

Auch dieser Winter verrann, und alle Tage mächtiger zog die Sonne das Kind an die warme Halde, wo die ersten Erdbeeren blühten und reiften. Die Mutter konnte es nicht mehr halten und ging mit ihm, las aber, weil es sich für eine arme Frau nicht schickt, müßig spazieren zu gehen, Holz auf und brach Reckholderschützlig ab. Sie mußte sich wirklich wundern, wie Mareili überall Bescheid wußte im weiten Walde, jede Tanne kannte, immer zum voraus sagen konnte, was kommen werde, ein Bach, die größte Tanne oder die, welche der Blitz gespalten. Und als sie an die Sonnseite kamen, wo schon alles lebendig war, zeigte es ihr das frühste Erdbeeristüdeli und fand zu seiner großen Freude schon Blüten dran. ›Mutter, dort war ein Amselnest, ist wohl wieder eins da?‹ Richtig saß unter dem Tannbüschli brütend die Amsel und floh überrascht diesmal weg, doch nicht weit. Auch die bekannte Häsin sprang auf, setzte über einige Stauden weg, dann auf die Hinterbeine und sah sich verwundert um, als wenn sie sich vergwissern wollte, obs das Mareili sei oder jemand anders; des verwunderte sich die Mutter sehr, es wollte ihr aber fast vorkommen, als ob dies nicht natürliche Tiere seien, sondern verzauberte, es ward ihr anfangs unheimlich dabei. Sie begleitete anfangs das Kind beim Beeren und gewöhnte sich an die bezauberten Hasen und andere Vögel, daß sie ihr ganz natürlich vorkamen. Nach und nach aber ließ sie Mareili alleine gehen, denn sie sollte pflanzen und verdienen; die Krankheit der Kinder hatte sie zurückgebracht. Wo der Verdienst nur kreuzerweise eingeht, da wird jeder Kreuzer, der nicht eingeht, und jeder Kreuzer, der unerwartet ausgeht, schwer empfunden, hinterläßt Nachwehen.

Mareili wußte dies wohl, kannte beim Kreuzer Schulden und Vermögen der Mutter. Je kleiner die Hütte ist, desto kleiner werden die gegenseitigen Geheimnisse; wo Hühner und Menschen in einem Stübchen wohnen, kann eins vor den andern nicht viel verbergen. Mareili hatte diesmal Mühe, die Erdbeeren so recht reifen zu lassen, und jeder trübe Tag war eine Prüfung Gottes, die Mutter hatte um so länger kein Geld und es doch so nötig. Endlich bleibt nicht ewig aus, endlich wars erlebt, das Gewinnen begann, aber jetzt nur noch mit zwei Händchen zumeist statt mit sechs, und die Mutter hatte mehr Geld nötig als nie. Zudem schien es kein Erdbeerijahr werden zu wollen, es regnete viel und war nicht heiß. Kornjahre und Weinjahre kennt man, nicht bloß jedes Kind weiß, was sie zu bedeuten haben, sondern sie haben große Bedeutung in der Weltgeschichte. Von Erdbeerijahren redet kein Mensch, kein Geschichtschreiber zeichnet sie auf, und doch haben sie große Bedeutung für arme Kinder und arme Weibchen. Nun, das wird eben daher kommen, daß die Geschichtschreiber sich mehr kümmern um Weinherren und Kornwucherer als um arme Kinder und arme Weiber.

Mareili wollte mit Fleiß ersetzen, hatte weder Ruhe noch Rast, war früh und spät, daß die Mutter oft die Hände über dem Kopfe zusammenschlug über den Segen, den es heimbrachte. Da ward noch dazu das Wetter beständig, die Sonne heiß, alles wollte auf einmal reif werden, Mareili wußte gar nicht, wie wehren. Begreiflich ward das Kind bei der verdoppelten Anstrengung sehr müde. Wenn es des Morgens erwachte, waren ihm die Glieder wie angeleimt im Bette, daß es sie kaum heben und bewegen konnte. Die Mutter mahnte oft zur Ruhe, oder einen Tag daheim zu bleiben, aber Mareili wollte nicht, und ließ sie es eines Morgens ausschlafen und weckte es nicht, weinte es so bitterlich und ward böse über die Mutter, daß sie es nicht mehr tat; Mareili wollte nichts versäumen, Mareili wollte immer zu rechter Zeit auf dem Platze sein. Brüderchen und Schwesterchen wüßten, dachte es, um welche Zeit sie sonst das Gwinnen angefangen; wenn sie nun einmal zu der gleichen Zeit kämen und es wäre nicht da und es käme nun nicht, so konnten sie ja meinen, es sei nicht mehr da, käme nicht wieder, könnten dann gehen und nie mehr kommen. Mareili träumte im stillen nur von diesem Erscheinen, aber es ließ es die Mutter nicht merken, weil es sie betrübte im Gemüte. Alle Morgen, wenn es durch den Wald ging, war es gefaßt auf eine Erscheinung hinter den Bäumen hervor, oder es finde sie sitzen an der Halde mitten in den Erdbeeren, oder wenn es beim Gwinnen aufsehe, stünden sie plötzlich vor ihm in weißen Engelskleidern.

Wie oft es vergeblich träumte, es träumte doch am folgenden Morgen das gleiche wieder, es war auch eine von den Hoffnungen, welche alle Tage neu werden. Oft ging es den ganzen Tag nicht heim, wenn es an entferntern Orten beerte. Dann geschah es wohl, daß, wenn die Sonne mitten am Himmel stand, es heiß ward auf Erden und es am Schatten sein Stücklein Brot verzehrte und aus einem Krüglein einen Tropfen Milch dazu, Meister Schläflein kam, sich in Mareilis Augen ein Nestlein baute, die Vorhänge fallen ließ, um süß zu schlummern im Dunkeln. Es wehrte sich wohl dagegen, und wenn es aufwachte und merkte, was geschehen war, hatte es es ungern, aber Meister Schläflein ist ein gar mächtiger Mann, kann schlafen, wo er will, Könige zwinget er, geschweige denn Kinder.

Eines Tages war sein Suchen besonders gesegnet. An ein neu Plätzlein war es gekommen, wo es noch nie gewesen und sonst noch niemand, so dicht, groß und dunkelrot hatte es die Beeren noch nie stehen sehen. Um Mittag aber ward es gar grimmig heiß, aber fast ein ganzes Tagewerk hatte es schon vollendet. So setzte es sich mit ruhigem Gewissen an Schatten, aß sein Brot, und als auch diesmal Vetter Schläfli kam, wehrte es sich nicht so nötlich und ließ ihn machen. Alsbald träumte es wieder. Es wußte, die Engelein waren da, aber es sah sie nicht, es hörte sie nicht, es wollte sie suchen, aber es konnte nicht, seine Glieder waren gebunden. Plötzlich hörte es eine Stimme dicht über sich wie vom Himmel herab, es fuhr auf, und vor ihm stund ein Engel und beugte sich über ihns. Ein wunderschöner Engel wars mit dunkeln Augen und dunkelm Haar, von hoher Gestalt, mit weißen Kleidern angetan. Leise den Kopf zur Seite geneigt und das ganze Gesicht voll Liebe, sprach der Engel zum Kinde gar hold und weich, aber das erschrockene Kind verstund ihn lange nicht. Es war nicht das Brüderchen, nicht das Schwesterchen, der Engel war viel größer und schöner, blickte so lieblich aus seinen dunkeln Augen und doch mit wunderbarer Kraft, als vermöge er die Seele zu ziehen aus dem Körper des Menschen, als sei er der Engel, der umgehe auf Erden, die schönsten Seelen zu sammeln und dem Vater sie zuzuführen. Endlich verstund Mareili, wie er ihm zusprach, nicht erschrocken zu sein, ihns liebes, liebes Kind hieß, sonst viele holde Worte ihm sagte, endlich nach den Erdbeeren ihns fragte, ob es wohl geben wollte von den prächtigen, die da in Krättchen neben ihm stunden. Mareili sah mit offenen Augen den Engel an, aber reden, antworten konnte es nicht, es nickte bloß, es reichte ihm die schönsten, und als der Engel davon aß, glänzte sein Gesicht auf wie das Gesicht eines Engeleins, und als der Engel fragte, ob er das ganz große Krättchen haben könnte, nickte Mareili noch freudiger und faltete die Hände, als ob es beten wollte. Da küßte der Engel das Kind auf die Stirne, gab ihm ein glänzend Silberstück, ging in die Bäume, sah noch einmal eilend sich um, und wie schöne Sterne glänzten seine Augen, da verschwand er.


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