Max Dauthendey
Josa Gerth
Max Dauthendey

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Vorakkorde

Tränen – Tränen im Frühling! Das Licht steht still und horcht, und die Lüfte halten den Atem an und lauschen, und alles starrt auf das schluchzende Kind.

Seine Arme umschlingen den Baum. Sie pressen ihn fest. So fest, daß das Blut stockt, die Adern schwellen, und dann zittert und glüht das junge Herz.

Die Einsamkeit sieht es groß und ernst an:

»Warum weinst du, Mädchen?«

Das Schweigen saugt ihm die Tränen von den Wimpern:

»Warum weinst du, Mädchen?«

Niemand weiß es. Niemand sagt es ihr.

Kein Leid, kein Schmerz ätzt ihre Seele. Und doch diese Tränen, dies Schluchzen.

Der Himmel ist blank und leuchtend. Das Sonnengold jauchzt. Licht und Klarheit wogen trunken im blendenden Äther.

Aber die Erde liegt noch im Frühlingsdämmern. Aus ihrer Brust quillt der Atem, leise zögernd, aber berauschend, kraftschwellend in gärender Macht, die junges, zündendes Blut durch winterschlaffe Adern treibt.

Das Licht zerschlägt schäumend die Wolken. Stürzt rauschend nieder. Küßt ihre Lippen. Küßt sie heiß, stürmisch. – Da schlägt die Erde die Augen auf.

Sie lacht nicht. Sie seufzt nicht. Sie ruht ganz, ganz still, gelähmt von der Starre des keimenden Erwachens. Die Gedanken, den trägen, warmen Schlaf in den Gliedern, stehen erst an der Schwelle des Bewußtseins. Unschlüssig, halb wachend, halb träumend, mit taumelndem Blick zum Lichte wankend. Das alles sah das Kind.

Aber nicht wie man Farben und Formen und Linien mit dem Augstrahl umklammert; auch nicht wie Träume, die man betastet; viel, viel näher. Tief im Herzschlag, mit dem Kern des warmen Pochens in eins verschmolzen und doch ein anderes und unfaßbar.

Es sah die Erwartung, die überall dem Lichte die Arme entgegenbreitete. Fühlte die Unbefriedigung der Natur. Die schmerzende Öde der matten und kargen Töne ringsum. Die hungernde Leere, in der jener Sonnenstrahl viel heftiger brannte, all dies gierige Mühen, Wärme, Kraft, Leben einzusaugen, um es in Farbe, Duft und Blüte wieder auszustrahlen.

Das alles sah das Kind, alles das pochte in seinem Herzschlag.

Und da seufzten die Augen, und gruben sich in die Helle und durchwühlten die aschfarbene Leere.

Wollten keine Farben blühen? kein Duft? keine Klänge?

Doch die Leere blieb leer und stemmte sich unerbittlich gegen das Sehnen, zerfleischte die Kinderbrust und zerschlug den Glanz der Augen in Tränensplitter.

Aber das Kind wußte nicht, warum es litt, noch warum es weinte. Es wußte nicht einmal, daß es ein Herz hatte.

Es starrte über die kahlen Bäume und die leeren Felder und die dunkle Nacktheit der Erde – und wie es sehnte, horchte und suchte, da löste es sich wie Tropfen vom Himmel, erst nur zart, leise und hell, Heller und immer Heller, – Glockenlieder, kristallene Laute, glitzernde Frühlingsklänge; – Trostschimmernd perlten die Töne nieder, – da sprengte die Sehnsucht das Herz.

Das Kind warf sich zur Erde. Küßte den blassen Keim unter der feuchten Scholle. Der Keim schlürfte seine Tränen, und aus den Tränen stieg die Frühlingsahnung, weißleuchtend, Hoffnungsmilde, und strömte Duft und Licht und Farbe.

Und das Mädchen umklammerte den Baum, schmiegte sich berauscht an das erwachende Leben. Und ihre Arme wärmten seinen Stamm, und im Mark stiegen und drängten die Säfte.

Frühling! Bist du es wirklich!? – –

Dann sank die Sonne.

»Josa! Josa!«

Man hat gerufen? –

»Josa! Josa!«

Sie springt auf. Die letzte Träne zersprüht. Sie starrt einen Augenblick in die Abendsonne – lacht und stürzt mit ausgebreiteten Armen dem Lichte entgegen.

»Josa! – Josa!« – – – – – – – – – – – – – – –

*

Als Josa fünfzehn Jahr alt war, schrieb sie ihr erstes Gedicht.

Ein Sonntagmorgen. Großmutter und Martin waren zur Beerdigung der Tante Agnes nach Kitzingen gefahren. Josa allein zu Hause.

Schon das Alleinsein war so wunderbar neu, so prickelnd behaglich. Und nun der Morgen mit seinem zarten Licht, seinen duftblauen rinnenden Schatten, der silbermatten Ferne, drin alles unwirklich glänzte und flimmerte. Der Kontrast zwischen Nähe und Weite schroff, unvermittelt. Die Wiesen und Büsche mit zartgrünen Konturen und plötzlichen schweren Tiefen und die Bäume wie dumpfe Silhouetten, mit dunklen scharfrandigen Stämmen, daran die Nacht in die Erde zurückkroch. Aber über allem wache, weißglitzernde Feuchtigkeit.

Als Großmutter und Martin fort waren, hatte sich Josa mit einem Buche auf die Terrasse gesetzt. Die weißen Tauben kamen auf den Tisch, nickten und pickten. Manchmal fiel ein feines dottergelbes Blatt von den Akazien, dann auch eines in das Wasserglas. Schaukelte wie eine Muschel hin und her, drehte sich leise im Bogen und legte sich an den Rand. Durch die großblätterigen Fliederbäume zogen die Glockenlaute und kreisten und rankten wie silberne Arabesken und schimmernde Kristallgewinde durch die Morgenstille.

Jeder Sommersonntag hatte hier oben im Pfauenhofe dasselbe Gesicht, denselben von weichen Lauten und weichem Licht umtosten Frieden.

Aber die Einsamkeit störte heute Josa. Die geschäftige Stille ringsum zerfaserte ihre Aufmerksamkeit. Erst schaukelte sie das Buch auf der Tischkante. Dann klappte sie es zu.

Sie stand auf.

Ah, sie war allein! Sie schüttelte Arme und Kopf in üppiger Freude. Dann sah sie mit weitem Blick, als wolle sie alles mit den Augen umarmen, von der Terrasse über die Ferne, dann im Garten am Hause hoch hinauf, als sehe sie dies alles heute zum ersten Male.

Darauf ging sie hinein.

Durch alle Zimmer, durch alle. Und alle Türen ließ sie hinter sich weit auf. Aber in Großmutters Zimmer trat sie mit gefesselter Energie, ganz wie Kinder, die nicht zeigen wollen, daß sie sich eigentlich fürchten. Sie glättete eine Kommodendecke, öffnete das Fenster, setzte sich in den schwarzen Lederstuhl, aber alles mit übertriebener Sicherheit, die noch im Keimgefühl mit der Scheu kämpft. Dann ging sie wieder zurück, vor dem Pfeilerspiegel und dem Spiegel des Porzellanschrankes verbeugte sie sich tief. Darnach wurde ihr Schritt gemessener. Der Nacken steifer. Und immer noch im Weitergehen mit den Gedanken am Spiegel, behielt ihr Gesicht den Ausdruck beherrschter Ordnung. An allem, was glänzte, blieb sie stehen. Ein Briefmesser aus Cuivre poli schwang sie hoch und stieß es hart nieder, daß der Glanz durch die Luft zischte. Den kupfernen Aschenbecher rollte sie über den Tisch, er fiel auf der andern Seite hinunter, sie ließ ihn liegen. Dann hauchte sie über die gelbgrünen tiefblanken Messingtüren des Ofens. Am Bronzefuß der Lampe schnitt sie Gesichter und lachte über die Verzerrung auf dem buckligen Metall.

Vor dem schillernden Pfauenbukett in der Ecke stand sie eine Weile. Dann griff sie mit beiden Händen zu, zog so viel sie fassen konnte heraus, sah sich einen Augenblick um und schleuderte alle Pfauenfedern durch das Zimmer, über Stühle, Sessel, Diele. Zuletzt griff sie nach dem Rest und streute ihn rings um sich und in ihr Haar und schob sich einige in die Ärmel und in den Nacken. Ein wildes Farbenfunkeln ätzte nun aus allen Ecken und Tiefen die Stille des Zimmers. Schlangengrün und Goldkäfergrün, und violettes Braun, und violettes Gold und Blau. Josa stand in der Mitte des Zimmers, die Arme niederhängend und den Kopf, sie schluckte nur manchmal, sonst schwieg alles an ihr, betäubt von den Farben,

Unter der Diele begann ein Hufstampfen und Poltern. Die Ställe lagen in den Kellern des Hauses und unter der Terrasse.

Das Mädchen richtete sich auf, begann zu wiehern und lief hinaus, durch das Gras, über ein Blumenbeet zur Terrassenbrüstung.

Die Töne hatten sich gekräftigt. Ein lichtsatter Sommertag starrte groß, hell, mit unbarmherzig weitgeöffneten Augen über die Felder und Höhen.

Würzburg, die Festung Marienberg, das Käpelle, und im Leistengrunde die weißen und roten Mauern und Dächer lagen zum greifen nahe.

Dicht unter ihr flirrten und zitterten weiße Schmetterlinge über den Klee, ein Lufthauch trieb graues Rieseln im Zackenlauf durch das Grün.

Josa stützte die Hände auf die warmen Steine. Ihre Augen preßten sich in die Sonnenhelle. Ihre Finger zitterten. Ihr Herz zitterte. Alles zitterte an ihr. Sie bog sich weit vor. Immer das Grün, immer die Schmetterlinge, sie konnte die Augen nicht mehr lösen, sie war wie angebunden an die schimmernden Punkte. Sie starrte und starrte, und als sie in der Ferne zergingen, starrte sie immer noch.

O das war so süß! Sie preßte die Arme fest an die Hüften. Was war das nur? So süß! So berauschend!

Die Füße pochten kurz und energisch. Es war in ihrem Blute ein Schluchzen und Lallen, das stieg wie gequollene Perlen hoch und tropfte üppig und glutträge in ihr Herz. Der Atem sog und stieß krampfartig. Die fessellose Unruhe, in der jeder Nerv schwelgte, spannte alle Sinne zu schärfstem Empfinden. Es war nicht mehr ein Leben – hunderttausend Leben rauschten durch ihren Körper. In jeder Ader drängte das Entzücken. Ein Empfinden, als ob sie hochgeschleudert über allem schwebte, ohne Bewußtsein für das, was wirklich, und sie mit schroffen Formen und derber Schwere umgab. Alles in kreisenden Wallungen, in wogender Weißglut.

Mit hastiger Hand wühlte sie in der Tasche. Ein altes Briefkuvert – ein winziger zerkauter Bleistift, die ersten zwei Strophen im Fluge mit gejagten, zerflatternden Buchstaben.

Dann sann sie einen Augenblick. –

Es war gar nicht möglich, das alles festzuhalten. Es tauchte auf und versank, blendend wie Sonnenlichter und zerrinnend wie Sonnenlichter. Sie klammerte sich mit Mühe an die Gedanken, um sie zum stehen zu bringen. Aber wenn sie einen faßte, in Worte fing, zerstäubte der weiche Schmelz der Empfindung an der engen linienbegrenzten Form des Ausdruckes. – Doch endlich stand es auf dem Papier.

Ein kleines scheues Lied, ein Gemisch aus Seufzern und Jubellauten.

Es plauderte von weißen Blüten, von Frühlingssehnsucht und Winterleid. Als Josa Gerth dieses Gedicht vom Schmachten eines kranken Herzens nach Lenz und Blüten schrieb, brannte die Julisonne und ihre Wangen leuchteten in kräftiger Gesundheit.

*

Gleich am Anfang des Hohlweges, der von der Heidingsfelder Chaussee zum Pfauenhofe aufführt, lag links noch vor der Buchenhecke eine ganz neue Villa im gotischen Stil. Einen Sommer lang war sie bewohnt gewesen, aber seitdem blieben die Jalousien geschlossen. Nur in der Gärtnerwohnung im Erdgeschoß standen im Juli Geranien und Flocks an zwei Fenstern, im Winter ein Futterkasten für Vögel. Die Ranachs hatten ihre Flitterwochen darin verlebt. Als er in Nizza starb, kehrte die Witwe nicht mehr nach Würzburg zurück. –

Josa hatte ihren Gummibaum zu Ranachs Gärtner gebracht, er sollte ihn umsetzen. Er klopfte eben mit der Scheuerfrau ein paar Teppiche, und oben im ersten Stock waren die Fenster geöffnet. Die weißgetünchten Scheiben weit zurückgeschlagen und seidene Vorhänge mit reichem glänzenden Rankenwerk und schlaffe Spitzengardinen hingen über die niederen Fensterbrüstungen. Die Sonne zuckte in scharfen Rissen auf der Seide und weich vom bleichen Gewebe. Manchmal huschte drinnen von Bronzen und Schnitzereien ein scheuer Lichtblitz, dann war es, als zucke das leblose Dunkel mit den Wimpern.

Josa empfand immer ein neugieriges Mitleid mit dem öden Hause.

Der Gärtner führte sie hinauf und zeigte ihr die Zimmer. Ihr Blut prickelte, als sie durch die glatten, üppigen Räume schritt. Erst durch eine malvengrüne Halle, eine Art Speisesaal mit wuchtigen Büffets, steifen Stühlen und grauem Kamin. Dann durch einen Salon mit altgold Plüsch und kupferfarbenem Damast und einen andern, wo alles meerblaue Seide und zwischen graziösen cremefarbenen Säulen in Blattpflanzen und Blumen ein Bassin aus Kristall und Bronze. Dann weiter – plötzlich schrak sie – stand still, zwischen heliotropfarbenen Portieren eine hohe Frauengestalt.

Der alte Mann ging ruhig hinein: »Das ist die Gnädige, schön, eine schöne Frau.« Er leckte am Finger und wischte Fliegenschmutz von der Rahmenrosette. »Ein großer Maler hat's gemalt. Ich kann's nit lesen, da steht's.« Dann antwortete er gegen das Fenster: »Ja, ja, ich komm' schon. – Sehen Sie sich das nur ruhig an. Die Dorette ruft wegen die Teppich'. Setzen's Ihne einstweilen, ich komm' glei' wieder.«

Ein lebensgroßes Pastellbild. Eine Dame in heller Gesellschaftstoilette auf blaublumigem Grunde. Zuerst fesselte nur der Kopf, die volle Kraft der Beleuchtung und der Farben sammelte sich in diesem in den Nacken gebäumten Kopf. Von ihm strömte Macht und Bewegung über den ganzen Körper.

Die Figur bis zu den Knien, ganz von der Seite, schritt im Rahmen vorbei. Der Kopf leicht umgewandt unterbrach das Vorwärtsschreiten. Leise keimende Aufmerksamkeit hemmte jede weitere Regung. Ein hauchzarter Gazeschleier sprang von der linken Schulter in pfeilscharfen blendenden Bruchadern über die energisch geschweifte Rückenlinie, schlang sich tändelnd über den vollen, nackten Oberarm und strich zitternd am gesenkten Arme nieder. Die Hand hielt einen Fächer. Die Knöchel der Mittelfinger griffen in den Schleier, der Zeigefinger krümmte sich zwischen die gespreizten Fächerstäbe. Ein Bukett von Seerosen und wirren Ranken auf der Wölbung der Büste machten die Brustform übermäßig schwellend. Das cremematte Seidenkleid bauschte sich im Gehen. Man fühlte das knappe Anschlagen der Kniee an den starren, knisternden Stoff, und in der Plötzlichkeit einer schrägeinknickenden Falte vibrierte noch das rauschende Stoßen der Schleppe.

Josa, in stockender Befangenheit, wagte kaum der fremden Frau ins Gesicht zu sehen. Sie kam sich fast zudringlich vor.

Aus dem kühnen Ausschnitt der Taille löste sich sanft der Nacken. Mattgelb, von jenem träumerischen Gelb, wie es in der süßen Dämmerung bleicher Teerosenblätter schlummert. Aber gegen Hals und Gesicht aufsteigend dunkelte es allmählich, nur an der Schläfe, am Ansatz des stumpfen nachtschwarzen Haares und auf der Stirn zwischen den schwarzen Brauen tauchte es nochmals auf, aber hier wurde es von bläulichem Geäder gekühlt. Die etwas zu starke Oberlippe lächelte. Die rundgeöffneten großen Augen lächelten. Und zwischen Wangen und Nasenflügeln, der Schatten aus Bronze und Rosen und die freie Rundung der Brauen und die gefesselte Rundung des Kinns, auch sie lächelten. Aber man fühlte das Lächeln nur. Man sah es niedergedrückt, gedämpft wie Farben und Formen auf dem Grunde zitternder Wasser.

Josa sah das nicht alles mit diesen Einzelheiten, wie es Koppay aufgefaßt und wiedergegeben hatte. Sie atmete nur die Seele, die aus dem Zusammenwirken all dieser Feinheiten strömte. Eine Beklemmung staute in ihr das freie Bewundern. Es jagte abwechselnd ein kalter Luftstrom und ein schwüler Luftstrom, wie taureine Keuschheit und wirrer Sinnenrausch über ihr Herz. –

Seit diesem Tage fühlte sich Josa nicht mehr einsam mit ihren Gedanken. Glaubte sie sich unverstanden, so dachte sie an dieses Bild. Mit der ganzen Leidenschaft einer Fünfzehnjährigen sehnte sie sich nach ihr. Sie hatte sich im Geiste alles ausgedacht, was sie ihr sagen und klagen wollte. Sie wußte genau Wort für Wort, was ihr Idol antworten würde. Sie errichtete ihm in ihrem Herzen einen Altar, und grub auf seine Tafeln mit goldenem Griffel strenge begeisterte Vorsätze.

In den ersten Tagen kehrte sie im Geiste immer vor das Bild zurück. Solange seine Linien noch fest und sicher in ihrer Erinnerung standen, hielt auch jene Beklemmung, dieser kniebeugende Respekt in ihr die Oberhand. Aber dann mit der Zeit verlor es seine formgezwungene Ruhe, nun trat es aus dem Rahmen und folgte ihr, nicht mehr in starren, gefesselten Umrissen, sondern als schwanke, schattengestaltige Idee.

*

Josa war in ein Pianofortegeschäft gegangen, um nach einem Klavierstimmer zu fragen. Im Nebenzimmer des Kontors wurde gespielt. Sehr geläufig und hurtig und immer von einer Melodie zur andern springend. Man schrieb ihr die Adresse auf. Josa horchte indessen und verfolgte die Schneespuren eines Damenfußes, die bis zur Schwelle des nächsten Zimmers führten.

Dann brach das Spiel jäh ab. Unter der Türe eine hohe Gestalt. Josas Gedanken knickten zusammen. Ein lähmender Schreck sog ihr alle Kraft aus den Gliedern – – – –: das war ja Frau Ranach!

»Vorzüglich, das Instrument ist vorzüglich. Haben Sie gehört, Herr Jäger, – meine kleine Komposition? Nun es ist ja nicht viel, aber ich denke doch, sie wird gefallen.

Was ich Sie fragen wollte, – können Sie mir sagen, wo der Peterkirchplatz ist? Kennen Sie Fräulein Paula Becker? Ja? Sie ist Soubrette hier, am Theater. Wir sind sehr befreundet.« Sie knöpfte ihren Samtmantel zu. »Gott, schon vier Uhr, ich muß mich eilen.« Er könne es ihr schon beschreiben, aber es sei schwierig zu finden, er überlege eben, was zu tun sei, er könne ihr leider im Augenblick niemand mitgeben – –

Josa verneigte sich.

»Wenn Sie erlauben, ich mache mir ein Vergnügen, ich kann Ihnen den Weg zeigen.« –

Josa wußte selbst nicht, was ihr diesen Mut gegeben hatte, sie bestaunte ihre eigene Kühnheit.

Die Dame schien überrascht:

»O, Sie sind sehr liebenswürdig, aber ich weiß nicht – –«

»O ja, ich tue es gern.«

»Darf ich die Damen vielleicht bekannt machen: Fräulein von Auer – Fräulein Gerth. Das Fräulein wird morgen im Schrannensaal ihr Konzert geben.«

Also nicht Frau Ranach. Natürlich nicht. Sie mußte viel älter sein. Das Fräulein war kaum zwanzig. Aber diese Ähnlichkeit!

Dann gingen sie durch die Straßen. Es war Josa angenehm erregend, neben einer Künstlerin zu gehen. Es war, als ob etwas wie Lorbeerduft auch auf sie überströme.

Unterwegs zeigte sie ihr den Weg, den sie morgen zum Schrannensaale nehmen müsse. Dabei sah sie selbst alles mit fremden, neuen Augen an.

»Werden Sie morgen auch mein Konzert besuchen?« Sie hoffe, ja. Wenn ihr Bruder sie abholen könne. Sie wohne so weit von der Stadt. »Wenn Sie hier bleiben, besuchen Sie unseren Pfauenhof vielleicht auch einmal.«

»O ja, gerne.«

»Wir wohnen so schön auf dem Berge. Man könnte unsere Aussicht auch eine Sehenswürdigkeit Würzburgs nennen.«

»Ja wenn ich Zeit habe, verspreche ich Ihnen, übermorgen zu kommen. Meine Freundin wird wohl den Weg wissen. Sie erlauben doch, daß sie mich begleitet? Und kommen Sie morgen nur ins Konzert. Ich freue mich, unter den vielen Menschen gleich eine Bekannte zu wissen, und dann klatschen Sie doch auch recht tüchtig.« Sie lachte und reichte ihr die Hand.

»Besten Dank, mein liebes Fräulein.« – »Auf Wiedersehen!« – »Adieu!« –


Josa war unter den ersten, die kamen.

Es war noch Dämmerung im Saale. Die wenigen Leute sprachen viel ungenierter und eifriger. Dann füllte es sich allmählich. Man wünschte, daß es heller würde, und wurde ungeduldiger und gereizter. Plötzlich wuchsen die Gasflammen, reckten sich hell auf, und herrischer Glanz schwoll durch den weiten Raum. Es wurde stiller. Die Stimmung freier. Das Licht tat allen wohl.

Einige Minuten nach acht glitt aus den Portieren eine schlanke weiße Gestalt.

Josa zog betroffen den Atem tief ein. Aber das war Frau Ranach. Sie hatte heute immer gezweifelt. Die barocksten Ideen waren ihr aufgestiegen. Wenn sie unter anderem Namen reiste. Wenn sie unerkannt bleiben wollte!

Dies Crème-Seidenkleid, wie auf dem Bilde. So hoch und weiß und vornehm.

Nun neigte sie sich. Wie geschmeidig! Wie eine Lilie.

Auch die Menge klatschte ihrer Schönheit begeisterten Willkomm.

Sie ließ sich am Flügel nieder, rieb leicht mit dem Taschentuch die Hände, wischte über die Tasten, rückte zurecht, bog den Oberkörper vor und begann.

Es war gar keine Mühe, gar keine Anstrengung, gar nicht als ob sie die Töne greifen und wecken müsse. Sie koste die Tasten, schmeichelnd, lind, wie sich die Luft auf zarten Maiengräsern wiegt, und Düfte und Nachtigallenlaute zerrannen in einer Stimme. Dann wieder hob sie beschwichtigend die Hand, ließ einen Ton verklingen, andere flatterten nach, zogen in hellfunkelnden Ketten empor, in lockenden Echos zerschmelzend. Die Luft wiegte sich. Sie schuf Sonnenschein. Traumweichen Glanz. Und dann – ein übermütiger Schlag, tollwirbelndes Lachen, immer, immer wieder – schneller, wilder, atemlos, wehendes Haar, rasende Jagd. Sie stachelte die Töne, peitschte, – Flucht, Verfolgung – unbändige Lust, plötzlich – Schwäche, zitternde Ermattung, süßtaumelnd, – ein Bäumen, Aufraffen – klaffende Tiefe, verzweifelter Sprung – Leere, Einsamkeit, kreisende Stille.

Es wurde geklatscht und geklatscht und wieder geklatscht, und der Saal zitterte im Beifallssturm. –

Dann stand Josa mit den Menschen auf, ließ sich durch das Gedränge schieben, – an der Treppe stand sie einen Augenblick. Sie sah die Menschen hinuntergehen. Sie setzte auch einen Fuß vor den andern und ging hinunter. Sie fühlte wohl, daß sie gestoßen wurde, daß man auf ihr Kleid trat, sie ging ganz langsam, ganz langsam am Geländer entlang. Sie fühlte alles, was um sie vorging, viel deutlicher und gleichsam aus weiter Ferne. Ihre Gedanken lauschten immer noch dem Spiel und starrten der weißen Gestalt nach, und immer wieder folgten sie ihr nach den Portièren. – – – –

Und dann am andern Tage war sie mit ihrer Freundin auf den Pfauenhof gekommen. Ein Herr begleitete sie. Sie stellte ihn als ihren Vetter vor.

Großmutter Gerth ließ gern ihren Hof und ihr Haus bewundern. Martin war im Arbeitskittel und blieb dem Besuche fern.

Man sah sich die Stallungen an, die Dörrmaschine und die Brieftauben. Nach einer Stunde verabschiedeten sich die Damen wieder. Josa fragte, ob sich Fräulein Auer nicht mal das Käppele ansehen wollte.

Oh ja, das hätten sie auch vor, und zwar jetzt gleich; es sei nicht zu weit von hier.

Dann wollte Josa sie begleiten, wenn es die Damen erlaubten. Fräulein v. Auer bejahte sehr, sehr rasch. Ihre Stimme hatte den hastenden Eifer, mit dem sich die augenblickliche Verlegenheit schminkt.

Ihre Freundin errötete flüchtig, und der Herr meinte: »Aber ist es nicht zu naß?«

»Nein, nein,nein. Kommen Sie nur, Fräulein Gerth.« Fräulein v. Auer nahm Josas Arm. Man konnte nur zu zweien im Hohlwege gehen. Sie gingen voran.

Josa war durch diese unvermittelte Vertrautheit etwas eingeschüchtert. Aber dann, als die junge Künstlerin immer lachte und plauderte und neckende Bemerkungen machte über die Schreie des Pfaues, über das Echo, über die Signalübungen drüben von der Festung, da schmiegte sich Josa enger an sie und wärmte sich an ihrem zündenden Wesen.

Sie kamen an der Villa Ranach vorbei. Josas aufjauchzende Begeisterung zerschmolz alle Zurückhaltung und Besonnenheit. Sie erzählte in leisen glücklichen Worten, wie jene Frau auf dem Bilde dort drinnen ihr Ideal geworden, und wie ähnlich Fräulein Auer ihr sei. Als sie sich so lebhaft schildern hörte, trat das Porträt deutlicher in schärferen Linien in ihr Gedächtnis. Sie fand nun, daß es doch anders sei, daß sie sich in der Ähnlichkeit täusche. Je klarer sie sich der Verschiedenheit wurde, desto mehr verstärkte sie ihre Lebhaftigkeit fast bis zur Übertreibung, denn sie gefiel sich im Schmuck der lodernden Begeisterungsflammen.

Fräulein v. Auer lachte schmetternd auf: »Hören Sie, Anton, ich soll jener Ranach ähnlich sehen, sechsfache Millionärin.«

Der Spott tat Josa weh. Sie bereute, gesprochen zu haben. Aber dann lachte sie mit. Nannte sich empfindlich. Dann schritten sie schweigend weiter.

Der Tag war wie alle Märztage. Ein Zwittergeschöpf. Nicht Sonnenschein. Nicht Regen. Ein weißer Himmel mit weißem Licht. Zwischen den Steinen die Erde noch schwarzfeucht vom Regen. Hie und da große, braunspiegelnde Lachen. Die Luft reingewaschen, glasklar. Die Farben nüchterner als im üppigen Sonnenlicht. Die Formen wurden knapper und bestimmter. Auf den Treppen, die zur Kapelle auf den Berg führten, spielten einige Kinder, rutschten am Geländer herunter, einige betende Frauen knieten auf den Stufen, den Rosenkranz in Händen und schläfrig murmelnd. Terrasse um Terrasse bis zum Berggipfel. Auf jedem Terrassenplan drei tempelartige Nischen, drinnen eine Steingruppe, eine Szene aus der Leidensgeschichte Christi von Pilatus bis zur Auferstehung.

Josa erklärte die verschiedenen Bildnisse. Fräulein v. Auer war stiller geworden, achtete nicht darauf und starrte immer auf die schmalen, olivfarbenen Moospolster zwischen den Wegsteinen, nur hie und da mit gefühllosen Augen auf die Umgebung. Fräulein v. Auers Freundin und ihr Begleiter machten in leichtfertigem Ton witzige Bemerkungen über den Gesichtsausdruck der Figuren.

Josa war noch kindlich gläubig. Sie hatte noch immer jene demütige Scheu vor dem strengen Schweigen, das diese Bilder umgab. Es lag für sie stets Sonntagsfriede und Morgenreinheit auf diesem Wege, und ihre Gedanken gingen in Festkleidern mit Palmen und zitternden Kerzen, demütig huldigend. Sie schauerte vor dem Gelächter und dem Hohn, womit jene Menschen die Weihe verscheuchten.

Eine Treppe tiefer hinter ihnen ertönte ein langgezogenes schwerschleppendes Singen. Ein alter Mann, den Hut in der Hand, an jedem Arm eine blecherne Milchkanne, klomm die Stufen herauf. Fräulein v. Auer horchte auf, lächelte und summte auch mit.

Der Herr deutete auf eine neue Gruppe.

»Nein, sehen Sie nur, dieser römische Landsknecht sieht so schläfrig aus, als ob er Tran getrunken hätte!«

Fräulein v. Auer lacht, aber als sie Josas Gesicht bestürzt sieht, bricht sie ab, halb beschämt, halb unmutig, klopft den Herrn mit dem Schirm auf die Schulter: »Spötter Sie!« –

Doch nach einer Weile vergißt sie sich und spottet selbst; und Josa – wie von ihr bezwungen, lacht auch. Sie fühlt sofort mit beengendem Unmut das Häßliche ihres Lachens, aber sie muß lachen. Die Künstlerin wird plötzlich still und nachdenklich. Josa empfindet einen leisen Schmerz, einen feinen Sprung, der ihre Zufriedenheit mit sich unsicher macht.

Und dann standen sie oben auf dem freien Platz vor der Kapelle und sahen unter sich Stadt und Fluß in rosiger Abendstimmung. Josa war plötzlich ganz verändert. Die Aussicht mit ihren lebhaften Farben, von der starren, kräftigen Nähe bis zur blassen, fliehenden Ferne, brachte alle bedrückenden Gedanken zum Schweigen. Sie sah nur und empfand. Aber ohne Erinnerung, ohne Horchen auf ihr Ich. Ihre Augen tranken nur Farbe.

So hatte sie das Wasser noch nie gesehen, so bunt, so wechselnd. Der Himmel badete all sein Leuchten darin. Ein weiches Silberblau und rauchdüstres Violett und matte, bleierne Wolkennebel, durchglommen von lüsternem Weinrot, wie Frauenlachen. Aber dann plötzlich blank wie Metallspiegel und nun wieder schillernde, stechende Irisfarben, giftig und tückisch, das ruhige Licht mit wirren Spiegelungen ätzend. Die Sonne sank. Gelbbraune und graue Töne glitten kühl über die Stadt, über den Höhen am Horizont schlang der Abendschein flackernde Rotglut. Zwischen den Bergeinschnitten quollen Lichtströme von Westen nach Osten und füllten die Täler mit goldenem Dunst und sich müde dehnendem Schattenblau.

Josa empfindet alles warm und tief. Sie fühlte sich in diesem schweigenden Zerrinnen und allmählichen Loslösen, in diesem weichen, haltlosen Dämmern so felsenstark, so zum Weinen glücklich.

Fräulein Auer war doch nicht so, wie sie erwartet hatte. Sie war nicht anders als die übrigen Menschen. Sie hatte sich blenden lassen. Josa kam sich im Augenblicke viel vollkommener, höherstehender vor, und ihr Ideal lag eine beträchtliche Stufenzahl unter ihr. Aber sie wußte nicht, woher sie den Mut hatte, sich dies einzugestehen.

Warum war Fräulein Recker nicht mit den andern in die Kapelle gegangen? Josa wandte sich nicht zur Seite, aber sie wußte, daß Fräulein Recker neben ihr auf der Mauerbrüstung saß und in einem Notizbuche blätterte. Sie hörte hinter sich das Öffnen der Kapellentür. Fräulein Recker erhob sich: »Nun, da kommt ihr ja endlich.«

Auch Josa fühlte, daß sie sich umwenden müsse. Es war ihr fast schwer, sich aus der Starre loszureißen. Und dann, als sie ihnen entgegenging, mußte sie sich die Wirklichkeit erst wieder aufbauen, und ihre Aufmerksamkeit tastete unschlüssig umher.

Fräulein Auer hatte den Arm ihres Begleiters genommen. Sie lachten und sprachen im Flüsterton, als wenn sie noch in der Kirche wären.

Wie das da drinnen komisch gewesen wäre, Arme und Beine aus Wachs in Glasschränken, sogar Krücken und Stöcke, – nur schade um das schöne Wachs! –

Josa fiel die Vertraulichkeit auf, mit der jener Herr zu Fräulein Auer sprach. Und als dann die Künstlerin ihrer Freundin etwas ins Ohr flüsterte, kam sie sich überflüssig vor. Sie wollte sich ihre feierliche Stimmung nicht in Oberflächlichkeit zerpflücken lassen. Sie sehnte sich, allein zu sein, und wunderte sich nicht im geringsten über die plötzliche eigentümliche Sehnsucht.

Sie sagte, sie möchte den oberen Weg über den Berg nach Hause nehmen. Man verabschiedete sich.

Fräulein v. Auer mit gesteigerter Herzlichkeit, als habe sie irgend etwas gut zu machen.

Dann blieb Josa allein zurück. Eine Weile hörte sie noch auf den Stufen unten die lachenden Stimmen, plötzlich begann es zu läuten, und der Glockenton schwemmte alle Geräusche fort.

Morgen war ein Festtag. Die Glocken riefen es weit hinaus. Josa lauschte. Wie das sich wälzte und wühlte und aneinander prallte, über- und untereinander. Drohend schwoll es an und rollte brausend über die Stadt. Dumpfes Tosen, ein Stöhnen, ein Ringen, hie und da ein schriller Aufschrei. Aber in allem stand ein einzelner summender Metallton, wie eine langgespannte, schwirrende Saite. Josa fühlte sich fast erdrückt, hier so nah unter den Glocken. Die Töne preßten sie. Es durchschüttelte ihren Körper und trieb das Blut heftiger durch die Adern. Jeder Laut ein Bild. Eine Erinnerung nach der andern schreckte auf, sah sie mit großen Augen an und jagte davon. Die Phantasie tanzte, wirbelte in tollen Sprüngen, von den Tonstimmen angefeuert. Allmählich begannen ihre Glieder zu schmerzen. Müde Sehnsucht zerrte an ihren Nerven.

Sie trat in die Kirche. Hier schlug das Glockengetümmel in ferner Brandung gedämpfter an die Stille. Sie setzte sich und starrte auf die Altarkerzen und ließ Ohr und Augen schweigen.

Die zerknirschte Weihrauchluft, die brennende Kälte der Mauern, die goldzüngelnden Kerzen, das steife, strotzende Bildwerk, diese erzwungene Ruhe in Formen und Linien, es störte sie. Es lag wie Feindseligkeit in der Luft, und dann trug sie immer noch das Spottgelächter in den Ohren. –

Der Engel dort sah aus, als ob er im Gänsestall gemästet worden wäre. – – – Sie prallte vor sich selbst zurück und zwang sich, ihre Gedanken zu zügeln. Dann saß sie regungslos mit ängstlich sichselbstbehorchenden Gefühlen. Dabei hörte sie genau, was um sie vorging. Ein Husten, hohles Echo in der Kuppel, in wartenden Pausen stumpfes, ruckweises Stoßen eines Uhrwerkes und alles umhüllt von stummarbeitendem Schweigen.

Ein Mädchen kam und ging durch eine Seitentür. Im Kreuzgang klirrte ein Schiebefenster. Dann kehrte sie wieder zurück und steckte eine Kerze auf ein eisernes Gestell. Nun ging sie durch das Schiff der Kirche, erst hart klappernd auf Steinfliesen, dann dumpf dröhnend auf bretterbelegtem Boden.

Josa betrachtete die Unmenge brennender Kerzen.

– – Schade um das schöne Wachs. Das Blut brannte ihr im Gesicht. Sie hatte sich wieder vergessen. Sie stand langsam auf. In einem Nebengang waren Betstühle vor heiligen Bildern. Sie kniete nieder, und nun flehte sie zu Gott und zu Christus, und zu allen, von denen sie wußte, daß sie Macht über ihr Herz hätten. Sie kroch mit demütigen Worten im Staube. Es tat ihr wohl, sich mit Anklagen zu geißeln. Es lag eine reinigende Freude darin, Tränen stechendheiß auf Wangen und Lippen brennen zu lassen, seinen Leib Streichen darzubieten, die man deutlich zu fühlen glaubte, von denen man aber noch deutlicher wußte, daß sie niemals wahr würden. Als sie alles zertreten zu haben meinte, da erhob sie sich, erquickt von ihren Sünden.

*

Schon im Vorjahre im Herbst war Josa mit einem Fräulein Starke bekannt geworden. In Guttenberg, bei einer Waldpartie. Man hatte Kränze gemacht, Lieder, Kanons gesungen, und eine der Damen wurde dann gebeten, etwas vorzutragen. Man sagte, daß Fräulein Starke gut deklamiere, man bat, bis sie nachgab. »Die beiden Grenadiere.« Sie schilderte mit reichfarbiger Betonung. Sie zeichnete mit der Stimme wie mit einem Griffel, Strich um Strich. Man sah alles, die schlaffe Todesmüde der beiden Tapferen, die sich bäumende Sehnsucht, den steilen Vaterlandsstolz.

Das machte einen tiefen Eindruck auf Josa. Ihre Begeisterung rauschte auf. Wer die Dame sei?

Eine Klavierlehrerin, ein alleinstehendes Fräulein. Sonst recht gediegen ernst, aber heute fast altjüngferlich empfindsam.

Wie häßlich die Menschen waren. Das war die Wärme, nach der sich ihr Herz krank sehnte. Sie nahm sich vor, mit ihr bekannt zu werden.

Sie nahm Klavierstunden bei ihr. Aber sie war recht enttäuscht. Fräulein Starke war ganz freundlich, lieb und nett zu ihr, doch sie hatte ganz etwas anderes erwartet.

Die Liebe junger Menschen ist zu anspruchsvoll. Sie glaubt, wo es ihr gerade gefällt, wie der Blitz einzuschlagen, dort müsse auch alles gleich in Flammen ihr entgegenspringen.

Josa hatte die stille, ebene Art ihrer Lehrerin bald überdrüssig. Sie nannte sie kalt und berechnend und fühlte sich unbehaglich in ihrer Nähe. Als der Winter kam, gab sie ihre Stunden des weiten Weges halber, wie sie sagte, auf. Im Frühling hoffe sie wieder zu kommen. Aber sie wußte, während sie das sprach, daß sie es nicht tun würde. –

Josa war keine von den Naturen, die lange ohne Stütze leben können. Sie war zu weich für alle Eindrücke, die das Weltgeräusch in sie eingrub.

Es lag jetzt wieder ein Idealbild entseelt und nüchtern vor ihr. Sie war wieder allein, und um sie kreiste stumme, graue Reizlosigkeit. In solchen öden Augenblicken ist das Herz so genügsam. Das kärgste Lächeln ist ihm Glückssonne.

Der Wald fiel ihr ein, und das Gedicht und Fräulein Starke. Und aus den Urnen der Erinnerungen stieg warmer Duft und machte sie wieder lebensgläubig. –

Es hat immer etwas Wohltuendes, wenn man ein Haus betritt, in welchem man lange nicht gewesen. Als Josa die vielen Treppen zu Fräulein Starke emporstieg, fühlte sie sich behaglich und geborgen. Schon der Duft, dieser Petroleumgeruch, den die stets braunglänzenden Stufen ausströmten, der kühle Porzellangriff der Klingel, der rote Vorhang an dem gerippten Glase der Entreetüre, der sich immer etwas hob, wenn drinnen eine Tür ging, alles umhüllte sie sicher und beruhigend.

»Fräulein Gerth, – das ist aber schön, mein Fräulein, daß Sie sich wieder sehen lassen.« Und Fräulein Starke streckte ihr beide Hände entgegen.

Josa preßte die Zunge gegen die Zähne, um ihre Erregung zurückzudrängen. Wenn man gelitten hat und Narben in sich trägt, ist man so empfindlich, auch für die zarteste Berührung.

Die vielen Treppen hätten sie wohl außer Atem gebracht, sie möchte sich setzen. Es sei auch so eigentümlich warm heute, fast wie ein Sommertag. Dann dankte sie für die Veilchen und Schlüsselblumen, die ihr Josa mitgebracht, für sie waren es die ersten. Sie wolle ihnen gleich Wasser geben. »Sie entschuldigen wohl einen Augenblick.«

Josa hatte sich gesetzt. Es war dämmrig in dem kleinen Zimmer. Die gelben Tuchjalousien waren herabgelassen. Ein Streifen der Spätnachmittagsonne stieg weiß schimmernd in den Falten der Gardinen hoch und brach sich in der Vergoldung der Portièrenstange. Es lag glänzend auf den kastanienroten Möbeln und auf dem lackierten Holz, wie stille sinnende Gedanken.

Das Fräulein kam mit einer Vase zurück. »Nun erzählen Sie mir, wie ist es Ihnen den langen Winter durch ergangen, liebes Fräulein?« – Dann sprachen sie über die Familie Vogt. Den ältesten Sohn hatte Fräulein Starke in Leipzig kennengelernt. Die Familie war mit Gerths eng befreundet. Josa erzählte, daß Onkel Vogt sie schon längst besuchen wollte, seit dem Tode der Eltern sei er nie mehr bei ihnen gewesen.

Fräulein Starke antwortete und fragte und ordnete dabei die Veilchen. Allmählich sprach sie langsamer, zielloser, nur noch Reste zerkrümelter Aufmerksamkeit.

Auch Josa sprach gedehnter. Ihr Blick lehnte an den Fingern, die sich spreizten und krümmten, eine Blüte beiseite bogen und andere einschoben. Ihre Gedanken zerfielen. Nur Empfindungsschatten stiegen und sanken. Auch die Erinnerung an die letzte Enttäuschung glitt vorüber. Die Narben zuckten, und sie seufzte.

Fräulein Starke sah auf. Josa fühlte den Schmerz in ihre Augen quellen. Das Fräulein ließ die Blumen, kam langsam näher und faßte ihre Hand.

Dies Mitleid weitete das Vermissen, sog die Qualen stärker empor. Die Tränen stürzten ihr aus den Augen.

Fräulein Starke setzte sich sacht neben sie und legte ihr den Kopf an ihre Schulter. Dann legte sie ihr ein Kissen in den Nacken und streichelte ihre Hand.

Keine Frage, kein Wort wurde laut. Es war alles wie selbstverständlich.

Das Geräusch der Straße, Wagengerassel, Hundegebell drängten sich derb in das Schweigen. Fräulein Starke schloß behutsam das Fenster. Als dabei die Eisenstange der Jalousie klirrte: »Oh!« Sie sah rasch zu Josa, als habe sie ihr weh getan.

Josa hob den Kopf etwas und sah auf die Jalousie. Es lag eine befangene Dankbarkeit in diesem schwachen Aufblicken. Dann sprachen sie ganz harmlos von den Jalousien, wie leicht sie der Wind zerreiße, es sei schon so viel Unglück dabei passiert.

Als Fräulein Starke die Veilchen auf das Klavier stellte, wurden sie wieder stiller.

»Soll ich Ihnen etwas vorspielen?«

Josa nickte. So schwermütig, wie Kranke nicken. Sie fühlte, daß sie als Leidende behandelt würde, so paßten sich auch ihre Bewegungen der Stimmung an.

Fräulein Starke spielte schmiegsam, weich, manchmal sprangen ein paar kecke Töne aus der schlichten Reihe vor.

In Josa wurde es wunschlos, so ruhig. Sie drückte die Schultern tiefer in das Kissen. Von den Tönen umschmiegt schloß sie die Augen, und ihre Gedanken huschten wie Sonnenstrahlen durch rosenrote Einsamkeiten. – –

*

Es war der letzte Tanzabend. Ein kleines Abschiedsfest sollte die Saison beschließen. Die Damen hatten den Herren weiße Schleifen an die Schultern geheftet und die Herren ihren Tänzerinnen Buketts überreicht.

Keine große Gesellschaft. Nur acht junge Damen, acht Herren und die zugehörigen Mütter an den Wänden auf Strohsofas.

Diese Tanzabende beim Ballettmeister Rabe waren immer gemütlich. Aber dieser letzte Abend war besonders behaglich, alle hatten die vertraulichste Abschiedslaune mitgebracht.

Um elf hatte man sich müde getanzt. Es trat eine größere Pause ein. Tische wurden in den Saal getragen. Die Herren faßten selbst mit an, das warf den letzten Rest von Gezwungenheit nieder.

Wein wurde gebracht. Gläser klangen, Knallbonbons wurden zerrissen, und einige der Herren hielten launige Reden.

Josas Herr war ein Fremder. Einer hatte ihn als Ersatz für einen andern, der Abhaltung hatte, mitgebracht.

Herr Kollmann verblüffte. Sein Gesicht war von einer fast raffinierten Regelmäßigkeit. Stirn, Nase, Mund, eine Harmonie wie mit Zirkel und Winkelmaß ausgeklügelt. Und dann die Augen, die Brauen mit dunklem Ansatz und behutsamer Schweifung gegen die Schläfen. Und darunter im Auge, da flog es auf und versank, ein weißes, spritzendes Licht in der Pupille, ein lockendes, knisterndes Irrlicht. Nur eines störte, das Kinn schob sich beim heftigen Sprechen vor und für Augenblicke kühlte plumpe Selbstsucht das Reizvolle.

Da er fremd in der Gesellschaft, sprach er gedämpfter als die andern. Nur wenn er angesprochen wurde, lachte er ebenso laut und lebhaft.

Josa ist zum ersten Male befangen. Seine Schönheit liegt wie ein Alp auf ihr. Sie wagt ihn nicht anzusehen, da sie ihn sonst anstaunen würde. Seine Gesichtsfarbe, seine Augen, seine Stimme, das erregt sie, das saugt sich in sie ein und betäubt sie fast.

Er schenkt ihr viel Wein ein und zwingt sie oft, mit ihm anzustoßen. Dann springt immer ein kitzelnder Blick über sein gehobenes Glas in ihr Auge. Sie leert ein Glas um das andere. Sie wird immer lebhafter. Sie lacht, aber das Lachen hat den berstenden Klang des Übermaßes.

Ihre Blicke glänzen und flackern haltlos. Ihre Bewegungen werden willenloser. Manchmal fliegt eine jähe Laune auf. Sie wirft einem Herrn einen Kork in den Wein. Einen andern stößt sie mit dem Fächer. Dann wieder überfällt sie ein sattes Phlegma. Ihr Herr plaudert und scherzt. Sie nickt kaum, sie horcht auf das Klingen des Blutes, das ruckweise an die Schläfen prallt. Ein immer stärkeres Singen und Sausen schwillt in ihren Ohren. In den Fingerspitzen stechendes Brennen und wieder taube Gefühllosigkeit. Es ist, als ob heiße Luft vor ihr aufsteige.

Die Linien schwanken. Sie schließt die Augen, da rüttelt das Summen und Klingen in den Adern stürmischer. Sie sucht, sich selber fliehend, nach launigen Einfällen und wird unüberlegt witzig.

Man steht auf. Es sei zwölf Uhr. Noch eine Stunde soll getanzt werden. Sie umfaßt schwer den Arm ihres Herrn und bittet, mit ihr in ein Nebenzimmer zu gehen. Er führt sie durch ein paar Zimmer in einen kleinen Salon. Dann geht er, um ihr ein Glas Wasser zu holen.

In der Stille wächst die Aufregung noch höher. Aber es ist kühler hier, das labt sehr. Sie betrachtet sich gegenüber in der Spiegeltüre eines Schrankes. Der dunkle Plüschsessel schmiegt sich weich um die helle Figur. Sie drückt mit Behagen die Fingerspitzen in den Samt. Sie drückt sich tiefer in den Sessel und reibt mit den Schultern auf und nieder.

Dann zieht sie plötzlich ihre Uhr vor. Ein Viertel ein Uhr. Martin wollte sie um ein Uhr abholen. Herr Kollmann kommt und bringt ihr das Wasser. Sie dankt ihm, errötet und stellt das Glas ohne zu trinken nieder. Im Saal beginnt das Klavierspiel wieder. Frau Ballettmeister kommt: »Ach, hier haben sich die Herrschaften zurückgezogen?«

Josa sagt, daß sie Kopfschmerzen habe und nach Hause gehen werde.

»Aber Ihr Herr Bruder ist noch nicht da, wollten Sie nicht auf Ihren Herrn Bruder warten, liebes Fräulein?«

Nein. Sie könne nicht warten. Sie müsse an die frische Luft. Die Kopfschmerzen seien zu stark. –

Herr Kollmann meint auch, daß dies am besten wäre.

»Wenn es das Fräulein erlaubt, werde ich Sie begleiten.«

Josa ist aufgestanden.

Das Brausen tobt noch in ihr. Aber eine rücksichtslose Sicherheit härtet ihre Glieder. Das Fächerband rutscht vom Handgelenk. Der Fächer fällt. Herr Kollmann reicht ihn ihr wieder. Dabei berührt sie die weiche Wärme seiner Hand. »Nein. Ich danke. Nein, tanzen Sie nur. Ich fürchte mich wirklich gar nicht, ich gehe ganz ruhig allein.«

Die Ballettmeisterin ist entsetzt: »Allein! Wo denken Sie hin? In der Nacht, das sind ja dreiviertel Stunden zum Pfauenhof.« – – –

Auch Herr Kollmann besteht darauf, sie zu begleiten. Sie gingen.

Es war Tauwetter eingetreten. Von allen Rinnen, überall tropfte es und spritzte und klatschte; das gab der Nacht etwas Regsames, Lebhaftes.

Josa empfand es unangenehm. Sie hatte sich nach schwerer, träumender Ruhe gesehnt. Eine Stille, die wie Nebel um sie braute, alles Leben rings erstickte, in der man sich recht laut leben hörte und fühlte. Nun stocherte und pickte dieses Tropfen und Plätschern alles erschreckend wach und zerhackte die Einsamkeit in rastlose Geräusche, die so aufdringlich an den blanken Tag erinnerten.

Sie ging etwas lässig an seinem Arm. Er plauderte lebhaft.

Der Mond tauchte grünlich in braungelbem Ring aus wogendem Flaum. Das schwamm wie Schwanendaunen über die blaue Tiefe des Nachthimmels. Das Licht spaltete die Dunkelheit in den engsten Gassen, spritzte im Schneewasser, klammerte sich mit grellem Funkeln an schwarze Scheiben, schlug scharflinige Schatten schräg über die Fronten, und dann zerrann wieder alles in silberdunstige Dämmerung.

Vor dem Burkardertore wurde es frischer. Draußen auf dem Wege zum Pfauenhofe war es stiller und einsamer, nur hie und da sank ein Tropfen raschelnd von den Zweigen. Die Wege waren vom Schneewasser glatter. Josa faßte Kollmanns Arm fester. Die Stille beengte sie, dies Schweigen, in dem sie sich um so lebhafter empfand, machte sie fast schwindlig. Es war ihr, als müsse sich etwas ereignen. Sie sehnte sich mit zitterndem Widerstreben nach kommenden Sekunden, dann wieder stieß wilde Angst alles zurück, und floh, und verkroch sich. Aber gleich wieder horchten die Gedanken hinaus, lauerten auf den schwellenden Brand und zuckten doch schreckhaft vor dem leisesten Pulsschlag – – – mußte es nicht wallen wie Feuer, in süßem, gierigem Zermalmen, und alles durchwühlen und umkrampfen in dumpfer, lusterschöpfter Weißglut – – – nur ein prickelnder Funke – nur ein einziger. – Nein, nein – es sollte nicht. Sie wollte nicht. Es wäre entsetzlich. O Gott, gab es denn nichts, Josa, so besinne dich doch, – morgen wird in der Scheune das Korn verkauft – zwölf Säcke – nein vierzehn – das lockte und kitzelte grauenhaft süß im Blute, nicht das, nein, nicht. Oh, hilf doch, hilf, barmherziger Gott hilf – –! Josa glitt plötzlich und fiel auf die Knie. Herr Kollmann fing sie auf.

»Haben Sie sich weh getan –?«

»Nein, nicht.«

Er hatte ihr geholfen aufzustehen und ließ nun seinen Arm um ihre Taille.

Es war lange dunkel ringsum geblieben. Nur über die weiße Schneedecke wob ein grauer, halbwacher Schimmer.

Sie waren auf halber Berghöhe. Plötzlich fiel das Licht blendend nieder. Josa stand betroffen. Ein jauchzender Schauer reckte sich in ihr hoch. Dann brach es in stürmischem Entzücken von ihren Lippen:

»O sehen Sie! Sehen Sie doch die Felsen, der Festungsberg dort! So blendend, so geisterhaft bleich! Und dann die Schatten, so unheimlich schwarz und über allem diese grinsende Grabesstarre, nicht wahr, es liegt etwas Skelettartiges in dem stieren Schwarz und Weiß. Das ist zum Fürchten schön! Ich liebe immer über alles Mondnächte, aber nein, das sah ich noch nie. Sehen Sie doch, wie die Nacht dort flieht. Der Schnee stößt sie zurück. Dort preßt sie sich an die Mauern, und dort an die Baumstämme und dort an das Geäst. Und wie sie sich hier scheu in die kleinen Gruben duckt, nicht? Das ist doch wie Leben und Ausdruck. – Eine recht wunderliche Nacht. Und die Felsen und die Wälle und Abhänge wie aus grünem Erz gehauen. Über allem ein flimmernder Schmelz. So fremdartig, wie auf dem Meeresgrund. Ja, so mußte es dort sein. Die nackten, kahlen Äste, schwarze Korallen, der Glanz, die flimmernden Berge, Kristallpaläste, und da oben die Wolken, das ist zischender Schaum, der auf der Brandung fliegt, und fortjagt, und zerflattert, und der Mond, das ist Sonne, bleiche, kraftlose Sonne. Sie preßt ihr Gesicht an die Flut, aber ihr Licht dringt nur schwächlich zur Tiefe. Oh, wie schön, wie unsäglich schön das ist!« – – –

Josa hatte sich erlöst. –

*

Josa sah von Kindheit auf mit ungeduldiger Erwartung dem Tage entgegen, wo sie auch hinausfahren durfte ins Leben. Wo ihr eigener Wille das Steuer lenken und die Kraft des freien unumschränkten Ichs in die Ruder greifen durfte.

Und nun, als sie sich kraftreif fühlte, strengte sie alle Nerven an, und horchte sehnsüchtig dem Neuen entgegen, aber es blieb leer. Nirgends das Flügelrauschen eines Ereignisses, nirgends das Zucken eines keimenden Wechsels.

Das konnte doch nicht alles sein. Es muß doch einmal kommen. Sie wollte nicht in Nonneneinsamkeit täglich von Sonnenaufgang bis Sonnenniedergang sich selbst beschauen. Sie war doch auch ein Stück von der Welt, die da draußen rauschte und dröhnte. Sie wollte hineingeschleudert sein. Bei den Wurzeln der Empfindungen gefaßt, ob Freud oder Leid, ihr gleich, sie wollte sich leben sehen, hören und fühlen.

Manchmal drängte sich ein unruhiges Verlangen auf. Sie wünschte schön, edel schön zu sein. Und dann stand sie am Spiegel und preßte die zu vollen Lippen zusammen und schlug die Augen lebhafter auf und spannte den Mund, daß die Nasenflügel sich verengten und die Formen knapper, schärfer begrenzt hervortraten. Ihre Nase war zu rund und weich, noch fast kindlich. Das Kinn war zu kurz, zu energielos. Warum hatte es nicht ein hartliniges jähes Profil! Wie sie sich nach Schönheit sehnte! Die Unzufriedenheit nagte gramvoll an ihrem Selbstbewußtsein. Aber dann sagte sie sich, daß sie noch jung sei. Das befriedigte sie etwas, aber es konnte sie nicht vollkräftig sättigen. –

Seit Josa begonnen, ihr Schicksal zu suchen, war sie für die leisesten Eindrücke von einer fast ans Hysterische grenzenden Empfindsamkeit.

Es war oft gar nichts. Ein kurzer Gruß, eine Antwort, ein Blick, das trug sie noch Stunden mit sich und gab ihm Farbe von ihrer Phantasie und den verklärenden Glanz ihrer sehnsuchtglühenden Träume.

Als sie an einem Sonntagabend mit Diana den unteren Burgweg ging, kamen ihr Studenten von der Höchberger Straße entgegen. Ein gelber Neufundländer sprang voraus. Die Hunde knurrten, der fremde fletschte die Zähne. Die Studenten lachten von weitem. Keinem fiel es ein, den Hund zurückzurufen. Josa zerrt Diana zu sich. Plötzlich ein Ruck, die Hunde fallen tobend übereinander. Da springt oben aus dem Heckenweg ein junger Mann herunter. Schreit den Hunden zu und reißt den Neufundländer zurück. Dann entschuldigt er sich. Seine Begleiter kommen etwas näher. Josa nimmt Diana. Sie grüßen und gehen vorüber.

Von diesem Augenblicke lebte diese Begegnung wie ein warmes Feuer in ihr. Immer wieder kehrte sie mit ihren Gedanken an jene Stelle zurück, sie entzündete immer mit neuem Behagen die Gefühle, die sie dabei überfallen hatten. Sie hatte sein Gesicht kaum gesehen. Nur die grüne Mütze, die Hand, die zugriff und den großen elfenbeinernen Manschettenknopf mit dem Korpszirkel. Sie dichtete sich nun das Gedicht hinzu aus den flüchtigen Linien, die sie immer wieder vorholte, und die immer mehr von ihren persönlichen Wünschen beeinflußt wurden.

In der Stadt sah sie ihn an allen Straßenecken. Dieser konnte es sein, auch jener, aber dann paßte wieder die Größe nicht genau, oder es war kein Student. Sie lebte ganze Romane mit ihm. Sie ließ ihn krank werden, und pflegte ihn bis zum Tode, und drückte ihm die Augen zu, und weinte, wirklich sie weinte. Aber dann nannte sie sich eine Närrin, sprang auf und lief fort, als wollte sie sich selber entlaufen, aber in einer anderen Ecke weinte sie weiter.

Eines Tages hatten sie das Grab der Mutter Marthas besucht. Am Ausgang des Friedhofes drängen die Menschen. Es soll in der nächsten Viertelstunde die Beerdigung eines Professors sein. Als Josa und Martha um die Ecke der Ludwigstraße bogen, brauste ihnen eine blitzende Equipage entgegen. Josa ist blaß. Einen Augenblick stockt alles in ihr. Sie grüßt. Dann wirbeln Farben, Schärpen vorüber. Er war es. Er hatte sie erkannt. So freundlich, leise lächelnd wie in Erinnerung.

Martha erwartete wohl, daß sie erzähle, wen sie grüßte. Aber ihre Halsadern pochen. Später als sie ruhiger, versteckt sie sich hinter Gleichgültigkeit:

»Ich besinne mich nun so lange, ich weiß gar nicht, wer das gewesen. Wenn ich nur darauf kommen könnte.«

Und Fräulein Starke:

»Du meinst den Herrn, der uns vorhin grüßte? – Ja, es geht einem manchmal so.«

Als Josa merkte, daß Martha ganz harmlos, wurde sie sicherer.

Es sei doch zu schön gewesen, dieser reiche, prunkende Farbenschmuck, der Silberflimmer auf den zierlichen Mützen, die starre seidene Fahne! Überwältigend!

Fräulein Starke fand auch, es habe recht hübsch ausgesehen.

Das war nun mal der lieben, guten Martha einzige Schwäche, für Farben hatte sie so wenig Empfindung, und zur Begeisterung war sie gar zu schwer zu bringen. Das mußte doch jeden, der Augen hatte, hinreißen. Sie war ordentlich erstickt bei diesem Farbenfunkeln. Es lag ihr jetzt noch Müde in den Gliedern. Er hatte so hübsch ausgesehen! Der schwarze interessante Kopf und das Cerevis etwas schräg. –


Und dann ein andermal, sah sie ihn auf dem Markte. Er grüßte nicht. Er hatte sie wohl gar nicht gesehen. Aber Josa grämte sich doch eine halbe Nacht.

Und wieder an einem Nachmittag stand er an einem Wagen beim Vierröhrenbrunnen. Vier Damen saßen darin, es schienen Engländerinnen zu sein. Eine hielt das Skizzenbuch auf dem Schoß und zeichnete den Grafeneckardturm. Er hatte einen Fuß auf dem Wagentritt und deutete auf den Brunnen und erklärte eifrig. Er grüßte Josa nur flüchtig. Er war wohl sehr im Gespräch vertieft. Auf der Brücke meinte sie, er hätte höflicher sein dürfen. Auf dem Weg zum Pfauenhofe fand sie ihn rücksichtslos. Oben in ihrem Zimmer saß sie lange in Hut und Mantel und starrte in den Spiegel.

Ach, es ist ja alles Unsinn, lachte sie zu ihrem Spiegelbild. Aber als sie zum Abendbrot hinunterkam, hatte sie rote Augen. –

Josa war eines Nachmittags bei Fräulein Starke. Es war Ende Juli. Man hatte in der Hitze nicht ausgehen können, sie hatten bei verschlossenen Gardinen gesessen, erst Klavier gespielt, dann Papierblumen gemacht und über Wagner gestritten. Nach dem Abendessen schlug Josa vor, etwas spazieren zu gehen, und richtete es so ein, daß sie zum Rennwegerglacis kamen. Sie hatte gehört, daß die »Mönania« am Abend Abschiedskommers im »Smolensk« hatte. Vielleicht konnte sie ihn noch einmal sehen. Aber dann sollte es ausgelöscht sein. Sie sagte sich das lebhaft, mit selbstquälender Unerbittlichkeit. Und sie lobte sich und war stolz auf diese Entsagungsstärke.

In der Nähe des Volksgartens Musik. Eine Walzermelodie. Es erweckte Tanzlust. Sehnsüchtiges Erinnern an vergangene Winterabende.

Die Leute blieben stehen, dann gingen alle langsam der Musik nach. Auch Josa und Martha folgten.

Das Restaurant liegt an der Fahrstraße. Es ist noch dämmerig, die geöffneten Fenster starren gelbblendend in das lauschende Dunkel. Vor dem Hause, durch die Straße getrennt, sitzen horchende Gruppen in den Glacisanlagen. Auf den Bänken Mädchen Arm in Arm, und ältere Herren, das Kinn auf den Stock gestützt.

Alle schweigen, als hätten ihnen die Töne das Leben ausgesogen. Alle starren hinauf.

Das Haus hebt sich scharflinig vom weichblauen Sommernachtshimmel. In der ersten Etage ein großer Saal. Kronleuchter am reichbemalten Plafond, Draperien mit Troddeln, fächerförmig an Rundbogenfenstern. Köpfe mit grünen Mützen. Manche weiter, manche enger zusammen. Nebenan ein zweiter kleiner kahler Saal, darin die Musikkapelle.

Elastische Schläger klatschen herrisch auf den Tisch. Die Köpfe bücken sich. Die Musik beginnt. Dann Gesang, – kräftige Stimmen, die sich schwer zu einer wuchtigen Tonwelle zusammendrängen. Ein Chargierter singt am Fenster zunächst. Er preßt das Kinn an und bläht die Brust und arbeitet mit dem ganzen Körper. Bei jedem neuen Vers rasseln die Schläger.

Dann Pause. Der Diener mit großer Mütze geht am Tisch entlang, sammelt die Gläser. Sie sind schnell ausgetrunken, der weiße Schaum glänzt noch in ihnen. Blaue Rauchwolken wirbeln auf und dehnen sich in flachen Schichten. Eine Gestalt tritt an das Fenster, nimmt die Mütze ab, wischt mit dem Taschentuch das Haar, dann die Mütze, das Innenfutter. Wieder einer, ein großer schlanker. Durch seinen breiten struppigen Schnurrbart schimmert das Licht blaßgolden.

Josa sucht. Aber ihr Blick sinkt von jeder neuen Gestalt enttäuscht zurück.

Unten im Erdgeschoß in der Küche flackern die Gasflammen offen und kahl auf dünnen Knieröhren. Mädchen eilen hin und her. Pfannen, Löffelhalter an den Wänden. Teller, Messer klappern, klirren. Weißer Dampf schwimmt wie Nebel über dem Herd.

Ein Student ist in die Küche getreten. Ein rotes trunken-heißes Gesicht. Er spricht zu einem der Mädchen. Sie wendet den Kopf mit dem hochgekämmten Haar und wird rot. Er legt seinen Arm um ihre Taille. Sie wehrt sich kaum. Er plaudert immer zudringlicher. Dann stößt sie ihn ärgerlich fort. Er läßt sich nicht abweisen, lacht verschmitzt und sagt etwas. Die Mädchen kreischen auf. Die eine gibt ihm einen Klapps auf den Mund. Die andern machen nur noch unnütze Bewegungen und arbeiten nicht mehr. Ab und zu tritt eine vor die Glastüre des Geschirrschrankes und streicht sich das Haar zurecht.

Josa und Martha hatten hinter einer Bank gestanden, jetzt machten beide zugleich dieselbe Bewegung:

»Wir wollen gehen?«

»Ja.«

Dann gingen sie eine Weile schweigend.

Josa hatte mit gereizter Spannung alles im Hause verfolgt. Ihn hatte sie nicht gesehen. Aber das war gleich. Die ganze Masse dort trug dasselbe Gepräge wie er. Sie labte sich an Vorwürfen der Schamlosigkeit, der gemeinen Gesinnung, die sie jenem Herrn in der Küche machte, die aber an den andern, von dem sie sich vernachlässigt, rücksichtslos gekränkt glaubte, gerichtet waren. Ohnmächtige Bitterkeit erfüllte sie gegen ihr Ideal. Sie war ihm so demütig treu gefolgt, so innig ihm vertraut, und er hatte sie unbeachtet gelassen.

Nach einer Weile meinte Fräulein Starke, die Welt sei doch recht illusionsleer. Jenen Herrn, der dort in der Küche gewesen, habe sie einmal in einer Gesellschaft gesehen. Er sei so liebenswürdig gewesen, habe sich so nett benommen, das hätte sie ihm nie zugetraut.

Josa hatte in ihren Gedanken schon viel Groll gegen ihr Ideal vergeudet. Es tat ihr wohl, daß ihre Freundin nun beistimmte. Im Grunde genommen war es gleich, ob es seine Person war oder nicht, er war ein Mann, er würde ebensogut an die Stelle jenes andern gepaßt haben. Sie ärgerte sich fast, daß sie nicht die Genugtuung erlangt hatte, ihn direkt verdammen zu dürfen. Um nun aber das Drückende dieses Unmutes einigermaßen aufzulösen, begann sie die Handlung jenes Herrn vor ihrer Freundin zu entschuldigen, dadurch kam sie sich noch märtyrerhafter vor.

Martha war erstaunt, wie Josa so etwas noch entschuldigen konnte:

»Ich finde es einfach gemein. Ebenso gemein von dem Herrn, daß er sich zu schamloser Rede und Handlungsweise herbeiläßt, als schamlos von dem Mädchen, das doch so viel Anstand und Würde als Mädchen haben müßte, den Mann, wenn er sich vergißt, in die Schranken zu weisen.«

Josa stimmte lebhaft bei. Sie habe nur im ersten Moment geglaubt, sie wußte selbst nicht was, aber es schien ihr so – nun, Martha habe jedenfalls ganz recht.

Aber sie dachte nicht, was sie sagte.

Es bäumte sich mit einem Male etwas in ihr, diese Handlung »gemein« zu nennen.

Es war leicht möglich, in solche Lage zu kommen. Er war vom Trinken erregt. Sie fühlte genau mit ihm. Sie mußte an sich denken. Nun türmte sich mit einem Male der ganze gewaltige Schrecken der Tat vor ihr auf, zu der ein brennender, wirrer Augenblick sie hätte hinreißen können. Man hätte sie auch gemein genannt. Sich von ihr abgewandt. Sie verworfen, verstoßen. Sie hätte sich vor aller Welt verkriechen müssen.

Wenn Martha eine Ahnung hätte! Sie schauderte.

Martha war so streng, so jäh in ihrem Urteil. Ob sie schon solch lüsterne Stunden erlebt hatte? – Nein – sie nie. Das war alles eben und glatt in diesem Herzen. Jede Versuchung prallte dort schon in der Ahnung ab. Sie hielt sich stark und glaubensfest an alles, von dem gesagt ist, daß es uns zu sich erheben will, wenn wir uns nur blind an seine Macht klammern.

Wer auch so fromm sein könnte!

Es war da manches, das sich gar nicht vereinen ließ. Die Religion befahl: so sollt ihr leben! Aber da lebte noch etwas neben dem Drang zum Heiligen, das war auch ein Stück Mensch, es sah nur häßlicher aus. Im geheimen bestand es. Totgeschwiegen schlich es wie Schlangen durch die Welt, wenn es den Kopf hob, traten es die Gesetze nieder, aber es ließ sich nicht verdrängen, es wühlte im Dunkeln weiter.

Es war geschaffen wie alles andere. Es war berechtigt. Warum wollte man es ausroden?

An diesem Rätsel rannte sich Josa oft ihre Gedanken wund. Das lag hemmend über ihrem Wege, sie nahm Anlauf um Anlauf, aber sie kam nicht hinüber. Sie wunderte sich, wie ruhig die meisten Menschen darüber weggekommen waren, sie bewunderte die andern, die wie Martha sagen konnten, das ist gut, das ist böse. Sie getraute sich das nicht. Sie schämte sich vor sich. Wie diese Leute es nur machten, daß sie zu solcher Entschiedenheit gelangt waren? Sie begriff es nicht, denn sie war ehrlicher als die scheinbar Ehrlichsten, da sie ehrlich gegen sich selbst war.

*

Großmutter Gerth war noch nicht sechs Wochen tot, da kam ein neues Unglück über den Pfauenhof. Eines Abends brachte man Martin heim, die Pferde waren gescheut, er aus dem Wagen geschleudert und schwer verletzt. Der rechte Arm war gebrochen, die ganze rechte Seite an der Hüfte aufgerissen. Josa in ihrer Unerfahrenheit stand erst ratlos in dem Schrecken. Als dann Fräulein Starke kam, und sie sah, wie ruhig und sicher diese alles ordnete, raffte sie sich auch auf und half, so gut sie konnte.

Das Trauerjahr war zu Ende, Martin wieder hergestellt, da kamen Onkel und Tante Vogt durchgereist. Sie kehrten eben von der Riviera zurück. Sie luden Josa zu sich ein, zum Besuch nach Blasewitz in ihre Villa Elbhausen, nahmen sie gleich mit.

Vogts waren mit Gerths nicht verwandt. Onkel Vogt wurde nur Onkel genannt, da er der intimste Freund ihres Vaters gewesen. –

Onkel Vogt hatte in seiner Jugend über alles gelacht. Aber nicht jenes erboste Hohngelächter, das der Mitwelt Galle ins Gesicht speit, er lachte ein harmloses Sonnenlachen. Ein Lachen, das tanzt und flirrt und nippt und sprüht, das mit nichts zu fesseln ist. Aber seiner Frau zuliebe war er später ernst geworden, und zur Kirche gegangen. Frau Vogt war als Pastorentochter in steifer Frömmigkeit aufgewachsen, so hielt sie es auch in ihrer Ehe, die Kinder wurden in Demut und Gottesfurcht erzogen.

Man hatte Josa in Elbhausen mit Wärme aufgenommen. Aber die Sehnsucht schwieg nicht. Das Neue, das Fremde, die ungewohnte Pracht stellten sich hemmend zwischen ihre Freude und die Umgebung. Dazu kam, daß Vogts immer sehr viel Besuch hatten. Ihre reiche Villa glich im Sommer mehr einem Hotel als einem Privathause.

Wie in einem Hotel waren auch die Gäste sich ganz selbst überlassen. Nur zu den Mahlzeiten oder bei Regenwetter kam man in den Salons zusammen, sonst zerstreuten sich alle im Park, der bis hinunter zur Elbe ging und vom Wasser durch eine Wiese getrennt war.

Agathe hatte ihre eigenen Interessen. Sie sprach gerne von Konzerten, las alle Kritiken des Theaters und sprach von den Sängern und Sängerinnen mit jener Vertraulichkeit, wie man von Kollegen spricht.

Hedwig, die ältere, war seit einem Jahr verheiratet, aber noch zu sehr mit ihrer Ehe beschäftigt, daß sie wenig Aufmerksamkeit für die Umgebung hatte. Klein- Hermann war etwas verwöhnt, wenig zutraulich, nur Herbert war soeben vom Polytechnikum gekommen, noch den Schulwitz im Lachen, frisch und übermütig und schwatzhaft. Sein Lachen tat Josa wohl, aber es gab ihr nicht die Wärme, die so sehr ersehnte; zum ersten Male fühlte sie, daß man auch im Geräusch einsam sein konnte.

Am zweiten Pfingstfeiertage wurde Theodor, der älteste Sohn, aus Leipzig erwartet. Er studierte Theologie. Josa hatte viel von ihm gehört. Er war, sozusagen, der Held der Familie. Es hatte ihr immer gefallen, daß er früher Dichter, Schriftsteller werden wollte, erst spät hatte er sich auf der Mutter Wunsch zum geistlichen Beruf entschlossen. Fräulein Starke hatte ihn in Leipzig kennen gelernt. Er sei klug und angenehm. Langes Haar sollte er tragen, bis in den Nacken. Und eine solch wunderbare Stimme, mit schwerer kerniger Betonung, wie man das Deutsch in den Ostseeprovinzen spricht. Josa war begierig, ihn kennen zu lernen. Schon, daß er Fräulein Starke kannte, hatte sie für ihn eingenommen. Aber in ihre Neugier mischte sich Scheu vor seiner Gescheitigkeit. Josa fürchtete sich immer vor sehr gelehrten Menschen.

In der roten, offenen Steinhalle unter dem Eckbalkon des Hauses wurde bei schönem Wetter der Mittagstisch gedeckt. Man saß herrlich hier. Vorn Blumenteppiche, die La France-Rosen wälzten Wolken von Duft herein. Die Parkbäume gegenüber ausgeschnitten; von schwärzlichem Grün und bläulichem Grün umklammert sah eine Sonnenlandschaft groß herein. Die Höhenzüge von Loschwitz, blanke Villen, Sommernester in Laubpfühlen, unten die Elbe, alles weißlich, blaß vom Lichtdunst geblendet.

Es war ausnahmsweise wenig Besuch da. Die Berliner Bekannten am Morgen abgereist. Die Thüringer Verwandten ebenfalls, nur noch eine junge bernsteinblonde Russin.

Man hatte zu Tisch geläutet.

Oben über den Balkon bog sich Frau Vogt: »Papa, Theodor kommt!«

Die Geschwister eilten ins Haus. Auf der Treppe Zurufen, Lachen und Begrüßen.

Dann sah ihn auch Josa. Er schüttelte ihr gleich mit solch überraschender Herzlichkeit die Hand, sie wurde fast verlegen. Er hielt bei der Begrüßung die rechte Schulter etwas geneigt und griff mit der großen warmen Hand kräftig um ihre Finger.

Man setzte sich zum Essen. Die Halle war nicht sehr groß. Ein langer Tisch hatte nicht Platz. Man aß getrennt an zweien. Josa, Herbert und die junge Russin am Nebentisch.

Die ganze Lebhaftigkeit, die frische Luft der Fremde, wie sie gewöhnlich ein Neuangekommener mitbringt, rauschte laut und ließ die Stimmung höher wogen.

Herbert lärmte am meisten.

»Sag mal, was macht denn Laren? Denken Sie sich Fräulein Josa, einen Mann, einen – ach was sag ich, zwei Köpfe größer als ich, breit, ein Hüne, roter Bart, Vollbart bis hierher – und was glauben Sie, dieser Mensch, jeder hält ihn für dreißig, ist erst neunzehn Jahre. Ich wollte es mir absolut nicht aufbinden lassen. Aber es ist wirklich so. Nicht wahr, Theodor?«

»Es ist ein Friese. Die Friesen sind solch derber Menschenschlag. Aber du, der ist jetzt nicht mehr, was er war. Kaum zum Wiedererkennen. Der arme Mensch, er ist ganz furchtbar heruntergekommen.«

»Oho!«

»Ja es ist ihm sehr traurig gegangen. Er machte sein Examen, reiste nach Hause und kommt gerade an dem Tage an, als man seine Braut tot heimbringt. Sie war am Abend vorher ertrunken.«

Alle einen Augenblick stumm. Es war, als weiche das Leben entsetzt zurück.

Herbert hatte sich zuerst erholt:

»Nein, solch ein Pech!«

Man fragte von allen Seiten, wie das Unglück gekommen sei, und wie er es ertragen habe.

Nur sein inniger Gottesglaube habe ihn vor dem Wahnsinn geschützt.

Hedwig hatte seit ihrer Verheiratung etwas freiere Ansichten angenommen. Sie schüttelte sich, meinte: sie hätte das nicht überstanden, sie wäre verrückt geworden.

Theodor spannte die Serviette straff über sein Knie.

»Ein Christ kann alles ertragen, Hedwig. Wer nur Gott als Höchstes schätzt, dem wird kein irdischer Verlust zu schwer werden. Dem Glaubensstarken bleibt immer noch die Hoffnung auf ein unermeßliches Glück. Dies kann ihm keiner zerstören, nur jeder sich selbst.«

Hedwig falzte mit dem Gabelstiel eine Stanniolkapsel der Weinflasche.

»Du magst recht haben. Nun ja, glücklich, wer so denkt. Aber alle Menschen sind doch nicht so fest und sicher wie du in ihrem Glauben. Es gibt doch Hunderttausende, die zu schwach sind zu solcher Festigkeit. Die tun mir leid und die, finde ich, sind nur zu bedauern.«

Theodor wischte mit rascher Bewegung den Bart:

»Ja und nein. Ein Unwissender, der die Schätze des Christentums nicht kennt, der ist sehr zu bemitleiden. Aber einem Christen sagt die Religion von Jugend auf, wo er Trost und Stütze findet. Klammert er sich in seiner Schwachheit nicht daran, und läßt er sich in der Liebe zu Gott nicht über alles heben, dann will er eben nicht, daß man ihm helfe. Dann ist es gerechte Strafe, daß ihn Qual trifft. Und daß ihm Strafe und Qual werde, ist sicher auch Gottes Wille.« –

Josa hatte sich Theodor größer vorgestellt. Er trug auch das Haar nicht lang, schlicht, kurz, an der Seite gescheitelt. Und dann dieser starke, braune Vollbart, der die untere Gesichtshälfte ganz verdeckte, sie hätte ihn nach dem Bilde nicht wieder erkannt. Die Nase war kühn und stark geschweift, dasselbe Profil wie seine Mutter. Auch die starken Brauen wie Frau Vogt. Aber die Augen inniger dunkel, er hatte solch eigene Art, die Augenlider beim herzlichen Sprechen in den Winkeln zusammenzudrängen. Da der Mund vom Bart verdeckt war, lag der ganze Ausdruck, alles Leben in diesem Zusammenziehen der Muskeln um die Augen. Beim Sprechen hielt er den Kopf etwas auf die linke Seite, das machte seine Rede noch gewinnender, dieses leichte Neigen sprach von so viel freundlicher Hingebung, fast demütiger Unterwürfigkeit. Aber vor allem war es seine Stimme, die gab ihm das Fesselnde, sie zwang jeden zum Lauschen. Nichts Gezwungenes, mit Salbung und Pathos Geschminktes, auch nicht klingend wie Metall, aber vollkernig, gesättigt von fest fußender Überzeugung, dabei umschmiegt von schonender Milde, wie Ton gewordene Kraft, die sich aus wuchtigen Eichen ringt.

Josa fühlte sich von dieser Stimme fast im Denken gelähmt. Was er sagte, schien ihr fast zu straff und streng. Aber sie glaubte doch dieser Stimme, daß es so sein müsse.

Zuerst war sie von Theodors Religionseifer verblüfft. Scham und Verwunderung stotterten in ihr, als sie sich erst auf der untersten Stufe zu jener Glaubenshöhe fand, von der Theodor herabgesprochen. Zugleich fühlte sie jähe Tatkraft in sich entfacht, die ihren lässigen Glauben emporschleudern, aufrütteln, reinigen sollte. Die Furcht, er möge in ihr den verkümmerten Glauben erkennen, steifte Scheu und Befangenheit gegen ihn. Und ohne daß sie sich besondere Mühe gab, hüllte sie sich, wenn sie mit ihm sprach, in einen demütigen Tugendschein, den sie dem Wesen entlieh, das sie zu sein wünschte.

Daß es ihr gut stand, wußte sie. Sie haßte sich oft, daß sie nicht Kraft und Mut hatte, so zu sein, wie sie war. Wenn sie allein war, nannte sie sich feige und ergötzte sich, den Kontrast ihrer eigenen Gedanken und der angenommenen noch krasser zu verzerren. Das bewirkte, daß sie sich erst recht in ihrer Unvollkommenheit kennen lernte und sich nun noch behutsamer und ängstlicher mit den Farben der Meinungen und Urteile schmückte, von denen sie wußte, daß sie geschätzt und gepriesen waren.

Josa war unter Menschen meist still, oder von einer stürzenden Lebhaftigkeit. War sie einmal aufgewühlt, dann ließ sie sich fortwirbeln, das machte ihre Rede oft parteiisch und hetzte sie zu sinnlosestem Widerspruch, und sie rannte sich in Sackgassen störrischer Behauptungen und mußte sich oft beschämt gefangen geben.

Das machte dann auf die Umgebung den Eindruck großer Unselbständigkeit, man verwunderte sich über sie, sie empfand es, und die Ungeduld und Scham stampften in ihr mit beiden Füßen. Sie hätte so gerne laut schreien mögen, daß sie es eigentlich gar nicht war, die dies meinte, daß sie machtlos unter dem Alp der fremden Willen lag und von allen überwältigt wurde.

Nur in einem wußte sie sich Herrin, ihr warmes Naturgefühl, ihre innige Liebe zu allem, was Farbe und Licht strahlte, das war eine Kraft, in der nichts erborgt, nichts von Fremden Genommenes lag, das war so fest, so aus einem jähen Guß nur ihr eigen. Trotzdem war sie nie begeistert, um Aufmerksamkeit und Erstaunen zu erregen. Erst wenn der Strom vorübergerauscht, sie sich gleichsam nackt gesprochen hatte, und sie ihre ausgestrahlte Wärme rings auf allen Mienen widerleuchten sah, da erinnerte sie sich ihrer Person. Aber dann schämte sie sich und hätte sich vor der Gewalt, mit der sie alles rings gefesselt sah, verkriechen mögen. Sie liebte nicht einsam zu stehen und zu herrschen, sie verwischte dann rasch mit einem Griff in die schalste Alltäglichkeit ihre stolze begeisterte Wolkenschrift.

Doch dieser jähe Umschlag machte diejenigen mißtrauisch, welche eben noch ihre Kühnheit auf die Knie gezwungen hatte.

Nur eine sehr tiefe Natur konnte ihren Wert verstehen und schätzen.

Bis jetzt hatte sich Josa in Elbhausen immer noch nicht heimisch gefühlt. Aber nun war es mit einem Male anders. Daß Theodor auch Fräulein Starke kannte, hatte beide rasch genähert. Josa tat es wohl, ihre mütterliche Freundin von ihm geschätzt zu wissen. Er sprach mit großer Achtung von ihr und wußte sich genau der Einzelheiten ihres Leipziger Verkehrs zu erinnern. Ihre beiderseitige Begeisterung für dieselbe Person reichte sich im Erinnern die Hand. Es lag ein behagliches Vergnügen darin, sich in gleiche Gefühle zu teilen. Jeder von ihnen empfand bald, daß er dem andern damit wohl tue. Wenn sie nun ein Gespräch führten, war es gewöhnlich durch eine Erinnerung an Martha angeregt oder es schloß mit einer solchen.

So erwachte zwischen ihnen bald jene anschmiegende Vertraulichkeit, wie sie nur entsteht, wenn zwei in der Menge einen Pfad gefunden haben, den nur sie gehen können, auf den ihnen niemand zu folgen versteht. Dieses öffentliche Einsamsein übte besonders auf Josa großen Reiz.

In ihren Briefen teilte sie der Freundin recht beglückt mit, daß Theodor sich ihrer so warm annehme, und daß sie beide so gern von Martha sprächen. Während des Schreibens kam ihr einmal plötzlich der Gedanke, ob Theodor und Martha sich vielleicht liebten. Sie war ganz berauscht von diesem Gedanken. Denn alles schien auch darauf hinzudeuten. Drei Jahre hatten sie sich nicht gesehen, aber wenn Martha von Theodor gesprochen, war das immer begeistert geschehen. Ganz so wie Theodor jetzt von ihr sprach. Warum sollte sich das auch nicht verwirklichen lassen? Das Alter? Martha sah noch ganz gut aus. Und Theodor durch den großen Bart viel älter als sechsundzwanzig.

In Josa prickelte die Lust auf, beide glücklich zu machen. Sie kam sich in dieser Idee erhaben vor. Und etwas von sorgender Mütterlichkeit machte ihre Gedanken behäbig und gesetzt ernst.

Ihr Plan, beide zu nähern, gab ihr nun eine unbefangenere Sicherheit über Theodor. Und was sie nun tat, um ihm zu gefallen, geschah mit dem Keimgedanken, daß er durch sie von Marthas Person noch mehr gefesselt werde. Sie kokettierte fast im Interesse der Freundin. Sie machte sich nun keine Vorwürfe, wenn sie gegen ihre Ansicht sich seinem Urteile anschmiegte.

Sie merkte selbst kaum, wie sie allmählich halb sich zwingend, halb gezwungen, ihm immer ähnlicher wurde. Nur ganz flüchtig sprang ein Gedanke von den andern los, stellte sich vor sie hin und wunderte sich über ihr fremdes Gesicht, über ihre veränderte geistige Form, die von der früheren Josa kaum noch einen Hauch Blutwärme zeigte.

In der Dresdner Galerie war sie es sich zum ersten Male erstaunt bewußt geworden. Wie immer wurde sie von den Farben ergriffen und laut aufgerüttelt. Erst war sie nur im Taumel durch die Säle gewandert, und sie ließ betäubt die Farbenfeuer um sich wirbeln und wogen. Dann, als sie näher an das Zergliedern der Einzelheiten der verschiedenen Schulen gingen, wunderte sie sich. Alles war ihr leicht geworden, mit Theodor gleich zu empfinden, oder wenigstens sich seiner Führung unterzuordnen, nur hier bei den Farben, das war ihr unmöglich. Er liebte diese schweren, drückenden Bilder der alten niederländischen und italienischen Schule, sie atmete lieber die freien sonnengetränkten Farben der Neuzeit. Dann war es ein kindlicher Zug, wie er sich für die lieblichen, schlichten Gestalten Ludwig Richters und Hofmanns erwärmen konnte, sie empfand ebenso wie er das Ehrsame, Treuherzige dieser Malerei, aber es war zu viel Unwirkliches, Störendes daran, so daß ihr das Vermissen den Genuß verdarb. – Und doch äußerlich stimmte sie ihm bei. Nicht daß sie im Augenblick ihm zuliebe gleicher Meinung sein wollte, nein, sie jauchzte, weil sie jauchzen mußte, sie war so überschwänglich erregt, daß sie im Augenblick nichts anderes als Rosen, satte befriedigende Rosen über alles austeilte.

Und dann unten in der Garderobe, als er ihr den Schirm gereicht hatte, behielt er ihre Hand: »Ich danke Ihnen.« Sie verstand nicht gleich. Nickte aber doch halb zustimmend, halb unschlüssig lächelnd.

Im Weitergehen sagte er, mit vielen habe er schon die Galerie besucht, aber nie habe es ihm solches Vergnügen bereitet, wie heute mit ihr.

Sein Lob tat wohl. Aber nun ärgerte sie sich doch, daß sie nicht ganz aufrichtig in ihrem Urteil gewesen. Und dann gestand sie sich, daß es ihr unmöglich war, ihm eine eigene Meinung entgegenzusetzen.

Und da, für einen Augenblick, übersah sie sich mit einem Male vollständig. Sie erschien sich ganz zugestutzt nach seinem Wesen, ihre frühere Art verstümmelt, das quälte sie.

Gleich darauf an der Brühlschen Terrasse meinte Theodor, die vergoldeten Figuren würden durch den grellen Glanz in ihren schönen Linien verzerrt.

Sie nahm störrischen Anlauf, den fremden Einfluß zu überwinden.

»Ich finde, sie sehen sehr prächtig aus.«

Darnach wunderte sie sich, warum sie sich ihm widersetzen wollte; näher an der breiten Freitreppe ging sie etwas langsamer. Nachdenklich mit zögernder Überlegung:

»Ja, in der Nähe, Sie haben recht, die Figuren sehen wirklich recht unschön aus.«

Und darauf war sie wieder bissig unzufrieden mit sich. –

Später waren sie zusammen in großer Gesellschaft in der Sächsischen Schweiz.

Beim Steigen durch die Wälder zur Bastei, blieb er immer dicht bei ihr. Sie fühlte, daß er der einzige war, zu dem sie ihre Naturliebe offen ausjauchzen durfte. Sie zeigte ihm all die feinen Lichttöne und Farbenregungen im grünen Geäder der Farren, im glimmernden Moos, im sonnenduftigen Tannenblau. Sie freute sich an seinem Verwundern, an dem staunenden Erwachen seiner Augen und an der Wärme, mit der er ihr dankte.

Am Abend vergaß sie zum ersten Male, einen Brief, den sie von Martha ungeöffnet in der Tasche trug, zu lesen. –

Eines Morgens saß Josa mit ihrem Skizzenbuch am Parkende und versuchte die Loschwitzer Höhen zu zeichnen.

Es war recht lauschig in dem gründämmerigen Ulmenwege. Das Licht schwamm in gedämpfter Helle, nur hie und da schlug der silberne Morgenhimmel grelle Breschen durch das Laubgewölbe.

Draußen unumschränkte Sonnenflut. Die Farben schwiegen geblendet. Die Berge drüben schimmerten blaßgrün, am Rande mattblau, tiefer am Hange graugelb. Unten breit und selbstbewußt die Elbe.

Sonne und Wasser kämpften lebhaft. Die Strahlen zersprangen an der Glätte, es wühlte wie zuckende Dolche in den Wellen.

Wenn ein Dampfschiff vorüberzischte, rauschte der Strom aufgeregter, breite Zungen krochen zum Ufer, ein dumpffeuchter Luftstrom schwoll bis herauf zum Parke, die Blätter und Zweige reckten sich und sogen begierig die Kühle.

Josa war mit der Zeichnung fast fertig, da kam Theodor vom andern Ende des Hanges. Er schien sie nicht zu bemerken. Er hielt ein Papier in der Hand und las.

Sie zeichnete etwas erregter. Sie sah nicht auf, aber sie wußte genau, wie er jetzt im Näherkommen aussah. Er mußte durch das Mosaik der Licht- und Schattenflecken, welche die Sonne am Boden ausbreitete. Dann glitt ein Wirbel von Hell und Dunkel, immer hell und dunkel über sein Gesicht, seinen Körper, das Papier. Er würde nicht mehr lesen können, aufsehen, und sie überrascht begrüßen.

Noch eine Weile hörte sie seine Schritte im Sande, dann blieb es still. Er beobachtete sie wahrscheinlich. Sie mühte sich ein recht gedankenvolles Gesicht zu machen. Aber dann dauerte es ihr zu lange. Sie strich mit dem Bleistifte gleichgültig über ihre Schläfe und sah auf.

Er stand still, hatte das Papier in der Hand und starrte hinaus in die Sonne. Ihre Bewegung weckte ihn.

Sie begrüßten sich. Er war nicht überrascht. Es lag etwas Leeres in seinen Zügen, gleichsam als ob seine Gedanken an anderen Eindrücken klammerten und Augen und Ohr nur langsam verständen.

Er sagte, er habe sie oben vom Fenster gesehen. Es habe ihn gefreut, daß sie zeichne. Ob man sich das einmal ansehen dürfe. Und dann blieb er eine Weile hinter ihrem Stuhle.

Sie wechselten einige Worte über das Zeichentalent. Aber Josa schien es, als ob immer noch etwas von einer fremden Welt durch seine Aufmerksamkeit schleiche, darum schwieg sie bald, um ihn nicht zu stören.

Eine Weile sah er ihr noch zu, dann richtete er sich auf:

»Ach, es ist doch etwas Schönes, die herrliche Gotteswelt so festzuhalten in Bild oder Wort. Eines so beglückend wie das andere.«

Josa glaubte, dieser Ausruf sei ein schmerzliches Erinnern an seinen aufgegebenen Dichterberuf. So schonend wie man einen Kranken befühlt, fragte sie, ob er jetzt noch manchmal dichte. –

Er sieht sie erstaunt an. »Martha, Fräulein Starke sagte mir, Sie hätten früher gedichtet.«

Ja, er hätte auch mal Verse verbrochen. Dabei kommt nichts heraus. Es ist nichts. Man tastet und greift und faßt doch nichts Festes, Körperliches. »Ich habe es ganz aufgesteckt. Ich ziehe ein energisches, tatkräftiges Leben einem solchen Scheinleben vor.«

Sie war etwas unzufrieden über diese Antwort. Aber sie nickte altklug:

»Freilich, nur immer dichten und malen muß auch auf die Dauer überdrüssig werden. Aber ich meine, so nebenbei, wenn man eben in Stimmung ist. O ja, es ist doch schön!«

Er nickte:

»Man muß aber dazu viel Zeit haben, viel Zeit, Fräulein Josa, um in Stimmung zu kommen.«

Das war ihr wieder nicht verständlich und unbehaglich. Die Skizze war fertig. Sie gingen den Laubengang hinunter.

Die Gittertür stand offen. Draußen schimmerte der Wiesenstreif grausilbern. Die Blüten schwammen wie in grüner Flut über den Halmen. Weißer Schierling, blaue Sumpfblumen, braunrosa Sauerampfer und grellgelbe Dotterblumen.

»Ach, ich habe schon so lange keinen Strauß mehr gepflückt.« Dann stand sie draußen, und lief mit aufgerafftem Kleide durch das nasse Gras. Er blieb zurück.

Als sie mit einem Strauße wieder kam, stand Theodor am Wege, reglos den Blick in den Glanz gesenkt.

In der Ferne glimmerte feuchter Nebelstaub, der Sonnenschein wühlte silberschäumend im niederen Weidenbuschwald, Kräuter, Blüten strahlten, und in dieser Morgeneinsamkeit, dies eifrige Summen der Bienen, das klang wie tief in der Erde gemurmeltes Beten.

Josa hatte sich neben Theodor gestellt, die Farben und die Stille stimmten sie feierlich.

Sie wollte sagen, wie viel lieber sie im Freien bete, als in der Kirche, da begann Theodor vom Dünkel und Hochmut der Menschen zu sprechen. Wie es so wahnwitzig sei, an der Gottheit rütteln zu wollen. Sie offenbare sich doch greifbar, deutlich in all den Wundern ihrer Allmacht. Wenn sie nur die Augen öffnen wollten und sehen, sie müßten ja glauben.

Josa wurde in ihrer weihevollen Stimmung von seiner bitteren Klage tief ergriffen.

Schüchtern versuchte sie zu beruhigen:

»Das sind auch nur ungebildete Menschen, gefühllose Menschen, die so ungläubig sein können. Und wohl auch nur recht wenige.«

Er sah sie fast erstaunt an:

»Da irren Sie aber sehr, mein liebes Fräulein, es sind nicht Ungebildete, – die Ungläubigsten sind diejenigen, welche sich die Gebildetsten nennen. O – und es gibt leider sehr, sehr viele Gottesleugner –« – – er klopfte mit dem gekrümmten Zeigefinger auf das Briefkuvert. »Heute, hier, bekam ich auch wieder ein recht schmerzliches Bekenntnis zum Sonntagsgruß.

Ein Freund von mir, wir waren von Jugend auf engbefreundet, schreibt mir, daß er sich vom Glauben losgesagt habe. Es ist ein sehr begabter, talentvoller Mann, er dichtet und schreibt, ich hatte ihn recht liebgewonnen, – – – das tut weh, wenn man die verlieren muß, die mit einem gleiche Ansichten gestützt haben. Sehr weh.«

Josa war erschüttert. Ein solch grausamer Schlag hatte ihn getroffen. Und er war so lange neben ihr hergegangen, hatte die Kraft gehabt, ruhig mit ihr zu plaudern!

Sie sah ihn mit scheuer Bewunderung an. Wie leid er ihr tat. Wie sie sich klein gegen ihn fühlte. Aber sie war auch stolz, daß er ihr seinen Schmerz vertraute.

Sie hätte ihn gerne getröstet. Sie wollte ihn auf andere erquickendere Bilder bringen. Erst wollte sie von Martha reden, aber sie überschwieg diesen Gedanken und sprach vom Reisen und ließ sich von Italien erzählen. Dazwischen fragte sie sich verwundert, warum sie nicht von Martha sprechen wollte, neugierig betastete sie ihre Gefühle, plötzlich als ein Rotkehlchen vor ihnen im Busche hüpfte, vergaß sie alles, faßte eifrig Theodors Arm:

»Nein, sehen Sie nur, wie weich, wie zart. Die Brustwölbung und die Äuglein, wie das blitzt und blinkt, nicht eine Minute bleibt es ruhig, immer das Köpfchen hin her, hin her – –«


Am Nachmittage regnete es. Man saß im Hause in den Zimmern. Josa sah Stereoskopbilder an. Theodor hatte einige Zeit neben ihr gestanden, neue Bilder eingesteckt, – Landschaften, Schweiz, das Meer, Petersburg, Italien. Einen Augenblick lag seine Hand ganz dicht neben der ihrigen auf der Tischplatte. Es war eine breite Hand, etwas horngelb, die Haut stark, die Adern sah man nicht durch. Vom Arm bis an die Fingerknöchel wuchsen große, weiche, dunkle Haare aus weiten tiefen Poren.

Josa lehnte mit der Stirn am Stereoskopkasten, sie sah aber nichts. Sie behorchte die Wärme, die von seiner Hand auf die ihre strahlte. Sie wagte sich nicht zu rühren, es war ein wohliges Behagen, so dicht bei ihm zu sein.

Dann wurde er gerufen. Sie getraute sich immer noch nicht umzuwenden. Sie fühlte seine Wärme immer noch.

Sie hatte ihn schon lange geliebt. Aber bisher immer nur für Martha. Nun wußte sie, daß sie ihn niemandem geben könne, auch nicht der Freundin. Martha mußte entsagen. So wie Josa liebte sie ihn auch nicht. Sie hatte sich nie besonders lebhaft in den Briefen nach ihm erkundigt. Sie würde sich trösten müssen. Wenn nicht, nun – dann könne sie ihr nicht helfen.

Josas Gedanken wurden heftig und stießen mit gehässigem Umsichschlagen alles von sich, was sich gegen ihre Liebe auflehnte. Sie wurde immer erregter.

Es war Dämmerung geworden. Hedwig kam und setzte sich an das Klavier.

»Siehst du denn noch, Josa?«

Josa hatte die Stereoskopbilder ganz vergessen.

»Nein, ich wollte eben aufhören.«

Hedwig spielte. Nebenan in den Zimmern plauderte man laut, aber Josa konnte Theodors Stimme nicht finden.

Sie stand langsam auf, um hineinzugehen. Aber das Gehen wurde ihr beschwerlich. Sie blieb am Flügel stehen, stützte den Kopf auf den Arm und starrte in das Innere des Instrumentes. Da huschten und sprangen die kleinen Hämmer mit munterer Eilfertigkeit. Es war da drinnen wie eine Welt für sich, unbekümmert um die Menschen und die Kraft, die sie weckte, nur mit ihren eigenen kleinen Leben beschäftigt. Sie taten so wichtig. Es war ordentlich lächerlich.

Josas Gedanken beruhigten sich. Sie begann, weicher, schwermütiger zu werden, und als Hedwig fertig gespielt hatte, sagte sich Josa mit tragischem Ernst, daß sie verzichten müsse und verzichten könne. – Aber sie glaubte es nicht.

*

Die Pfingstferien waren zu Ende. Theodor reiste wieder nach Leipzig.

Josa tastete noch einige Zeit mit Hoffnungen und Zweifeln in halbdunkeln Erwartungen. Manchmal überfiel sie eine eigensinnige Ungeduld. Ihre Gedanken waren wie in Netze verstrickt und sträubten sich und zerrten und fanden keinen Ausweg.

Allmählich legte sich weiche Müdigkeit in das Chaos, und die Hoffnungen und Zweifel schliefen erschöpft. In solchen Stunden war Josa von zärtlichem Mitleid mit sich erfüllt. So behutsam trat dann ihr Wille auf, so leise schlich dann die Lust zum Leben durch die Nerven, und die störrischen Wünsche hockten reuig mit schuldbewußter Scheu in einem Winkel, und schielten ängstlich auf das zitternde Blut und die blassen Kräfte.

Theodor hatte beim Abschied gefragt, ob er ihr schreiben dürfe. In ein paar Jahren hoffe er auch wieder nach Süddeutschland zu kommen, dann würde er den Pfauenhof besuchen. Sie möge Fräulein Starke grüßen. Er freue sich auf ein Wiedersehen.

Dann hatte sein Christusblick tief in ihre Augen gegriffen, und er hatte ihr die Hand geschüttelt.

Diesen Blick und Händedruck trug sie wie ein Geschenk bei sich, sie holte ihn oft vor und labte sich an ihm.

Im Juli reiste Josa von Elbhausen fort. Nach Hannover, um eine Tante und das Grab ihrer Mutter zu besuchen.

Neue Bilder, neue Stimmungen drückten allmählich die Lebhaftigkeit ihrer Gefühle nieder. Da sie nichts von Theodor hörte, erhielt ihre Sehnsucht keine Nahrung und erblaßte. Sie wuchs aus ihren Empfindungen heraus und fragte sich erstaunt, wie sie so stürmisch habe fühlen können. Sie belächelte die Josa von damals, wie Erwachsene Kinder belächeln. –

Trotzdem fröstelte es Josa doch, wenn sie an die Heimkunft dachte. An die lust- und leidschillernden Möglichkeiten, welche die Zukunft bringen konnte.

Martha mußte wohl nach Theodor fragen. Sie hatte ihr genug von seinem Interesse für Martha geschrieben. Aber auch das hatte seinen anreizenden Stachel. Es war gruselnd, auf einer Kante zu balancieren, in jedem Sekundenschlag den Schreck des Sturzes vor sich und das prickelnde Entzücken der Erlösung hinter sich. Und Josa liebte dies Gruseln. –

An einem Septemberabend kam sie wieder in Würzburg an. Ihr Bruder und Martha waren am Bahnhof. Aber Martha wollte nicht mit auf den Pfauenhof kommen.

Erst wunderte sich Josa, dann aber dachte sie: es ist besser so, bis morgen habe ich mich auch mehr gesammelt und kann harmloser von Theodor erzählen.

Josa und Martin fuhren allein.

»Martin, du bist so stumm?«

»Ich? So? – Josa, was würdest du sagen, wenn ich mich verlobte?«

»Ach jeh, Martin.«

»Warum nicht?«

»Verloben? Mit wem denn?«

»Mit Fräulein Starke!«

»Mit Martha?«

»Hm.«

»Aber will sie denn?«

»Wir haben nur auf dich gewartet, bis du zurückkommst.«

»Und davon habt ihr gar nichts geschrieben. Nicht möglich –! So etwas! – Erzähl doch mal. Nein, pfui, du willst mich zum besten haben.«

Und er erzählte, und Josa staunte, aber noch nicht bewußt freudig, nur zitternd erregt, mit betäubten Gedanken in der Gefühllosigkeit der Verblüffung tastend.

In der Erntezeit sei sie öfters heraufgekommen, habe gesehen, ob alles in Ordnung sei, Wäsche und Küche und Zimmer. Er hatte manche Wirtschaftsangelegenheit mit ihr besprochen. Einmal, als er sie im Gartenzimmer getroffen habe, am Boden kniend, die Fransen des großen Teppichs nähend, da sei ihm der Gedanke gekommen, wie gut sie in die Häuslichkeit passe. Dann ein anderes Mal hätten sie zusammen Kaffee getrunken, das Mädchen habe ihr durch Zufall Großmutters Tasse gegeben, auf welcher » der Hausfrau« steht. Sie sei rot geworden, das habe ihm Mut gemacht.

»Nun und wie das eben ist, – – vorgestern habe ich mir ein Herz gefaßt – – – – so war es. Dir scheint's nicht recht zu sein. Du sprichst gar nichts?«

»Mir?« Und Josa sagte ihm, wie aufrichtig sie sich freue.

»Nun, wenn Martha auch meine Frau wird, deshalb bleibt sie doch deine Freundin.«

Josa ließ ihn beim Glauben, als ob es das sei, was ihr im Augenblick die Sprache lähmte. – –

Sie hatten sich gute Nacht gesagt, Josa stand allein in ihrem Zimmer. Erst ging sie langsam um den Tisch. Dann breitete sie die Arme und drückte sie wieder zusammen, als ob sie jemanden an sich presse, dann ging sie immer schneller und schneller und umarmte die Luft immer heftiger.

Sie wurde schwindlig und mußte sich auf ihren Koffer setzen. Sie schüttelte sich in stillem Lachen und rieb das Gesicht mit den Händen.

Plötzlich nahm sie eine sehr ernste Miene an. Sie wollte sich erheben, war aber immer noch zu schwankend. Sie begann sitzend ihr Jackett aufzuknöpfen. Die Finger zitterten und kitzelten, und es prickelte wie Sand in den Gelenken. Sie erinnerte sich, wie sie in der Schule gespottet hatte über ein junges Mädchen, das alle Knöpfe auf einmal aufriß. Sie würde es nie so machen. Plötzlich – ein Ruck, – da – da, ein, zwei Knöpfe sprangen ab. Sie lachte. Hob mit schwankender Hand das Licht vom Tische, stellte es auf den Boden und rutschte auf den Knien, nicht nach den Knöpfen, sondern immer rund um das Licht. Sie starrte einige Zeit in die Flamme, senkte den Kopf, ließ einige Haare flink aufkräuseln, sog den stechenden Brandgeruch ein, dann lachte sie wieder. Aber nun war ihr Lachen träger, gedankenvoller. Die Arme, der Rücken begannen steif zu werden, da ließ sie sich völlig auf die Erde fallen, streckte sich in ganzer Länge aus und begann nun abwechselnd mit den Stiefelabsätzen auf den Teppich und mit dem Hinterkopf auf die blanke Diele zu klopfen. Dabei lachte sie, und in ihren Gedanken drängte sich nur manchmal ein schattenhaftes Bewußtsein auf, als ob dies alles eine andere tue und sie nur von weitem zusehe.

Martin schlief im Nebenzimmer. Plötzlich hörte sie ihren Namen rufen und an der Tür klopfen. Rasch schlug sie mit der Hand auf das Licht.

Die Türe wurde etwas geöffnet. »Josa, bist du schon schlafen gegangen?«

»Ja.«

»Ich wollte dir nur sagen, du sollst dich nicht erschrecken, wenn du Schritte über dir hörst. Es ist der Doktor. Er studiert manchmal bis in die Nacht hinein und geht dabei auf und ab.«

»Welcher Doktor? – Ach ja, ich weiß schon. Ja, danke.«

»Gute Nacht.«

»Gute Nacht.« –

Martin hatte im Juni geschrieben, der Neffe des Sanitätsrates Sebald habe ein Mansardenzimmer für den Sommer gemietet. Er sei lungenleidend. Er sollte in frischer Luft wohnen.

Sie blieb noch eine Weile liegen und horchte. Oben war alles still. Dann stand sie leise auf. Draußen mattdunkle Nacht. Sie stützte sich auf das Fensterkissen und wollte weiterträumen, aber über ihr preßten sich zwei Lichtsäulen vom Dachsims in die Finsternis, das störte sie.

Sie stellte sich vor, wie der Mensch dort oben in seinen Gedanken wühlte und sich quälte. Er kam ihr armselig vor. Sie tauchte wieder in ihr eigenes Glück und ließ die Wellen hoch über ihrem Herzen zusammenschlagen.

Wie das Glück sie wohl kleiden mochte?

Sie zündete vorsichtig ein Streichholz an und trat vor den Spiegel. Ihre Wangen strahlten und die Wimpern zitterten. Sie wunderte sich einen Augenblick, daß sie sich noch so ähnlich war.

Das Streichholz erlosch langsam, ihr Gesicht versank immer grauer. Sie legte im Dunkeln ihre Lippen auf den Spiegel und küßte das kalte Glas. –

In der Nacht geschah es, daß sie halb im Traume sich mit Innigkeit in die Kissen preßte und mit stürmischem Sehnen heftige Küsse auf das Pfühl drückte.

Dann erwachte sie. Aber kaum mit einem Hauch von Enttäuschung. Sie hatte solch Verlangen nach ihm gehabt, es war ihr dann wirklich, als habe sie ihn geküßt. Sie wühlte sich entzückt und befriedigt wieder tief ein und wünschte von neuem so glücklich zu träumen. – –

Am nächsten Tage verlobten sich Martha und Martin. Ein Brief von Theodor war gekommen, und Josa dünkte sich so glücklich wie beide zusammen.

Am Abend fuhr ihr Bruder Martha nach Hause. Die Aufregungen hatten Josa müde gemacht. Sie löschte im Gartenzimmer die Klavierkerzen, ging nebenan in den kleinen Salon und legte sich auf das Sofa.

Geradeaus, an der gegenüberliegenden Wand das hohe Fenster von hellen, durchsichtigen Vorhängen verschleiert. Draußen der Abendhimmel so blank klar, als ob es Mondschein wäre. An den Wänden leiser Glanz von Gemälden und Goldleisten. Die Möbel in unbestimmten, zusammengeballten Massen, nur hier und da wachschimmernde Lackteile. Im Korridor gingen hin und wieder weichumhüllte Frauenschritte. Eine Türe wurde geschlossen. Aus der Küche klapperte es. Dann irgendwo eine Stimme, ein Geräusch, und unten vom Garten herauf zirpte ein Heimchen, schrill, heftig durchdringend, kurze, scharfe, kritzelnde Zickzacklaute, man glaubte sie in der Luft stehend, wie grellblanke, wetzende Lanzen.

Josa lag und lauschte.

Manchmal klappten ihre Fußspitzen zusammen. Dann begann sie die ausgestreckten Füße hin und her zu wiegen. Der eine der kleinen Pantoffel lockerte sich und klapperte auf den Boden. Sie hörte ihn immer noch poltern, immer einen Berg hinunter, immer weiter rollen, und sie rollte mit, immer dem Pantoffel nach, immer den Berg hinunter. Dann war sie eingeschlafen. Es lief ihr jemand nach. Die Schritte wurden lauter, kamen näher, sie wollte schreien und wachte auf.

Es war jemand im Zimmer. Sie hörte eine Streichholzschachtel rasseln.

»Martin?«

»Entschuldigung, ich bin es, ich wollte nur meine Bücher holen!«

Der Doktor! Josa wollte rasch aufstehen, aber nun verlor sie auch den andern Pantoffel.

»Verzeihung, es tut mir leid, daß ich störe. Bitte, ich finde schon, ich weiß ganz genau, wo sie liegen.«

Josa war sehr verlegen. Sie zog die Füße unter das Kleid und wartete, dann aber kam ihr alles recht komisch vor, sie biß sich auf die Lippen, um nicht zu lachen.

Er empfahl sich bald und entschuldigte sich nochmals. Während Josa mit den Füßen nach den Pantoffeln angelte, dachte sie: es war doch recht taktvoll von ihm, daß er kein Licht machte. Es muß ein angenehmer Herr sein. – –

Martin hatte ihr gesagt, daß Doktor Wicking meist bis Abend in der Stadt beschäftigt sei. Er käme nur Sonntags hie und da herunter zu ihnen. Er studiere Botanik, streife meist oben in den Steinbrüchen und im Walde umher und bringe Arme voll Blumen heim. Er sei sehr fleißig und gar nicht hochmütig, recht liebenswürdig.

Am nächsten Abend war Josa zufällig in der Küche, als der Doktor wiederkam und um ein Glas für seine Blumen bat. Es war wieder dunkel, und sie mußten lachen, weil sie sich immer im Dunkeln trafen.

Josa hatte wieder ihre ganze Sicherheit. Mit der Würde einer Hausfrau bat sie ihn, einen Augenblick in das Zimmer zu kommen. Warum sie das gesagt hatte, wußte sie eigentlich selbst nicht. Es war ihr, als müsse sie ihm das danken, daß er sie am gestrigen Abend nicht in Verlegenheit gebracht hatte.

Sie traten in denselben kleinen Salon. Es war noch schwach dämmerig. Sie wollte die Lampe anzünden, er meinte, es sei ganz gemütlich so, sie liebe doch auch die Dämmerung.

»O ja, sehr. Da plaudert es sich so gut.«

Dann saßen sie sich gegenüber und sprachen kein Wort. Einer wartete auf den andern. Allmählich übte doch die Dunkelheit ihren traulichen Zauber, und Gedanken und Worte lösten sich.

Er sagte, daß es hier oben auf dem Berge immer so beschwichtigend still sei.

Josa stimmte ihm innig bei:

»Ja, nicht wahr, es ist das Schweigen wie in den Märchen. Wenn die Menschen fort sind und all die toten Dinge zu atmen beginnen und zu flüstern und zu wispern.«

»Ganz recht. Es ist ein solch wunderbares poetisches Schweigen.«

Josa freute sich über die Wärme, mit der er das sagte. War es die weiche, hüllende Dämmerung oder seine leise schmiegsame Stimme, sie fühlte sich so behaglich in seiner Nähe, als ob sie sich schon Jahre kannten. Sie erschloß ihm ihre innerste Gedankenwelt und sprach mit einer Vertrautheit, wie sie nur das Bewußtsein des Verstandenwerdens gibt.

»Wissen Sie, manchmal wünschte ich mir, die Geschichte des Zimmers zu hören. Ich stellte mir vor, daß in jeder Sekunde dieser Ruhe hier ein lautloses summendes Gespräch ist; daß sich Blumen und Figuren und Bilder ansehen und verstehen. Und ich wünschte einmal mein Ohr an das Schweigen zu legen. Was man da alles erlauschen könnte, glaubte ich. Wie man als Kind einfältig ist. Aber ich fühlte mich ganz glücklich dabei. Das war so geheimnisvoll.«

Sie kauerte sich eng in die Sofaecke, behaglich fröstelnd im Märchenschauer.

Sie sah, wie der dunkle Umriß seines Kopfes langsam nickte, und dann lauschte sie, er strich mit der Hand immer wieder über den Plüsch des Sessels, immer wieder.

Im Nebenzimmer gingen Schritte. Oben durch die Türspalte glitt ein mattgelber Lichtstreifen an der Decke entlang, blieb stehen, sah sich verwundert um, schwebte langsam ans Fenster und verschwand. Drüben ging wieder die Türe und dann blieb es still.

Er sagte, er könnte stundenlang das Schweigen belauschen. Er sagte es behutsam, mit weichgleitender Stimme, als wolle er jeden Laut der Stille des Zimmers anschmiegen, ganz vorsichtig und voll zarter Rücksicht, wie man nur spricht, wenn man eine Stimmung nicht durch Worte verscheuchen will.

»Früher habe ich die Sprache der Blumen und Vögel und Tiere ganz anders verstanden als jetzt. Als Kind habe ich mit allem gesprochen und mit allem gefühlt. Ich glaubte bestimmt, daß ich ebenso verstanden würde. Dann kamen die Jahre des Verstandes, der die Dinge nur als Dinge betrachtet. Der sagt, so sehen sie aus, daraus sind sie gemacht, das ist ihr Zweck. Zuerst war ich recht enttäuscht. Ich litt unter dieser rauhen plumpen Art und Weise. Ich sehnte mich nach der kindlichen Auffassung, es wurde mir recht wehmütig. Der Verstand faßte so rücksichtslos derb zu, die Dinge wurden kahl und seelenlos. Ich verstand die Natur nicht mehr. Erst ganz allmählich kam ich darauf, daß der Verstand mir eine viel feinfühligere Natursprache offenbare. Ich entdeckte tausendfältige Gefühlsempfindungen. Jedes Ding sprach nicht mehr meine Sprache, jedes kleinste Wesen hatte seine eigenen wunderbaren Laute. Überall fand ich reizvoll Neues, von den ersten Keimlegungen bis zu den Bewegungsgesetzen des Weltalls – –.«

Seine Stimme war nicht hastender und nicht lauter geworden. Immer diese schlichte, gleichmäßige Art, das gab seinen Worten wohltuende Überzeugungskraft.

Josa wunderte sich, wie er so einfach, ohne jedes energische Stimmkrampfen sprach. Das weckte in ihr noch größeres Vertrauen.

Dann kicherte sie in sich hinein. Sie hatte noch gar nicht sein Gesicht gesehen. Daß er groß, einen Kopf größer als sie war und schlank, wußte sie. Sie war recht neugierig auf sein Gesicht.

Das Mädchen deckte nebenan im Gartenzimmer den Tisch. Beim Auflegen der Gabeln schwang ein feiner Metallton mit. Josa erhob sich langsam, dann gingen sie in das helle Zimmer. Sie waren beide geblendet. Er nahm sein Pincenez ab und putzte es. Sie hielt die Hand vor die Augen, sah aber nicht neugierig auf ihn, gerade nach der entgegengesetzten Seite.

Sie standen noch einen Augenblick zusammen, sie sprachen über Klavierspiel. Er sagte, daß er gar nicht musikalisch sei, sie wunderte sich, und nun sah sie ihn an. Er war bleich und hohlwangig. Sie mußte an einen Totenkopf denken.

Und wie sie ihm jetzt im Hellen gegenüberstand, war er ein ganz anderer Mensch, als der, mit dem sie vorher im Dunkeln gesprochen. Die Harmlosigkeit wurde von straffen Höflichkeitsfalten entstellt. Stimme und Bewegungen, alles steifer und beherrschter. Es war, als sei das Licht wie ein Keil zwischen sie gefallen und dränge ihre Gedanken unbehaglich scharf beleuchtet auseinander.

Er wurde still. Sie machte die Situation durch erzwungene Phrasen noch ungemütlicher. Dann trennten sie sich mit zeremonieller Verbeugung. – – –

Zu jeder anderen Zeit hätte Josa ein Charakter wie der Dr. Wickings ungemein gefesselt.

Mit gärendem Drange, womit sie sich für alle Reichgeistige begeisterte, würde sie seinen Umgang gesucht haben. Denn es lagen in ihr noch viele lechzende Zweifel. Aber jetzt wurden alle weltfragenden Gedanken vom hochjauchzenden Liebesverlangen übertönt.

Die Liebe hatte ihr Empfinden vom Tagesgeräusch fortgezogen. Sie hatte sich in warme Einsamkeit eingewühlt, in wogende Dämmerungen, in betäubenden Scharlach und schwülen Purpur. Eine Wolke aus Weinglut und Mohnduft lagerte auf all ihren Sinnen. Blind für das Licht, taub für den Ton, ließ sie sich nur tragen und wiegen vom kosenden Schaum eines aufdämmernden Entzückens.

Zuerst behielt Josa ihr Glück für sich. Als es aber immer höher schwoll, konnte sie es nicht mehr bergen, und dann freute sich Martha mit ihr.

Seit jenem Abend sah Josa den Doktor nur flüchtig von weitem, kaum, daß sie sich grüßen konnten.

In der Nacht hörte sie ihn oft über sich gequält husten. Dann sagte ihr Martin, es war im Herbst und die Tage feuchter: »Er will Ende der Woche abreisen, nach dem Süden, nach Meran oder dem Genfer See, er sieht sehr, sehr schlecht aus, er wird wohl nicht lange mehr machen. Schade.«

Als er seinen Abschiedsbesuch machte, war Josa zufällig nicht zu Hause. Am nächsten Morgen hatte sie verschlafen; als sie aus ihrem Zimmer kam, war Doktor Wicking abgereist. –

Martha und Martin hatten keinen Grund zu längerem Warten, so wurde die Hochzeit noch im Oktober gefeiert.

Martha war wie eine Mutter zu Josa und half ihr die Sehnsucht tragen. Josa hätte am liebsten täglich an Theodor geschrieben. Ihr Briefverkehr war ziemlich rege geworden. Josa wußte ihn durch immer wechselndes Funkenschlagen zu lebhafterer Wärme zu steigern. Der Winter kam, sie schrieb von Theater und Konzerten, aber am meisten schrieb sie von Naturstimmungen. Besonders, seit er öfters um eine schriftliche Farbenskizze gebeten.

Sie malte ihm das Leben auf dem Pfauenhofe, wie es am Morgen war, an laufeuchten Wintermorgen, wo der Tag so langsam herauskroch, rings in weißen flachen Nebeln die Stadt, die Berge, die Ferne, alles in blasses Nichts zerronnen; Himmel, Erde eine weite ungeheuere Einsamkeit, mit großen leeren Augen. In den Zimmern unruhige fremde Helle, nackte Verlassenheit umklammerte die Wände, das ganze Haus. – Und harte glitzernde Februarnächte. Bleiche Eisspiegel auf welkem jährigen Laube, graue, geborstene Schneerinden, in Rinnen und Graben ungeduldiges Rieseln und Sickern. Endlich – Frühling. Scheue, zage Sehnsucht, lind und weich wie schmiegsame Märzluft, tränenfeucht und zitternd wie seufzende Märzluft. Und Julibrand, und Herbsttaumel, wieder Winter, wieder Frühling, und dann eines Tages im brennenden Sommerschweigen die schauernde Erwartung. –

Alles reglos bleich im stieren Mittagslicht. Die Hitze staut sich zwischen dem Blau und der Erde. Eine schwere, stockende Hitze, welche jede Bewegung hemmt. Sonnenschein auf den Bergen, Sonnenschein auf dem Grün, Sonnenschein über dem weiten Himmel. Überall stummbrütender Sonnenschein.

Über der Ferne schlummern grübelnde blaue Schatten, näher im Tale dumpfe mattviolette Schatten, aber alle niedergedrückt von dem schwerfälligen Licht.

Die Natur hält Siesta. Reift behaglich und träumt und rinnt, blinzelt und lacht, streckt sich und gähnt. Alles Leben scheint in träges müdes Schweigen aufgelöst.

Ein großes Schlafen breitet sich über den Pfauenhof.

Die grauweißen Tuchvorhänge fallen schlaff vor den Fenstern nieder. Die Glastüre zur Terrasse weit offen. Drinnen weiches zerschmolzenes Dämmerlicht. Wie eine träumende Wolke füllt es die Räume. Über den matten Tapeten, über den trägen Möbeln, überall dumpfstockendes Halbdunkel.

Auf dem runden Tisch eine mächtige grüne Tonvase, voll Heliotrop und Nelken und Seerosen. Unter der burgunderroten Plüschdecke blinkt ein leises Glänzen. Zwei spitze, feuerblaue Samtschuhe mit seinem Goldsaum, Seite an Seite im Warten eingeschlafen. Daneben eine kleine Blumentischgießkanne. Gerade darüber eine niederhängende Hand, die Adern stark aufgetrieben, am Goldfinger ein neuer Trauring. Auf der Schwellung des Sofapolsters hinter dem Tisch ein heller Schimmer. Eine weiße Schürze zur Höhe geschlagen, darunter in den leichten Falten des Nesseltuches die Konturen eines Gesichtes. Ab und zu läuft eine Fliege darüber und bohrt den Rüssel durch die Löcher des Gewebes. Das Tuch hebt und senkt sich regelmäßig. Durch die Stille geht ein weiches Atmen.

Alle Türen sind geöffnet. In jedem Zimmer wiederholt sich die Dämmerung mit leise wechselnder Kraft. Die Glastüre des Eckschrankes spiegelt den Eingang zum dritten Zimmer wieder. Ein dünner Rauchfaden kriecht dort zögernd durch die Portieren. Drinnen an der Diele liegt eine eben angezündete Zigarre. Aber es bückt sich niemand, sie aufzuheben.

Das Dunkel schleicht auf den Zehen durch den langen Korridor. Die Gartenhüte hängen hier, Josas Hut fehlt und auch die Hängematte. An der Schwelle zur Küchentüre bleibt das Dunkel geblendet stehen. Auf den grauroten, sonnenhellen Fliesen streckt sich der langgezogene Schatten eines Stuhles und darauf der schwerfällige nickende Schatten einer Gestalt. Und alle Schatten rücken von Minute zu Minute kaum merklich zur Seite. Die großen schillernden Fliegen auf den warmen Sandsteinplatten rücken immer schlaftrunken mit.

Üppiger Gewürzduft und schwüles Kaffeearoma drängen durch die Ritzen hinaus. Das Dunkel gleitet mit ihnen durch das Treppenhaus, durch die Türspalte in den Hof, mattgrün unter dem Weinrankendach hin und dann durch die Ulmen, die Kastanien und Fliederbäume. Unten kauern die Hühner. Der Hahn, den Kopf geduckt, auf einem Beine. Manchmal krümmt sich in der Hitze eine Feder. Das Dunkel fällt blauschwarz in die Schmiede. Wühlt in der kalten Asche. Springt zur Esse hinaus. Schnurrt am Dachsims entlang. In der Rinne nieder. Fort an den Scheunen, am Zaun, unter die Riesenfächer des Huflattichs, über eine schlummernde Entenfamilie. Das Dunkel streicht weiter, braunrot durch den reifen Roggen, den Berg immer höher, mattgrau am glitzernden Klee vorüber, unter Schlehhecken, durch Klematisgerank. In großen Sprüngen über den Wegstein. Dann wälzt es sich in eine Senkung zwischen zwei Hügel, voll Obstbäume, in ein Haferland. Hier liegt es milde um einen ehrwürdigen Nußbaum, wiegt sich auf den Halmen, saugt den säuerlichen Blätterduft und dämpft den Herzschlag der Einsamkeit.

Die Luft rauscht. Plump fliegt der Pfau vom Scheunentor über das Dach und läßt sich auf die Terrassenbrüstung nieder. Unruhig reckt er den schimmernden Hals. Ein grelles Kreischen prallt gegen die Stille. Drüben am Festungsberg und weiter über das Maintal schreckt eine Echokette auf und antwortet mit taumelnder Stimme.

Nochmals und wieder das lallende Echo.

Aber diesmal kein Pfauschrei. Oben vom Nußbaum ein jauchzender ungeduldiger Sehnsuchtsruf:

»Theodor!!«

Theodo – – Theo – Theo – The – flattert es zurück.

Und plötzlich unten im Grunde, wo der Weg zum Pfauenhof emporbiegt:

»Josa!!«

Josa – Joa – Ja –!!

Dann Schweigen. Wie verblüfft, mit weit aufgerissenen Augen horcht die Stille vom Berge nieder.

»Josa!!!«

Josa – Joa – Ja –!

Zögernd mit betroffener Stimme klingt die Antwort:

»Theodor!«

Aber so schüchtern, so glückscheu, daß kaum ein Echo es zu wiederholen wagt.

Doch. Josa! schmettert es noch einige Male. Immer näher zum Pfauenhofe, immer höher den Berg hinauf, am Roggen, am Klee vorüber, zum Haferland. Unterm Nußbaum sinken zwei Freudenrufe zusammen.

Dann alles erloschen. Das Schweigen schlägt von neuem seine starren Kreise um den Hof. Der Pfau sieht sich verwundert um, fliegt zurück, auf das Scheunentor und schläft weiter.

Licht und Luft und Farben schlafen mit ihm. Nur oben am Berge schlagen Rosen heimliche Funken, süße berauschende Funken.

*

Seit Josa verlobt, war eine eifernde Religionsgier über sie gekommen. Ihr Glaube war früher stotternd und wankend, oft über die Schulter und oft nach rechts und links sich wundernd, vorwärts geschritten. Jetzt schnellte er empor nach jenem Ziel, das auch sein Ziel war, wo ihre beiderseitige Liebe in einem glühenden Kern zusammenschmelzen sollte.

Sie gab sich keine Zeit zur Besinnung. Ihre Hast war nicht die Flucht vor verschütteten Vernunftgründen. Das Ringen nach der Glücksvollkommenheit, die Begierde, daß sein Himmeljauchzen glatten Widerhall in ihr finden sollte, das gab ihr den Übereifer, diese plötzlich laut wirbelnde Kraft.

Es war noch so vieles in ihr, das ihm noch nicht ähnlich. Sie wollte mit jedem Atom ihm gehören. So begann sie sich mit wollüstigem Fanatismus umzuwühlen.

Sollte sie sich umgestalten, mußte auch die Luft, in der sie atmete, mit ihr in gleichen Gefühlen schwingen. Sie strebte, wie alle leidenschaftlichen Naturen, darnach, auch ihre Umgebung in das Joch ihrer Überzeugung zu zwingen.

Sie führte im Pfauenhofe ein, daß morgens nach dem ersten Frühstück ein Abschnitt aus der Bibel gelesen wurde. Ebenso am Abend vor dem Schlafengehen. Martha, die immer an Josa innige Frömmigkeit vermißt hatte, stimmte das glücklich. Martin stutzte etwas, ließ sich aber mit behäbiger Ironie die Bibelvorlesungen gefallen.

Die Hochzeit sollte sein, sobald Theodor eine Anstellung hatte. In ein oder zwei Jahren. Er hatte einstweilen eine Religionslehrerstelle in einem Knabeninstitut angenommen. Die Anstalt gehörte einem Pfarrer. Lag einsam bei einem Gebirgsdorfe auf einem alten Schlosse. Wurde meist von jungen Ausländern besucht. Theodor hätte bequem in der Villa seines Vaters auf eine Stelle warten können. Er fühlte sich aber nur in der Arbeit befriedigt. Dann konnte er in jener Stellung auch ab und zu den Pastor vertreten und übte sich so im Predigen. –

Zu Anfang des Herbstes kam ein Brief von Doktor Wicking, der wegen des Zimmers anfragte. Acht Tage später kam er selbst. Er hatte in Würzburg eine Assistentenstelle angenommen und arbeitete nebenbei an einem botanischen Werke: »Die Desmidiaceen.«

Manchmal begegnete ihm Josa auf dem Berge. Dann wechselten sie einige Worte. Zu einem warmpulsierenden Gespräch kam es nie. Er war meist von jener nachdenklichen Freundlichkeit, die nur über die Oberfläche des Gesichtes geht. Josa las auf ihren einsamen Wegen im Geiste Theodors Briefe oder schrieb im Geiste Briefe. So lag bei einer Begegnung über beiden ein Netz von Gedanken und hielt ihre Unbefangenheit gefesselt. Sie wechselten krampfhafte Worte, dann trocknete ihre gegenseitige Aufmerksamkeit wieder ein, und sie trennten sich.

Einmal hörte Josa von ihrem Bruder oder von Martha, Doktor Wicking sei freigläubig. In seinem Zimmer lägen atheistische Bücher. Er selbst habe zwar nie über seine Ansichten gesprochen, aber der alte Sanitätsrat habe sich gelegentlich recht betrübt über seine Religionslosigkeit geäußert.

Josa nahm dies zuerst gleichgültig hin. Sie hatte es kaum mit einem Ohre gehört. Sie dachte nicht weiter daran.

Aber dann kam es fast unvermittelt. Im Theater, im Faust. Der Fächer einer Dame duftete nach Hyazinthen. Doktor Wicking hatte gesagt, er liebe diesen Duft vor allen. Und Josa mußte an Doktor Wicking denken. Dann beim Nachhausefahren, stach vom Giebel des Pfauenhofes ein Licht in die Nacht. Martha meinte, der Doktor sei doch gar zu fleißig.

Josa stellte sich ihn vor. Oben in Büchern eingemauert bei der Lampe. Wie Faust! Blaß, schwermütig grübelnd und zwischen den Brauen die graue Furche. Ein Gottesleugner! Der arme verirrte Mensch! –

Wenn er noch zu retten wäre?! – Wenn sie sein Engel würde?!! – – –

Ihre Gedanken schritten über Kirchenfliesen, die Begeisterung schwang die Fackeln hoch und rauschte mit den Siegeshymnen heiliger Chöre.

Sie wollte sein Engel sein!

Mit diesem hochlodernden Vorsatz legte sie sich am Abend nieder. Aber am Tage, im scharfen Wirklichkeitslicht, schien ihr das ungeheuerlich und unmöglich.

Einige Male hörte sie den Doktor auf der Terrasse husten. Sie wollte vor ihn hintreten, aber sie kam nicht einmal in Gedanken bis zum ersten Wort. Dann schalt sie sich, daß sie die Menschen mehr fürchte als Gott, und nun tat sie den ersten Schritt.

Als Doktor Wicking eines Abends aus der Stadt kam, fand er statt des Lohengrin die Sixtinische Madonna über seinem Schreibtisch, und über dem Bett den Christus von Hofmann.

Josa begegnete ihm wieder. Er sprach nicht von den Bildern. Das reizte sie. Sie trieb kühner und rücksichtsloser das Gespräch auf Gott und Religion. Er stimmte mit seiner geduldigen Art stumm bei. Er versuchte nicht einmal mit dem Gespräch abzuspringen. Aber er war in eine Ruhe eingebohrt, an der sie nicht zu rütteln vermochte.

Wagte er sich nicht zu wehren, weil ihr Verlobter ein Geistlicher war? – Manchmal knisterte es wie Ironie hinter seiner glatten verschanzten Stille – das machte sie noch eifriger. –

Am letzten September, als eben die Freitagglocken in der Stadt läuteten, zirpten zwei störrische Stimmchen im Pfauenhof. Zwillinge waren angekommen. Martin war bestürzt wie ein junges Mädchen, aber der Vaterstolz kicherte in seinen vor Aufregung entzündeten Augen. –

Dann kam die Welkezeit. Durchaus nicht tot, einsam. Wirbelnd voll Leben, ein tolles flackerndes Leben. Täglich blühten mehr Farben, schäumten üppigere Gluten. Die Erde wurde so hell, so licht und klar. Geschäftige Feuer, rote, gelbe Flammen, grelle Lohen schlugen auf, dazwischen verzischendes Grün, alles wogte blendend und schmetternd.

Auf der Sonnenseite wühlte zuerst ein stumpfes Lederbraun im wilden Wein. Jeder Tag steigerte die Farbe, tiefer, glimmender, zuletzt schwoll eine satte purpurne Lache über den Zaun, das Gartenhaus und über die Rückwand des Hofes. Auch in den Ulmen und Kastanien, wo sich das Gerank den Sommer über versteckt gehalten, überall quoll es auf und tropfte blutträge nieder.

Der Himmel war täglich vom jähesten Blau. Sonst liebte Josa die Kontraste. Doch dies nackte, sich brüstende Leuchten schmerzte. Es höhnte das verzweifelte Hinsterben der Welt. Sie hätte gewünscht, alles mit einem Male grau, öde, wintereinsam. Sie sehnte sich nach bleicher schneeknisternder Stille.

Eines Nachmittags zog von Westen milchiger Duft vor die Sonne. Das Licht verkroch sich, wie von Staub verschüttet. In der Nacht jagte Regen nieder. Am nächsten Morgen regnete es noch, auch den folgenden, und dann war es ernster gedankenvoller Herbst geworden.

Eines Morgens hatte Josa nachgezählt, wie viele Wochen es noch bis Weihnachten seien. Dann stand sie am Fenster und starrte in den farblosen Morgen.

Die Welt war so eng wie von Leere vermauert und dabei so endlos verlassen. Ihre Gedanken fröstelten und kauerten eng zusammen. Josa mußte an Weihnachten, an die Kindheit denken, sie ging von einem Erinnerungsgrab zum andern, das stimmte sie demütig und versöhnend.

Im Korridor hustete Doktor Wicking, dann ging er, mit Martin sprechend, vorüber.

Ein Gespräch mit ihm fiel ihr ein.

Schlechte Menschen seien ihm immer bemitleidenswert. Er könne nie hart über sie urteilen. Wenn er seine Gedanken auf ebensolche Wege richten würde, halte er sich derselben furchtbaren Handlungen fähig. Solche Menschen täten ihm leid. Die Verhältnisse, unter denen sie aufgewachsen, hätten sie gezwungen, so zu werden. Er finde im Grunde keinen Unterschied zwischen ihnen und den anderen.

Mit vernichtender Christenstrenge hatte Josa dagegen gesprochen. Jeder Mensch wisse, was gut und böse sei. Die zum Bösen neigen, seien zu verachten.

Jetzt, wo sie das nochmals in sich mit unparteiischer Ruhe anhörte, urteilte sie nachgiebiger.

Es war doch wohl recht leicht, ein Unrecht zu tun, wenn Erziehung und Mahnung nicht vor den Folgen gewarnt hatten. Die Gier, sich zu befriedigen, fand keine genügende Hemmung an den wenigen Bedenken, die sich ihr widersetzten. Sie begriff, wie leicht es unerzogenen Menschen werden konnte, einen Fehltritt zu tun.

Sie schämte sich. Sie gestand sich, daß sie es gleich eingesehen, aber zu widerspenstig gewesen, es zuzugeben.

Er war doch besser als sie, trotzdem sie sich gläubig zu sein mühte. Er war aufrichtig. Bei ihr sträubte sich so viel dagegen, aufrichtig zu sein. Sie konnte noch manches von ihm lernen. – – –

Am Blumentisch blickte sie hinaus auf die Terrasse.

Doktor Wicking saß draußen auf einem grünen Holzgestell, darauf im Sommer die Blattpflanzen standen.

Er hatte ein kantiges, regelmäßiges Profil. Nur der untere Teil der Nase etwas zu hakig gebogen. Das Gesicht schmal und alle Formen schlank. Gesünder als vor zwei Jahren, aber immer noch von einer grünlichen Blässe, mit violetten und bräunlichen Schatten.

Die Augen nicht wie bei den meisten Schwindsüchtigen von feuchtem gierigen Glanz. Ruhig horchend in großen, wachen, blauen Höhlen. Sie fragten wie Stimmen aus einer ernsten Gruft. – Über starken Augenbogen eine steil gestemmte Stirn, die Haut dünn, scharf gespannt, zwischen den Brauen zwei Falten, wie Pfeilnarben. Die Magerkeit schnitt die Formen lebhafter, als zarter Stahl, fein, geschmeidig und zugleich unerbittlich kühn und schroff. Das Kraftgefestigte lag in dem knappen Kinn, den gemeißelten, schweigenden Stirnfalten, aber auch in der leisen straffen Senkung unter den Wangenknochen.

Der dunkelblonde Schnurrbart, der fast zu lang und leicht geneigt, riß etwas Verwegenes aus diesen Zügen wach, in diesem einsamen Gesicht eine grelle ironische Verwegenheit.

Seine Haltung selbstvergessen, in sich gefallen, aber nicht schwerfällig. Er hielt das Kinn in die Handfläche gestützt, den Kopf zur Seite.

Das Mädchen scharrte vor ihm die Blätter mit einem Reisigbesen zusammen.

Er kauerte mehr als er saß, und doch war alles vornehm an ihm.

Ihn hatte sie beeinflussen wollen! Die Scham knickte in ihr zusammen. Er wußte sicher, was er tat und dachte. Was ging seine Welt sie an!

Raben krächzten in der Luft. Doktor Wicking blickte etwas zur Seite. Sein Hals war gelb und schmal.

Die Haut zog sich in müden schlaffen Falten um den stark vortretenden Kehlkopf.

Er kam ihr so leidend vor.

Sie wollte ihn nicht mehr quälen. War er im Unglauben zufrieden, wollte sie ihn nicht stören. Er war trotzdem ein guter Mensch. Gott mußte Mitleid mit ihm haben.

Er erschien ihr immer edler. Kühle Erhabenheit schlug scheue Kreise um ihn. Josas Selbstbewußtsein schrumpfte immer demütiger zusammen.

Mit lauem Interesse blickte er dem Laube nach, das die Besenstriche fortschleiften.

Dann griffen die Finger, die den Kopf stützten, spielend in das Wangenfleisch, zogen die Mundwinkel zurück und drückten in müder Untätigkeit die Haut in Falten. Diese eine alltägliche Bewegung ließ mit einem Male die ehrfürchtige Weihe, mit der Josa ihn geschmückt hatte, zergehen.

Sie seufzte und wandte sich unzufrieden ab. –

Später gingen sie zusammen den Berg hinauf. Sie freuten sich, wie hell es in den Baumgängen war. Wie buntfarbig an der Erde. Unter den Ulmen hellgrün, rotbraun unter den Buchen, und weißlich, fast silbern um die Pappeln. Amseln huschten sanglos in niederem Flug durch die zerfetzten Sträucher. Bleiche Blätter flatterten erschreckt zur Seite.

Sie sprachen über Farben und verglichen jede Farbe mit einem schrillen oder sanften Ton. Dann über Sinnestäuschungen. Zuletzt auch über Lügen.

Wie man als Kind bei der ersten Lüge nicht begreifen kann, daß das, was man getan, eine »Lüge« ist. Man hat es gar nicht als etwas Besonderes empfunden. Das trug durchaus nicht die Flammenbuchstaben »Lüge« an der Stirn. Ein ganz harmloses Geschehnis. Die Sekunden, in denen es Leben bekommen, unterschieden sich nicht von den andern. Man hatte nach der strengen Warnung etwas Furchtbares erwartet, etwas greifbar Schreckliches, etwas, das wie Keulenschläge über einen hereinbräche.

Josa stimmte lebhaft bei, ganz so hatte sie auch immer empfunden.

In der Nähe der Steinbrüche wurde das Steigen beschwerlicher. Doktor Wicking hustete beim Sprechen.

Daß jetzt ihre Meinungen mit den seinen so einträchtig Arm in Arm gingen, gab Josa ein vertrauliches Recht über ihn.

»Wir dürfen nicht mehr sprechen, es strengt Sie beim Steigen an.«

Oben am Rande eines frischgepflügten Ackers ein leerer Wagen aus den Steinbrüchen. Doktor Wicking drückte die Deichselstange nieder, Josa setzte sich. – Unten das Maintal.

Er stützte sich mit beiden Armen auf die Stange, drückte sie leise auf und nieder, die eiserne Kette am Ende stieß in regelmäßigen Pausen hartklingend auf den Steinboden.

Josa seufzte behaglich.

Es paßte alles hier so gut zu dem singenden Grau ihrer Gedanken. Dieses Wolkenschweigen, das gleichmäßig den Himmel nach allen Richtungen verbaute. Die fröstelnde Feuchte, die sich in die Erde einwühlte. Die braunen, faulenden Blumen, die wirren, nassen Gräser, das Schüttern des Windes und das Niederrieseln schwacher Blätterreste.

Aber am meisten das Gespräch vorher mit ihm. Das hatte sie erst so recht empfänglich für die leisen Herbstreize gestimmt. Gedanken, von denen sie immer glaubte, daß sie gar nicht in Worte gebracht werden dürften. Und nun das Bewußtsein in ihren einsamen Betrachtungen auch die Schritte anderer Suchender zu hören, das wärmte ihr Behagen.

Doktor Wicking ließ die Wagenstange, hob die Kette und wog sie in der Hand. Josa erwachte.

Wenn sie ihn jetzt über Religion fragen würde? – Sie waren so allein hier, und er konnte ihr nicht ausweichen. Sie errötete wieder vor ihrer Kühnheit. Sie drückte an ihren Armbändern. Es wollte ihr nichts einfallen, wie sie beginnen sollte. Der Gummi des Jettarmbandes zerriß, einige der großen, schwarzen Steine sprangen zur Erde. Doktor Wicking hatte es nicht bemerkt. Erst als Josa aufstand, ließ er die Eisenkette langsam fallen, kam und half suchen.

Josa dankte: »Ich glaube, ich habe sie schon alle.«

Sie zählte die Steine.

Der Doktor bückte sich: »Dort ist noch einer hinter das Rad gefallen.«

Er kroch unter den Wagen, Josa bemerkte, daß er sehr große Ohrmuscheln hatte.

»Ich werde ihn doch fragen.« Dann brachte er den Stein. Mit dem linken Arm und dem Rücken war er angestreift. Sie zog ihr Taschentuch heraus: »Erlauben Sie, hier, und hier ist etwas Staub.«

Sie war hinter ihn getreten und schlug mit dem Taschentuche über seinen Rock: »Sagen Sie, Doktor Wicking, ich habe gehört, Sie glauben an nichts. Nicht wahr?« –

Er sah sich langsam um, nicht erstaunt, nur prüfend. Dann lächelte er: »O, doch, ich glaube.«

Sie fühlte, daß ein Lächeln etwas verhüllen sollte.

»An was glauben Sie denn?«

Wieder dieses Lächeln: »An mich, Fräulein Gerth.«

Sein Lächeln war eine Lästerung: »Also an Gott glauben Sie nicht.«

Dann ging sie zurück zum Wagen und setzte sich wieder. Erstaunt über ihre herrische Sicherheit, und geschmeichelt von der Erhabenheit ihrer Aufgabe. Sie erklärte ihm, mit welcher Innigkeit sie glaube, wie sie es nicht begreifen könne, daß jemand zweifeln könne.

Er polierte gleichmütig mit dem Rockärmel seinen Ring: »Wer so im Glück sitzt wie Sie, sollte auch nichts weiter begreifen als sein Glück.«

»Freilich, glücklich bin ich. Aber Sie sind es doch auch. Wenigstens zufrieden, das sagten Sie schon. Ihr Glück kann ich eben nicht verstehen. Ohne Gott, ohne Religion, wie kann man nur glücklich sein. Ich kann mir das nicht vorstellen.«

Sein Gesicht wurde schweigender. Er ließ den Ring. Legte die Arme auf den Rücken, sah zu den Wolken:

»Es lohnt sich nicht.«

Josa fürchtete, er könne ihr entschlüpfen. Sie nahm seine Antwort beleidigend: »Sie glauben, ich könne eine Erklärung nicht fassen, ist es nicht? Denken Sie, es sei zu hoch für mich?« –

Er sah sie ergründend an: »Ja, ich glaube.« Dann lächelnd: »Nein, nicht falsch verstehen. Solange Sie von Ihrem Glück überzeugt sind, können Sie meinen Unglauben nicht begreifen. Deshalb ist nicht gesagt, daß ich Ihnen durch Auseinandersetzung meiner Art zu denken, nicht Beweise für meine Überzeugung bringen könnte.«

Josa erregter, preßte ihre Stimme nieder:

»Nun? – ... und? ...«

Er besann sich und wälzte mit dem Fuße einen alten Schuh am Feldrande zur Seite.

Plötzlich fiog in Josa ein Verstehen auf. Sie wiegte lebhaft die Deichsel, Und ließ die Kette mit Gewalt poltern: »Sie wollen mir es nicht sagen? Ich weiß warum.«

Er sah sie wartend an. Ein höhnisches Lächeln sprang ihr um die Zähne: »Sie fürchten sich. Sie denken wohl, ich könnte am Ende auch Atheist werden?!«

Er hielt ruhig ihren Blick. Nicht eine Muskel zuckte.

»Deshalb nicht, Fräulein Gerth.«

Es lag etwas zu Ernstes, Seufzendes in dieser Ruhe. Sie wußte, daß es doch deshalb war.

Er brach an der Schlehenhecke einige Beeren und betrachtete die blaubehauchten Früchte.

Es schmeichelte Josa, daß er ihr zutraute, sie sei dem Einfluß solch bedeutender Gedanken zugänglich. Das stumpfte die Strenge ihres Angriffes. Sie schaukelte nicht mehr. Sie strich mit der Hand über das kühle Eisen der Stange:

»Früher habe ich ja auch gezweifelt. Manchmal konnte ich gar nicht fassen, wieso alles möglich sein soll. Es stand so viel Ungeheuerliches in der Bibel. Ich meine, ich kann mich nicht ausdrücken, wie ich das meine. Ihnen ist es wohl auch so gegangen?« –

Während sie so sprach, fühlte sie betroffen, daß im Grunde des Verstandes noch all die fragenden Rätsel wach lagen. Daß ihre Glaubenssicherheit nur ein aufgebauschtes Nachbild von Theodors Überzeugung war. Sie fürchtete, sich zu verraten, und verwirrte sich. Er rollte die Beeren in seiner Hand und sah sie nicht an. Er nickte nur:

»Ja, so geht es den meisten denkenden Menschen. Früher oder später hat sich jeder an die Widersinnigkeiten in der Religion stoßen müssen. Beim tieferen Eindringen wird die andächtige Unbefangenheit stutzig gemacht. Aber dann ist doch ein Unterschied bei den verschiedenen Naturen. Die einen umgehen das Störende. Teils aus Furcht, teils aus Bequemlichkeit. Andere sträuben sich hartnäckiger, Dinge einzusehen, die sie nicht mit dem Verstand und der Erfahrung in Einklang bringen können. Stürzt dann einzelnes zusammen, fällt damit natürlich auch das ganze Netz der Folgerungen ...«

Er sprach nicht erregt, ernst, jedes Wort mit einem schwarzen gedankenvollen Schatten.

Josa wartete, daß er weiterreden sollte. Sie war wie eingeklemmt zwischen seine und Theodors Überzeugung.

Er ließ eine Beere nach der anderen auf die Erde fallen:

»Aber einen Zweck hat es nicht, davon weiter zu sprechen. Sie sind jetzt alle Zweifel los. Sie sind froh. Wenn man wieder ruhig geworden ist, ist ja das die Hauptsache. Was hinter einem liegt, braucht einen dann nicht mehr zu quälen.«

Josa war unbefriedigt, aber sie wagte nichts mehr zu erzwingen. Sie gingen hinunter in die Steinbrüche und suchten Versteinerungen. Zuerst war sie gesprächig. Dann dachte sie über ihre Unzufriedenheit nach und zeigte in knappen Antworten die Ecken und Kanten ihrer Verstimmung. Doktor Wicking war behutsamer zu ihr, da fühlte sie sich noch gekränkter.

»Wollen Sie nicht Ihr Armband abnehmen? Sie könnten es zwischen den Steinen verlieren. Dort ist alles vom Nebel feucht, kommen Sie besser hierher. Sie bekommen nasse Füße.«

Jetzt war er der Sorgsame. Wo war nur ihr Recht über ihn geblieben? – – – – – – – – – –


Glaubengepanzert war sie vor ihn hingetreten, und nun stand sie wie entblößt.

Er hatte nichts gesagt, nur ruhig und beharrlich gedacht, und vor seiner Ruhe und seinen Gedanken war sie wankend und zögernd geworden. Sein Schweigen war anders wie das der Leute sonst. Vollgedrängt voll schwerer Überlegung und satt an unverrückbaren Gründen. Nicht das hohle, ratlose Schweigen. Es machte Josa stottern, und ihr Selbstvertrauen brach schlaff an diesem starräugigen Schweigen zusammen. Sie kannte nicht einmal die Stützen, die seinen Unglauben festigten. Eine harte Gedankenarbeit lag in diesen Gründen angehäuft, welche seine Überzeugung zu solcher Unerschütterlichkeit steifen konnten. –

Eines Nachmittags, er war fort, ging sie hinauf in sein Zimmer und holte sich eines seiner atheistischen Bücher. Die Neugier, die sie stachelte, schauerte sie. Aber sie las.

Sie erwartete eine Schrift voll Gift und Hohn gegen alles Heilige. Etwas, das hohläugig und zischend wie die Sünde. Und nun, in jedem Satze diese gesunden naturfrischen Tatsachen, Glied an Glied. Der Blick prallte an nichts Wunderbares. Das lag da alles geklärt und gelöst.

Jahrhunderte hatten die Religion aufgebaut. Sie war einfaches Menschenwerk. Notwendige Weltordnung. Die Fundamente wurden von jeder Zeit für ihre Zeit erneuert. Die Jetzigen konnten vor dem Wissen von heute nicht mehr standhalten. – – –

Josa war zu begabt, um nicht die Wucht der Beweise einzusehen, sie hätte sich ihnen beugen müssen. Ihr Glaube war nicht so intensiv, daß alle Nerven von eifriger Gottesverehrung vollgesogen waren. Doch das unbefangene Aufschnellen ihrer Überzeugung hemmte nur die Liebe zu Theodor. Sie lag voll und schwer wie eine jähe Masse über ihrer Einsicht.

Betäubende Angst umkrampfte sie plötzlich. Sie stand in einem Kahne, dessen Kette gelockert, sich zu lösen begann. Ein Forttreiben in das endlose Unbekannte. Hinter ihr das Ufer immer schmaler, das Grün blasser, die roten Blumen am Lande verlöschend. Ratlose einsame Weite. – –

Jäh schlug sie das Buch zu. Noch das Zittern der Entsagung in den Gliedern, gelobte sie sich, nicht mehr am Allerheiligsten zu rühren.

Dann begann das Ringen. Die Echos der belauschten fremden Gedanken lockten immer wieder. Das ließ sich nicht mit einem Male ersticken. Manchmal ertappte sie sich mitten in ihrem Kreise.

In der Nacht hatte sie einmal wach gelegen, und war um die Worte jenes Buches geschlichen. Ein Stern stach durch die Ritze zwischen den Gardinen. Sie stand auf und warf sich am Fenster nieder. Sie flehte zu dem Stern und krümmte sich in Nichtigkeit vor ihm. Als ihre Knie auf der harten Diele schmerzten und die Zähne zitterten, freute sie sich, daß sie um des Glaubens willen litt; sie gestand sich nicht ein, daß es nicht Gott war, den sie festzuhalten strebte, daß sie sich angstvoll über ihre Liebe warf, um diese vor den drängenden Zweifeln zu schützen.

Es war gut, daß durch die Kinder die Ordnung im Pfauenhofe nicht mehr streng aufrecht gehalten wurde. Die Morgenandachten und Bibelvorlesungen unterblieben.

In der ersten Zeit wich Josa dem Doktor noch nicht aus. Sie wollte nicht zeigen, daß jenes Gespräch Eindruck auf sie ausgeübt hatte. Aber als sie in dem Buche gelesen hatte, mied sie ihn. –

Ein Brief von Theodor kam. Er hatte eine Diakonusstelle in Leipzig erhalten. Im Dezember sollte er dieselbe antreten. Im Frühling hoffte er, Josa zu sich zu holen. –

Allerheiligen lud Martin den Doktor ein, mit ihm und Josa die Beleuchtung des Friedhofes anzusehen. Ein feuchtwarmer Novemberabend. Es war noch nicht völlig dunkel, als sie in den Glacisweg vor dem Friedhof einfuhren. Um den Obelisk des Kriegerdenkmales flimmerten schon die Lichtketten. Die Kranzverkäufer hatten zum Heimfahren aufgeladen. Rings in den schmalen Sandwegen der Anlagen waren Laternen aufgestellt. Die Leute drängten fort und herbei, durch Reihen von Wachslichtbuden. Auf Tischen, Brettern Näpfe voll Talg, kurze dicke Kerzen und Wachsstöcke. Dazwischen kniende Gipsengel mit innig gefalteten Händen und stehende Kinderengel mit folgsam gefalteten Händen.

Drinnen wühlte das Leben neugierig an den Gräberreihen entlang. Starre geschmückte Steine, zitternde Lichterkränze, grellzüngelnde Kerzen und wehende Schatten, flackernde Goldschriften, grinsender Marmor und oben durch die gelbgeblendeten Laubreste der Platanen glotzte der Nachthimmel in die Unruhe des Lichtes.

An leeren Sträuchern Rosen und handgroße Mohnblumen aus Papier, Strohblumenkränze mit glatten, kühlen Blumen. Plumpe Vasen aus scharfgrüngefärbtem Moose und rote und mattweise und blaue und grüne Ampeln, von der Form trägsinkender Tränen. Aber all dieser Farbentumult vermochte nicht die Starre fortzulachen, die um den Mund der Gräber lag.

In der Menge, die herandrängte, war keine bleiche Scheu. Sie trugen auch hierher ihre Leidenschaften, ihre Gier, ihren Spott, ihr Gift. Man witzelte über die Grabschriften, kritisierte, beneidete den Kränzeschmuck, und erzählte sich an den schwarzen Gruftgittern die kitzelnden Sünden der Toten. Die meisten in trotziger Stimmung, als wollten sie sich lebhafter an das Leben erinnert wissen, um nicht von den Schaudern der schwermütigen Verwesungsluft ergriffen zu werden.

Großmutter Gerth lag im letzten neuen Friedhof. Im zweiten Friedhof traf Martin einen Bekannten. Josa und Doktor Wicking gingen weiter. Nach einer Weile erst vermißten sie ihn. Aber dann war er im Gedränge verschwunden. An diesem Orte war es Josa nicht peinlich, mit dem Doktor zusammen zu sein. Das war neutrales Gebiet, wo sich alle Ansichten am Ende doch versöhnen mußten.

Er trat vom Wege auf den Rasen und bückte sich unter einige Tannen. Da kauerte ein umgesunkener Stein, Efeu darüber, kein Hügel, bleiches Gras, graue Feldblumen und nasse zerfetzte Papiere, Blumen von fremden Kränzen herübergeweht. Von den Pechpfannen des Nachbargrabes strich ruckweise rotes Leuchten über die einsame Stelle.

»Wie traurig!«

Josa nickte. Er deutete auf das Paket, das er ihr trug: »Wollen wir ihm auch ein Licht gönnen.«

»Ja, das ist wahr. Das arme Ding. Wer da wohl liegen mag.«

Sie preßten das Gras zur Seite und stellten einen Lichtnapf nieder. Er zündete an. Es knisterte und paffte, und auf dem Efeu blitzten Tropfen.

Dann gingen sie weiter. Er meinte, jedes Grab habe ein besonderes Gesicht. Ein verlassenes Grab habe solch vergrämten Ausdruck.

Und Josa: »Ja, das ist zu schmerzlich. Wenn man denkt, das war doch auch mal eine Menschenseele, die lachte und weinte, und jetzt ist nichts, nichts mehr übrig.«

Sie kamen an einer großen Lichtpyramide vorbei, sie fing seinen Blick, eine staunende stumme Frage.

Warum sah er sie so an? Der Glanz umher zerstreute sie. Sie konnte sich nicht antworten.

Martin wartete schon am Grabe. Als die Lichter brannten, nahm er den Hut ab und begann zu beten. Auch Josa neigte den Kopf. Sie starrte auf das schmelzende, sich bräunende Talg.

Deshalb hatte Doktor Wicking sie so verwundert angesehen! Er hatte sie falsch verstanden. Sie hatte sagen wollen, daß der Mensch, sein Erdenleben, bald vergessen sei. Das Fortdauern des Seelenlebens tastete sie nicht an. Er hatte es mißverstanden. Sie wollte es später erklären.

Der Wind strich über die Gräber und trieb ihr den geschmeidigen Fettdunst und stechenden Ruß ins Gesicht. Sie wandte sich zur Seite. Einige Schritte hinter ihr stand Doktor Wicking, den Hut in der Hand, die Finger gefaltet. Der gelbwogende Schein riß sein Gesicht aus dem Dunkel.

Er betet! Erst schlug Triumph in ihr auf. Dann aber stellte sie sich nochmals sein Gesicht vor. Er war nur nachdenklich. Aber er hatte den Hut abgenommen. Warum ahmte er ihren heiligen Brauch nach? Er hatte nicht die Kraft, seinen Unglauben vor anderen einzugestehen. Er heuchelte Frömmigkeit. Er war feige. Josa entstellte ihn mit Vorwürfen. Aber sie geißelte im Grunde nur seinen Unglauben, der sie reizte, weil sie ihn fürchtete. Es befriedigte sie, einen Makel gefunden zu haben, um durch gesteigerten Abscheu die Lust zu zügeln, welche in ihr immer wieder nach seiner Aufklärung drängte.

Von nun an nannte sie den Atheismus nur noch über die Schulter »hohle Heuchelei«.

Je näher ihr Hochzeitstag rückte, desto eifriger läuteten in ihrem Herzen die Lilien des Glaubens. Aber nicht demütige Lilien mit taubenweißen, entsagungstiefen Kelchen. – Feuerlilien mit flammengeädertem Schoße, geschwellt von einer erdenbrütenden Sehnsucht.

*

Im März die Hochzeit.

Josa hatte geglaubt, das müsse eine alles umarmende Seligkeit, ein auf Rosen wogender Tag werden. Aber je mehr sich das Ereignis näherte, ein desto dumpferer Strom ging von ihm aus und preßte die Erwartung herzpochend nieder.

Und dann war es gekommen. Doch das viele Fremde, das mit ihm kam, steifte es unbehaglich lästig. Der starre Schleier, das steile Seidenkleid, der kühle Myrtenduft, das Träge der Schleppe, das neue Ungewohnte drängte sie fort von sich in eine zwangvolle Einsamkeit, in der sie sich selbst nicht mehr finden konnte. Theodor im Frack und dem glänzenden, steifen Chemisette, auch er ein anderer. Er gefiel ihr gar nicht. Dies Weiße und Schwarze so feindselig neu, die Vertraulichkeit zog sich scheu zurück. Im Wagen fürchtete sie sich fast vor ihm. Er war es nicht. Sie konnte ihn nicht losschälen aus der Entstellung des Befremdenden. Sie faßte suchend seine Hand. Er sah sie freundlich an. Einen Augenblick erkannte sie ihn. Dann überfror ihn wieder diese stumpfe Feierlichkeit. Das nervenschmerzende Grauen fiel von neuem über sie. Widerwillen, Angst sträubten sich. Die Erwartung seufzte gepeinigt und behorchte erschlafft die Sekunden.

Das Orgellied, die Rede des Geistlichen, das Knien auf den Polstern vor dem Altar, das »Ja« –, das Beglückwünschen, alles war gekommen und gegangen, und immer noch wartete Josa auf den Lustschauer, der die Beklemmung zersprengen und in roten Wirbeln aufschmettern sollte. Beim Mahle Toaste, Lachen, Champagner, sie lächelte mit, aber ihre Gedanken schwiegen und krümmten sich unter bleicher Gefühllosigkeit.

Es war neun Uhr. Man fuhr vom Hotel nach Hause, Martha mit dem jungen Paare. Martin blieb noch.

Theodor hatte nur kurze Zeit zur Verfügung. Sie wollten keine Reise machen, sondern die wenigen Tage auf dem Pfauenhofe verbringen.

Er war vorangegangen in ihr gemeinschaftliches Zimmer. Josa hatte sich unten in Marthas Zimmer umgekleidet. Wenige Worte wurden zwischen den Freundinen gewechselt: – – »Bist du nun recht glücklich, Josa?« – Josa nickte schwermütig und nachdenklich. Dann begleitete sie Martha zur Treppe. Sie küßten sich und Josa ging allein hinauf.

Auf den Stufen glitzernde Myrtenblätter und Orangenblüten. Sie fühlte durch die dünnen, persischen Schuhe jede Blüte und jedes Blatt. Sie stellte den silbernen Leuchter nieder, hob eine Blüte, streichelte damit ihre Wangen, ihre Lippen, und hielt sie in die Kerzenflamme. Die Blätter krümmten sich, zischten, und in die Reinheit kroch gierige Bräune.

Josa sog den säuerlich warmen Duft und warf die Blüte fort.

Sie sah die Treppe empor.

Wenn es nur vorüber wäre! Sie stieg langsam und leise höher. Auf der letzten Stufe blieb sie wieder stehen. Sie zog das Kinn an und stützte sich auf das Geländer.

Sie träumte ins Licht.

»Ich kann nicht.«

Er war so heilig ernst in der Kirche gewesen. Die Augenlider zitternd, wie in Verzückung geschlossen. Und dann dachte sie an sich, wie vorhin der Spiegel sie zeigte. Im dunkelroten Schlafrock, mit der flatternden Seide in den Ärmeln. Sie schüttelte von neuem unbewußt seine Falten. Strich an den Hüften zurück, zog die Spitzen enger um den Hals und zauste am Nelkenbukett auf der Brust. Dann hob sie rasch den Kopf, sah suchend in den Korridor, als ob vor ihr der Spiegel wäre. Die Augen zuckten leicht. Sie mußte lachen, sie hatte vergessen, wo sie war. Sie errötete und blies das Licht aus.

»So kann ich es ihm besser sagen.« Etwas erleichtert schlich sie weiter. Sie hielt das Kristallgehäng des Leuchters fest zusammengedrückt. Mit den Schultern strich sie dicht an der Wand entlang, um nicht auf der anderen Seite an die Hirschgeweihe zu stoßen. Dann im kleinen Saal.

Drüben schimmerte das Licht durch die Türspalte. Sie schlich auf den Zehen näher. Plötzlich drinnen eine Bewegung. Sie floh zur Fensternische. Er ging nebenan auf und ab.

Wie sollte sie es sagen? Sie kauerte auf der Erhöhung des Fenstertrittes, horchte und besann sich. Seine Schritte zersplitterten immer wieder ihr Nachdenken.

Mußte es sein? Ja, es mußte sein. – Wie es hier nach Napthalin roch. An der Decke dunkle, schwebende Massen. Das kommt von Martins ausgestopften Geiern.

Das regelmäßige Gehen drinnen wurde unterbrochen. Josa schlug rasch den Ripsvorhang um sich.

»Wie kindisch das ist. Nein, ich mußte erst wissen, was ich sage. Es ist nicht kindisch.«

Theodor kam. Sie sah ihn nicht. Nur das Licht durch den Stoff wie ein roter Nebelkreis. Es schwebte durch den Saal, auf den Korridor. Dann kam es zurück und verschwand wieder. Noch eine Weile kauerte sie im Vorhang. Aber es wurde ihr heiß, und sie kroch behutsam vor.

Unten schlug Greif an. Ein Wagen fuhr in den Hof. Martin und einige Gäste gingen plaudernd ins Haus. Türen klappten. Dann wurde es still.

Sie wünschte, daß er kommen möge und sie finden. Als er dann nochmals durch den Saal kam, verbarg sie sich wieder hinter dem Vorhang.

Später hörte sie ihn drinnen ein Buch aufschlagen. Ein Sessel wurde gerückt. Er zog seine Uhr auf und legte sie auf den Tisch.

Nach einer Weile schrak Josa auf. Es war ihr wie ein schriller Funke vom Scheitel zur Sohle gesprungen. Sie wußte sofort, wo sie war. Sie wickelte sich aus dem Vorhang, stellte den Leuchter auf den Boden und rieb sich Hände und Arme. Ob sie geschlafen oder wach gewesen, wußte sie nicht mehr. Sie sehnte sich nach Wärme. Die Stille umher streichelte weich und kosend ihre Erregung. Sie wollte sich nicht mehr fürchten.

Dann spähte sie durch die Türspalte, Theodor saß im Sessel. Er wandte ihr den Rücken. Sie sah nun den Silberglimmer des Lichtes auf seinem Haar. Die übereinander geschlagenen Füße. Den knisternden Lackglanz auf den Stiefelspitzen. Auf dem Tisch die weißen Handschuhe, das Neue Testament, die Uhr, und das Licht halb herabgebrannt mit einer langen, braunroten Flamme.

Er schlief. Als sie zwischen ihn und das Licht trat, zitterten seine Wimpern, und er schlug die Augen auf. Nicht erschrocken, freudig überrascht. Er wollte sie umarmen. Sie bemerkte den obersten geöffneten Westenknopf, darin die Uhrkette festgehakt gewesen. Sofort fiel wieder steinerne Scheu in ihr Herz. Sie streckte abwehrend die Arme gegen ihn. Er immer noch lächelnd, aber staunend fragend.

»Nein – nein Theodor. Verzeih –« sie senkte die Stirn, – »ich möchte dir etwas sagen.« Sie preßte ihr Gesicht an seinen Hals und umklammerte seine Schultern.

Er streichelte ihre Schläfen und wollte sie auf den Schoß ziehen. Aber sie drängte zur Seite und schmiegte sich auf die Armlehne des Sessels. Er drängte sein Kinn an ihre Wangen:

»Meine liebe, liebe Josa. – Was hat denn meine kleine Frau?«

Sie hob etwas den Kopf, aber das Licht blendete.

Ob er es auslöschen sollte? Sie nickte. Plötzlich tiefrot: »Nein, lieber nicht.«

»Aber es stört dich?«

»Wir können es auf die Diele stellen.«

Sie ergriffen es beide und stellten es beide an die Seite des Sessels. Dabei lachten sie. Aber dann im Schatten wurden sie wieder ernst. Sie drehte und schob an ihrem Trauring.

»Weißt du, ich muß es dir sagen, es quält mich so. Schon lange. Ich glaube, ich bin nicht so, wie du denkst. Ich bin nicht so fromm wie du, so – –« sie konnte nicht gleich ein Wort finden – »gläubig wie du.«

Sein Kopf lag an ihrer Schulter. Sie sah sein Gesicht nicht. Er küßte ihr Handgelenk und streichelte es: »Nun weiter – was bist du denn noch nicht?«

»Nein, es ist wirklich so, Theodor. Ich nehme es gar nicht so leicht. Es ist noch nicht alles. Wenn du erst alles weißt. Ich muß dir alles sagen.«

Er sah ernster zu ihr empor. »Aber, Liebe, sag mal, versteh' ich dich noch nicht recht? Ich glaube nämlich, du regst dich da über Dinge auf – –«

»Ja, ich rege mich auf. Hätte ich mich nur schon früher aufgeregt. Dann wüßtest du jetzt alles. Es wäre nicht so weit gekommen.«

Seine Umarmung wurde schwächer. Das jagte ihre Gedanken gefolterter, aber zugleich besonnener. Er schien sich von ihr loszulösen. Sie ängstigte sich, ihn zu halten. Sie klagte sich nicht mehr so rücksichtslos an.

»Ich weiß, allen denkenden Menschen kommen Zweifel. Ich schäme mich auch nicht. Jetzt bin ich ruhig darüber. Ich habe ganz damit abgeschlossen. Aber siehst du, man weiß ja nicht ... das war so schrecklich,« sie umarmte ihn heftiger, »du glaubst nicht, wie das war. Wenn es nur nicht wiederkommt. Das meine ich. Hilf mir. Du tust es. Nicht wahr, Theodor, du mußt mir helfen?!«

Er preßte sie enger an sich: »Solche Stunden hat jeder. Das muß dich nicht grämen. Unser ganzes Leben ist ein steter Wechsel zwischen Versuchung und Überwindung. Davon bleibt keiner verschont. Der Genuß der Seligkeit wäre auch gar kein Genuß, wenn wir uns nicht erst zu ihm durchringen müßten. Der Heiland ist selbst versucht worden. Das ist mal nicht anders. Habe aber jetzt keine Furcht, von nun ab gehören wir zusammen. Der Himmel wird uns auch segnen und schützen. Und es werden uns nicht mehr Versuchungen entgegentreten, als wir vereint überwinden können. Wenn wir nur recht im Glauben an den Herrn zusammenhalten. Und das tun wir. Wenn du dich wieder fürchtest, dann denke, Gott hat mich zu deinem Schutze an deine Seite gestellt. Es kann dir nichts geschehen. Willst du so denken, ja?« Er sprach reich und in Begeisterung jauchzend. Streichelte besänftigend ihr Haar, ihre Wangen, ihren Nacken.

Josa hatte etwas ganz anderes sagen wollen. Eingestehen, daß die Zweifel ungelöst in ihr drängten, daß sie nie so werden könne wie er. Daß der Atheismus doch ihren Glauben geknickt habe. Aber dann war die Furcht gekommen, ihn zu verlieren. Sie ließ alles Quälende in sich von seinen flammenfesten Worten betäuben, und verbarg es hinter der Sicherheit, die er um sie türmte. Sie wußte, daß sie ihn und sich belog. Sie konnte es aber nicht mehr erklären. Sie fürchtete, ihn von sich zu drängen, und die schwüle Sehnsucht nicht stillen zu dürfen, die bei seiner Umarmung immer heißer in ihr fieberte.

Die Purpurnelken an ihrer Brust dufteten schärfer, sie war von der Lehne auf sein Knie geglitten und wühlte ihr Gesicht in seinen Bart. Sie bog den Nacken über seine Schulter und sog die Wärme seines Haares. Die Stille zwischen ihnen sauste immer schwindelnder um ihre Gedanken.

Er legte seine Lippen an ihr Ohr: »Kleine Frau?? – – bist du nicht müde? –«

Ihr Blut floh von der Wange zum Herzen und in jäher Lohe wieder zurück. Sie nickte kurz und scheu und versteckte sich tiefer unter sein Kinn. Ihre Lippen waren so schwach, sie konnte kaum einen Laut aus dem pochenden Halse zwingen:

»Jetzt – bin – ich ganz dein!«

Noch eine Weile ruhten sie schweigend. Dann trat er mit dem Fuß das Licht aus und trug sie in das glühende Dunkel. – – – – – – – – – – –


Josa erwachte.

Über die Tapete an der Fensterwand blühte ein rosiger Schein. Die mattgelben Gardinen tränkte es golden, die großen, gewebten Tulpen und Lilien und verschlungenen Ranken quollen brandrot, aber in der Tiefe des Zimmers hingen noch die schlaffen blauen Nachtschatten.

Theodor schlief fest. Seine Atemzüge hoben und senkten die warme gesättigte Stille. Josa schüttelte das Haar zurück, stützte sich mit dem Kinn auf die Stuhllehne vor dem Bett, und verfolgte das Schwellen des Rosenscheines.

Dann sah sie sich vorsichtig um, schlüpfte unter der Decke vor, den Schlafrock um, ans Fenster.

Über der Stadt qualmten kupferbraune Nebel. Nach Westen der Himmel zartrosig, ein kühles Blaurosa über blaßgraue kleine Wolken zerpflückt. An den Festungsmauern, im Grunde über den Feldern matter schleichender Dunst. Darunter die Farben versengt braungrau, das Weiß mit feuchtem Silberblau belegt. Allmählich tiefte sich das Blau. Das Rot schäumte greller. Aus dem glimmenden Wust preßte sich ein flammendes Knäuel, das Träge zerriß, flackernde Lachen spalteten in flachen Schichten die Nebel, ein Feuerwirbel löste sich goldtriefend, stieg gellend höher, immer goldschmetternder.

Unten in der aschigen Tiefe schwollen und goren die Glocken der Stadt. Vom Lichte gerüttelt, wühlte es und rang sich aus der Glutdämmerung, wogend wie Schwingenrauschen, metallhart wie Schildeklirren, und dann verprasselnd in einer Garbe von Jauchzern.

Josa legte sich dicht an das Fenster und lauschte mit weitgeöffneten Augen dem Farbenschreien. Sie wollte alles einsaugen. Ihr Blick zitterte vor Angst, es könne zerrinnen, eh' sie es innig genossen. Sie küßte ihre rotbeschienenen Hände. Lehnte die Wange an die rotbeschienene Tapete. Einen Augenblick sah sie über ihre Schulter, sie hätte ihn so gerne geweckt, aber sie scheute sich.

Sie stellte sich vor, daß sie tief in den Himmel schauen könne bis zum Goldsaum des Thrones. Sie faltete ihre Hände:

Ja, es gibt einen Gott. Einen guten, herrlichen, großen Gott. Guter Gott, gib mir Kraft, dich zu erkennen. Mache alles klar und rein in mir. Erhalte mir meine Liebe. Amen.

Es war bleicher, glasartiger Tag geworden. Den farbenmüden Himmel glättete ein nüchternes weißes Licht. Josa wandte sich wieder ins Zimmer. Sie war trauriger. Die Leere nach dem begeisterten Rausch schmerzte sie.

Das Zimmer schien öder, mißmutiger. Die Unordnung entstellte es noch häßlicher.

Sie fror. Sie zog den Schlafrock enger zusammen und trat auf das Bärenfell.

Theodor war unter den Wimpern und um die Nasenflügel gelb und grau. Josa errötete. Sie strich über ihr Gesicht. Die Wangenknochen schmerzten sie.

Sie betrachtete sich im Spiegel. Ihre Augen eingesunken. Die Lidränder entzündet, blaurot. Die Lippen gesunken. Und an den Schläfen schwache, grünblaue Einsenkungen. Ekel stieg ihr in den Hals.

Er ... Er ... wie konnte er – mußte das sein? Er, ein Diener Gottes!

Sie schüttelte sich, bedeckte das Gesicht mit den Händen und schlich hinaus.

Auf der Treppe ein faulig-bitterer Geruch welker Myrtenblüten. Hinter dem Hause kreischte die Kette des Ziehbrunnens. Ein Knecht klapperte pfeifend über den Hof. Unten war noch alles still. In der Küche hörte sie Martha husten und sprechen. Sie trat behutsam in Marthas Schlafzimmer. Martin lag mit offenem Munde, er schlief ganz lautlos tief. Josa wollte Martha erwarten. Aber dann trat sie hinter den braunen Wandschirm an das Doppelbett der Zwillinge. Eine schwächliche weiche Luft strömte von den kleinen warmen Körpern. Eine dünne, flaumige Wärme, zarte Hilflosigkeit lallte in dieser Luft.

Josa betrachtete lange die schlummerheißen Gesichter. Dann zog sie ihnen behutsam die Decken höher. Küßte die Armgrübchen. Nickte, lächelte glücklich und geheimnisvoll und schlich wieder hinauf. – – – –


In allem, wie Theodor Josa behandelte, lag mehr väterliche, sich zu ihr niederbeugende Sorgfalt, nicht gleichberechtigende Kameradschaft, die allen Teilen Achtung und Rücksicht in gleichem Maße zuspricht. Josa sah in ihm den Beredelteren. Sie schmiegte sich an ihn, um an seinen Eigenschaften höher zu klimmen, und alles im selben milden Lichte christlicher Zufriedenheit zu schauen.

In Leipzig war sie mit Scheu in seinen Verkehrskreis getreten. Meist ältere Geistliche, Superintendenten, Pastoren, ihre Frauen, Töchter und junge Theologen. Sie glaubte, in all diesen Herzen ruhe eine harmonische Stille, unantastbar wie sie über Altären lagert. Sie trat zaghaft, zögernd auf. Ihre Miene stotterte: Ich weiß, daß ich nicht so bin wie ihr, habt Geduld mit mir.

Je länger sie mit diesen Leuten verkehrte, desto blasser wurde der Hochglanz an ihnen. Es fanden sich auch an ihnen Gesinnungen, die unerläßlichen kleinen Narben und Entstellungen, womit das Hadern und Sträuben und Zerren des Lebens jeden zerschürft.

Sie gestand Theodor ihre Enttäuschung nicht. Er war gegen alle voll Achtung und Ergebenheit, sie scheute sich, ihn auch nur ahnen zu lassen, daß sie kritisiere, wo er vertrauensvoll schätzte. Sie wußte, er betrachtete sie mehr wie ein liebliches Gebilde, mit zartem scheuen Gefühlsschmelz. Er vermutete in ihr keinen steilen Ernst, keine wägenden, schneidenden Gedanken. Er liebte sie nur in dieser Form, und sie hatte sich ihr angepaßt. Seine Liebkosungen, seine Bewunderung hatten sie nach seinen Wünschen geprägt. Aber allein mit ihren grübelnden Betrachtungen war sie eine andere. Sie war sich ihres Doppelwesens bewußt, aber es fehlte ihr der Mut, ihre Gedanken offen gegen ihn mit Ecken und Kanten vorspringen zu lassen. Sie fürchtete ihr Bild und damit seine Liebe zu zerstören.

Daß ihre Erwartungen auf die Menschen leer geblieben waren, ließ in ihr eine leise ätzende Schärfe und begann von neuem die Glaubenszweifel aufzuwiegeln. Und dann noch eine neue Enttäuschung gab ihnen verzweifelte Gewalt.

Im zweiten Jahre ihrer Ehe gebar Josa ein totes Mädchen.

Sie hatte sich so sehr auf ein Kind gefreut. Es war gleichsam das Herz ihrer Wünsche geworden; an dies Kind schloß sich das Adernetz hundert warmblütiger Pläne und Hoffnungen.

Und nun ein totes Kind.

Das Hoffen war zu tief in sie eingewachsen, – nun raste der Schmerz und marterte ihr Herz grausamer als vorher ihren Leib. Zuletzt krampften sich ihre Gedanken in galliger Schwermut und stemmten sich trotzig gegen jede Beruhigung. Es ekelte sie, mit Theodor sich in dem Knechteruf zu beugen: Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, gelobt sei der Name des Herrn. Die Tröstungen der Religion reizten sie, die Zweifel sprangen wilder und stürmischer aus den Rissen der Enttäuschung hervor. Ihre Gefühle für ihren Mann wurden wechselnd. Sie stand oft im Geiste über ihm, getraute sich die Hohlheit seiner Idealwelt zu beweisen, dann wieder lag sie schluchzend vor ihm, nannte sich unrein, nicht wert, daß er sich zu ihr niederbeuge.

Theodor war nachsichtig. Er hatte nur eine sonnenfrohe Kindlichkeit an ihr gekannt. Die Krankheit mußte sie zerwühlt haben. Mit der Zeit und unter seiner Liebe mußte sich das bald glätten.

Aber die Entsagung hatte sie selbstbewußter gemacht. Es wurde ihr schwer, das anschmiegende Kind zu sein. Sie wollte ihm Achtung abzwingen, zeigen, wie gedankenstark sie sich fühle. Sie hatte sich Schriften über den Atheismus gekauft, und las nun heimlich. Diesmal nicht mit neugieriger Scheu einer Gläubigen, sondern mit dem störrischen Rachemut einer Gegeißelten.

Je mehr sich Josa in die neue Lehre vertiefte, desto hartnäckiger sträubte sie sich gegen Theodor, und daß er sie immer wieder auf die Heiligkeit und Unantastbarkeit der Bibel verwies, erhitzte sie.

»Das kann nicht mal ein Gott verlangen, ein vernünftiger Mensch soll an diese Wunder des Alten und Neuen Testamentes glauben. So etwas Unnatürliches hat es auch damals nicht auf der Welt gegeben, das muß sich alles beweisen lassen.«

Gesagt, aufgestanden und hinausgegangen.

Dann saß sie in ihrem Zimmer am Klavier. Aber nur die eine Hand spielte, die andere lag im Schoße. Ihr Spiel klang gezwungen schwerfällig, als ob die Töne sich durch ihre Gedanken pressen müßten. Plötzlich in der schwarzpolierten Fläche des Pianos ein Schein. Die Türe hinter ihr wird geöffnet, Theodor kommt. Sie kann ihn im Glanze beobachten. Sie spielt ohne Träume weiter, die Töne knapper und bewußter.

Er im Mantel: »Ich wollte dir Adieu sagen.«

Es freute sie, daß er kam. Aber die Freude konnte die Verstimmung nicht überwinden. Sie spielt weiter und reicht ihm die linke Hand. Er nahm ihr ruhig auch die rechte von den Tasten:

»Josa – Kind, was bringt dich denn jetzt auf solche Grübeleien?«

Sie lächelte kaum mit einem Mundwinkel und einem Auge. Entzog ihm die Hände und spielte weiter.

»Nein, im Ernst, Josa. Weshalb quälst du dich und mich mit diesen unvernünftigen Gedanken?«

Eine leise Heftigkeit in seiner Stimme stachelte sie: »Unvernünftig sind sie nicht. Ich lese jetzt viel darüber.«

Sie sah ihn nicht an, aber sie wußte, daß er erstaunt war. Zugleich bereute sie gesprochen zu haben, und das machte sie noch energischer:

»Und ich werde weiterlesen, und ich gebe mich nicht eher zufrieden, als bis ich mir über alles klar bin.«

»Ich möchte diese Bücher sehen.«

Er stieß jedes Wort mit Nachdruck von sich. Sie erschrak, sah ihn an und ärgerte sich, daß sie eingeschüchtert wurde.

»Wozu?« Sie zuckte die Schultern. »Dich interessieren solche Bücher doch nicht.«

»Ich will sie sehen.«

Die Erregung wühlte in ihr. Sie wollte sie verbergen und begann wieder zu spielen. Aber beim ersten Ton wußte sie, daß ihn das reizen mußte. Sie ließ die Hände sinken, griff in die Tasche und gab ihm, ohne sich umzusehen, den Schlüssel. »Im Schreibtisch in der linken Schublade.« Er schloß auf. Sie blätterte in den Noten, behorchte dabei jede seiner Bewegungen.

»Solche Bücher dulde ich nicht in meinem Hause.«

Er ging hinaus. Sie hörte ihn durch die Zimmer schreiten. Nach einer Weile fiel die Entreetüre zu.

Josa blieb am Klavier, begann eine Ouvertüre; spielte zwei Seiten, bis sie umwenden mußte, dann schlug sie das Heft zu, ließ das Klavier offen, und legte sich auf das Sofa.

Sie warf ihre Gedanken wie Bälle umher. Bald hielt sie den einen, schleuderte ihn hoch, fing einen andern, wieder den ersten, ohne etwas Einheitliches festzuhalten. Draußen auf der Straße die Schritte der Leute, bald in schnellem, bald in langsamem Tempo, mit vibrierendem Schall. Der blendende Kopf der Mozartbüste prägte sich ihr scharf ein. Sie schloß die Lider; nun sah sie ihn ferner in zerrinnenden Konturen. Und nun auch Theodor. – Daß sie kein Geheimnis mehr vor ihm hatte, machte sie leichter, richtete sie auf. Sie war ihm dankbar, daß er energisch gewesen. Sie hatte sich lange nach Befreiung gesehnt. Die philosophischen Gedanken hatten sie zermartert, sie lag nun wund und schlaff. Diese plötzliche Wendung, welche die Heimlichkeit sprengte, machte sie brustfreier.

Es wurde dunkel.

Halb sechs. In einer halben Stunde mußte er kommen. Sie rieb sich behaglich an den Polstern. Trägheit, wie sie immer nach einer Erregung durch den Körper schleicht, schläferte sie ein.

Dann war er da.

Sie hatte nicht klingeln hören. Sie erhob sich und machte ihm Platz.

»Willst du dich nicht setzen?« Dann setzte er sich. Seite an Seite starrten sie in die Dämmerung. Das Zimmer war gelblich hell von draußen vom Laternenlicht, von der messingnen Ofentüre schlug ein Reflex zerstäubend ins Dunkel. Die Schatten der Leute kreisten durch den Schein an der Decke. Und dann splitterte Bronzegeflimmer von den Pfauenfederfächern und Sträußen, die Josa im ganzen Zimmer an Wänden und in Vasen hatte, und von den Goldlitzen und Schnüren der Decken und Teppiche.

Sie legte in Gedanken einen Arm um ihn, und dann küßten sie sich.

»Nun – du bist jetzt vernünftig, wir wollen es vergessen.«

Ein reuiges Schmeicheln in seiner Stimme machte sie nachdenklich. Dann sprach er plötzlich in einem frischeren, aufmunternden Tone:

»Sage, Josa, würdest du nicht wieder einmal gern deinen Bruder und Martha wiedersehen?«

Sie staunte. Er hatte sie bis jetzt nie allein zum Pfauenhofe lassen wollen. Sie hatten verabredet, im Herbst, wenn Theodor Urlaub bekam, einen Besuch auf dem Pfauenhof zu machen, und jetzt war es erst Frühling.

»Ich möchte schon gern. Aber Theodor, ich denke, kannst du denn jetzt abkommen?«

»Ich dachte auch zuerst an den Herbst. Aber ich glaube, es ist besser, du reisest jetzt allein.«

Er streichelte sie.

»Du mußt jetzt Zerstreuung haben. Das schöne Würzburg, deine Berge zu sehen, das wird dir wohl tun. Dann hört alles Grübeln auf. Dann wirst du den bösen, bösen Wust los. Den bin ich an meiner kleinen Frau gar nicht gewöhnt. Dann wirst du wieder meine frohe, frische Josa.«

Er zog sie herzlich an sich und küßte ihre Ohren, ihre Schläfen, bis seine Lippen im Dunkel ihren Mund fanden.

Sie ahnte, warum er sie nie allein auf den Pfauenhof lassen wollte. Doktor Wicking mochte er nicht leiden. Er kannte seine Anschauungen. Aber jetzt hatte Martha geschrieben, der Doktor sei nach Berlin gereist, er würde wahrscheinlich nicht vor dem Winter wiederkommen. Es schlich eine störrische Erbitterung in ihre Freude. Theodor behandelte sie willkürlich wie ein Kind.

»Nun, du freust dich ja gar nicht?«

»O ja – – ab – er – –.«

»Aber? – Du wärst wohl lieber bei mir geblieben?«

»Nein. Ich sehne mich nach Hause. Ich werde auch reisen.«

Sie erhob sich schroff und trat ans Fenster.

Er nach einer Weile:

»Die Bücher, Josa, das ging nicht anders, das siehst du wohl ein, die durftest du nicht weiterlesen. Ich will dich vor dir selbst schützen. Damals batest du mich selbst darum. Es ist auch nicht nur meine Pflicht als Gatte, noch mehr als Geistlicher darf ich nicht dulden, daß deine Seele Schaden leidet.«

Er sagte es traurig. An jedem Worte blinkten Tränen der Angst und des Mitleides. –

Einige Tage später schrieb Martha, daß sie sich sehr auf Josas Kommen freue. Auch Martin schrieb und erwähnte, Doktor Wicking sei auch wieder zurück, er habe in Berlin einen Blutsturz gehabt und sei bald wieder abgereist.

Josa wußte, daß Theodor sie nun nicht reisen lassen würde. Aber sie wollte es erzwingen. Es stachelte sie, selbständig zu handeln. Sie zeigte ihm nur den einen Brief, und Anfang Mai reiste sie. – – – –


Josa hatte sich als Sühne ihrer Unaufrichtigkeit vorgenommen, während ihres Aufenthaltes auf dem Pfauenhofe Doktor Wicking so viel wie möglich zu meiden.

In den ersten Wochen war sie noch mit dem Blankputzen alter Erinnerungen beschäftigt. Es war ein Freuen und Begrüßen der leisen Lichtfunken, die überall aufschlugen, und dann Schmerz, wenn Altes von Neuem verdrängt war. Nur mit Mühe vermochte sich das Auge an die Veränderungen zu gewöhnen. Aber alles war reizvoll. Und die neuen Reize übertönten das grübelnde Schweigen in ihr. Der Sonnenschein, das Landleben, die wechselnde Farbenfülle, alles riß sie fort aus der grauen Tiefe, in die sie sich eingewühlt hatte. Da die andere Welt andere Empfindungen in ihr weckte, täuschte sie sich über sich selbst, hielt sich nicht mehr eines Rückfalles in ihre vergangenen Gefühle fähig. Sie wurde kühner. Ihre Briefe an Theodor waren voll Dankbarkeit, daß er ihr geholfen, sich zu finden.

Die Scheu vor Doktor Wicking fiel vollständig. Sie wurde unbefangen. Teilte mit ihm, was sie beide besonders gemeinsam hatten, die Freude an der Natur und an Farben.

Er war leidender und hielt sich mehr auf der Terrasse auf und spielte mit den Zwillingen.

Eines Nachmittags fuhr Josa mit Martha zur Stadt. An der Buchenhecke begann es zu regnen. Josa eilte zurück, um Schirme zu holen. Sie wunderte sich, daß es so still im Garten war. Die Kinder hatten eben noch auf der Terrasse getollt. In der Küche plauderte das Mädchen mit der Köchin.

Sie holte die Schirme:

»Wo stecken denn Hans und Walter?«

»Im kleinen Saal sind sie. Der Herr Doktor erzählt ihnen etwas.«

Josa ging durch das Gartenzimmer, dann auf den Zehen durch das Wohnzimmer. Hinter den Portieren seine Stimme. Er lag auf der Chaiselongue unter der Phönixpalme, die Kinder neben ihm. Der eine Blondkopf auf der Kante des Polsters unter seinen Rock versteckt an seiner Westentasche auf die Uhr horchend und mit den Augen in die Luft wandernd. Der andere des Doktors Manschetten an den Beinen. Auf dem Rehfell ausgestreckt und die Füße in horchendem Takte wiegend. Doktor Wickings Gesicht wie aus transparentem Wachs auf dem kirschbraunen Plüschkissen. Er erzählte, und die großen mattgelben Hände streichelten des Kindes Haar.

Nach einer Weile schlich Josa wieder fort. Er war ihr plötzlich viel lieber geworden. Sie hätte ihm für seine Kindlichkeit danken mögen. Wie glücklich er war. Trotz seines schweren Leidens zufrieden. Eine Sehnsucht nach dieser Zufriedenheit quoll in ihr auf. Sie begann ihn zu beneiden. Und von diesem Tage an betasteten ihre Gedanken ihn wieder öfter.

Ein anderes Mal begegnete sie ihm, als sie zur Stadt ging, allein am Wege. Es war Sonntagmorgen. Wunderbar still. Nur oben vom Hofe hie und da ein ausgezerrter Hahnschrei, oder in der Stadt ein Glockenschlag, der an der Stille schüttelte.

Die Steine am Wege ausgewaschen vom Regen. Der Grassaum spritzte seine Schatten darüber. Der Pfad hinunter meist gründunkel zwischen hohen Büschen, manchmal spreizte sich zwischendurch ein Strahlenkeil quer über den Weg.

Der Doktor hörte sie nicht kommen. Er hielt ein weißes Papier in Armlänge von sich. Josa freute sich, ihn zu überraschen:

»Was machen Sie denn da?«

Er grüßte. Er habe das Papier gegen die Schatten am Wege gehalten, um bestimmen zu können, wie das Blau sich allmählich abstufe.

Josa war das neu. Sie versuchte es auch. Dann gingen sie weiter.

Ein paar Kinder am Wege schlugen unreife Äpfel herunter. Nicht weit von ihnen lag ein schwarzes Buch an der Erde. Ein Gebetbuch. Josa blieb stehen, wandte sich halb gegen die Kinder und versuchte mit der Fußspitze den Deckel aufzuschlagen. Sie wußte, daß man sie ansah, daß ihre Haltung Verwunderung ausdrückte, sie wußte auch, welch Buch es war. Es sollte aber Tadel in diesem erstaunt zögernden Betasten liegen.

Der Knabe klapperte ungeduldig mit seinen Steinen. Er konnte nicht hinaufwerfen, so lange sie unterm Baume stand: »Mein Gebetbuch!«

Sie sah sich nach ihm um: »So – so –!«

Sie wagte nicht mehr zu sagen. Aber Doktor Wicking bückte sich, hob es auf und reichte es dem Jungen:

»Das sollst du nicht an der Erde liegen lassen. Steck's in die Tasche. Mußt du nicht zur Kirche gehen? Wenn ich deinen Lehrer sehe, werde ich es ihm sagen.«

Josa staunte. Dann ging sie schneller, drückte die Augen fest zu, als wolle sie etwas zerpressen, das nicht in ihren Blick dringen sollte. Sie wollte ihn nicht fragen. Sie wollte nicht wieder darüber sprechen. Nein, sie wollte nicht.

Dann wandte sie sich leicht nach ihm um:

»Sagen Sie – was wollte ich denn nur sagen – ja – sagen Sie, Sie gehen doch auch nicht zur Kirche. Warum empfehlen Sie es so eifrig dem Jungen?«

Sie mußte im Schrecken lächeln. Es war ihr aus den Zähnen entschlüpft, es hatte sich nicht verschlucken lassen.

Er blieb ruhig und knapp: »Nun, bei den Kindern halte ich es für nötig, daß sie zur Kirche gehen.«

Der Weg war breiter, sie ließ ihn an ihre Seite kommen:

»Bei Kindern! Das versteh' ich nicht. Wenn man mal Atheist ist wie Sie, würde man doch Kirchen, Religion, alles verbieten.«

Seine festgewurzelte Ruhe hatte sie gereizt. Doch es schien ihr, daß sie zu jäh gewesen, und sie suchte ihre Schärfe zu mildern.

»Ich meine doch, das verträgt sich nicht zusammen, Christentum und Atheismus. Entweder eines oder das andere.«

Er sah unberührt vor sich nieder:

»Ganz richtig. Man sollte es fast meinen. Aber im Grunde liegen beide doch nicht so weit auseinander. Mir erscheint das Christentum als die Vorstufe zum Atheismus. Und als solche unbedingt nötig, daß sie beschritten werde. Nur wer die Weisheit des Neuen Testamentes recht erfaßt hat, und durchdrungen ist von ihrer Bedeutung, ihrem Werte, vor allem von dem Gebote der Nächstenliebe, der wird erst ein Atheist sein können.«

Er schwieg plötzlich schroff, als sei er mit seinen Gedanken angerannt. Sie schritten eben unter dem Tunnel der Burkarderkirche durch. »Wie hübsch die Glocken läuten!« meinte er. Sie horchten und sprachen nicht weiter. Josa mochte kein gleichgültiges Gespräch mehr anfangen. Das Schweigen drückte sie nicht, es lag wie ein stummes Verstehen zwischen ihnen.

An der Brücke verabschiedeten sie sich. Sie vermied ihm die Hand zu geben. Erst als sie wieder mit sich allein war, schwollen unter ihrem Behorchen seine Worte mächtiger. Sie zwängte sich in seine Gedankenwege, sie drang vorwärts, weil sie wollte, und begann allmählich ein Verstehen zu ahnen.

Aber nun sehnte sie sich auch, alles voll zu begreifen. Nur er konnte den Zwist in ihr klären. Sie wollte in den Kern seiner Ruhe dringen. – –

Und sie sagte ihm alles. Sie sagte ihm, wie sie Aufklärung in Büchern gesucht und gefunden habe. Aufklärung; aber Befriedigung nicht. Das Grübeln habe sie nur noch ratloser gemacht. Sie bitte ihn innig, sich auszusprechen. Er dürfe nicht mehr ausweichen. Ganz davon abgesehen, daß ihr Mann Geistlicher sei. Sie müsse damit zu Ende kommen. Wenn er ihr nicht rate, würde sie nie Ruhe vor ihren Zweifeln haben. Sie sagte ihm, wie tief sich dies schleichende Nagen in ihr Denken eingefleischt habe, daß es ihr Glück zu zerstören beginne. Als sie dabei an Theodor dachte, übersah sie mit einem Male die Kluft, die kaum merklich Gedanke um Gedanke zwischen ihnen getrennt hatte. Sie wurde noch heftiger in ihrem Flehen nach Beruhigung. Mit dieser Ruhe hoffte sie wieder die Liebe Theodors zurückzuzwingen.

Mit seiner behutsam deutenden Stimme, seiner vorsichtig führenden Art, sagte ihr der stille Mann, sie habe einen bedeutenden Schritt getan, wenn sie eingesehen, daß es keinen Gott gibt, daß die Sage vom Himmel, von Seligkeit, von Vergeltung nur eine Erziehungsrute war, mit der sich die Menschen selbst im Zaume halten mußten. Aber wenn nun auch für die Gebildeten dieser Aberglaube von selbst fällt und fallen mußte, da er die freie Geistesentfaltung hinderte, so dürfe deshalb doch nicht die Religion vollständig niedergetreten werden, solange die Mehrzahl der Menschen noch nicht reif sei in der Selbstbeherrschung, welche der Atheismus vor allem verlange. Bis dahin müsse zum Gemeinwohl aller über den Unverständigen die Drohung der ewigen Strafen, und die Belohnung mit ewigen Freuden stehen.

Die Religion sei nichts als die Weltordnung, welche immer einfacher geworden. Zuerst mußte sie die rohesten Völker mit sinnlich wahrnehmbaren Göttern beherrschen, dann später den geklärten Geist durch den unsichtbaren Gott, und nun, vor dem Verstande sei alle Herrschaft auf das Geschöpf selbst zurückgefallen. Jeder sei sich jetzt sein eigener Gott, der sich im Leben selbst belohnt und selbst bestraft, je nachdem er sich zu zügeln wisse oder nicht. Die Erfahrung habe uns dazu bringen müssen, einzusehen, daß alles, was wir dem Nächsten zuliebe tun, wir uns tun. Und daß deshalb der am glücklichsten lebe, der sich am klügsten zu lieben verstehe. –

Josa hörte nur den Anfang dieser Erklärung. Der Gedanke, daß das Christentum nötig, daß es jetzt noch weiter gepflegt und geschützt werden müsse, sowie die Erwachsenen, trotzdem sie nicht mehr zur Schule gehen, die Schule für ihre Kinder fortbestehen lassen, daß so auch trotz der Höchstverstehenden die Kirche für die Niedergeistigen weitererhalten werden müsse, das begeisterte und befriedigte sie. Sie dachte vor allem an Theodor, daß sein Beruf nicht nutzlos sei, daß sie ihm nicht mehr widerstreben werde. Alles andere ließ sie unbedacht, sie warf sich nur an die Brust dieser warmpochenden Freude. –

Mit dieser Aussprache waren die Beziehungen zwischen Josa und Doktor Wicking enger geworden. Warmes Vertrauen hielt die Arme um sie geschlungen, und ihre Gedanken gingen offener und zwangloser Seite an Seite.

Josas flackernde Unstetigkeit glättete sich allmählich unter satter Sicherheit. Ein in befriedigter Ruhe gebetteter Ernst lag in ihrem Gang, in ihrer Sprache, in ihren Gedanken.

Der Sommer ging zu Ende, und sie dachte an die Heimkehr. Jauchzend dachte sie daran. Sie kam nicht leer zu Theodor zurück. Ihre Eigenmächtigkeit hatte ihr das Glück zurückertrotzt.

Doktor Wicking wollte wieder den Winter am Genfer See verbringen. Entweder in Vevey oder Lausanne. Seine Abreise fiel fast mit der Josas zusammen, nur einige Tage später. –

Es war Josas letzter Abend. Sie wollte von Doktor Wicking allein Abschied nehmen. Martin stellte Geierfallen am Berge. Martha brachte die Zwillinge zu Bett. Sie ging zu ihm in das Gartenhaus an der Terrassenecke.

»Störe ich nicht?« –

Er hatte Herbstzeitlosen vor sich und zerteilte unter der Lupe die Staubfäden mit einem Federmesser.

»Bitte.« Er wollte einen Stuhl holen. Aber Josa kam ihm zuvor.

Doch dann sah sie sich plötzlich in dem kahlen Raume um. Die Wände waren erst neu geweißt. Schwarze Fensterrahmen wie Sargleisten. Tisch, Stühle nur rasch hineingestellt. Auf dem Fenstersims Zinnkraut zum Trocknen geschichtet. Alles roch so leer nach gruftkühlen Steinen, Kalk und frischem Anstrich.

Sie sah auf die violetten Blüten: »Sind Sie beschäftigt?«

Er verstand sie:

»Nein, – nur müßiger Zeitvertreib.«

Sie stellte den Stuhl wieder fort: »Hier ist es ungemütlich. Vielleicht kommen Sie mit mir auf den Berg?« –

An der Terrassentüre begegnete ihnen Martin. Er kam vom unteren Garten und brachte ihr eine Handvoll Rosen.

»Wollt ihr noch etwas Mondlicht kneipen?« Er lachte und deutete mit dem Kinn nach Osten. Über dem Kugelfang und den Gerbrunner Höhen zerstäubte ein rötlicher Halbkreis.

Es sei Vollmond heute. Sie sollten nicht zu lange bleiben. Martha würde sonst ungeduldig.

Sie gingen den Berg hinauf. Sie sprachen wenig. Er riß manchmal ein Blatt, einen Halm ab. Einmal blieben sie stehen und sahen zurück.

Sie erschraken fast. Der Vollmond dunkelorange, ein träg aufsteigender Feuerballon. Dies große leuchtende Schweigen erdrückte fast. Es schwebte der Erde greifbar nahe, es machte das Herz pochen. Eine bräunliche Dunstsphäre sammelte sich um die Scheibe und verlor sich höher in dumpfes Enzianblau. Wolken schwammen wie dunkle Felsen heran. Das Licht meißelte scharfe Kanten ein, wie in brüchigen Marmor. Unten über der Stadt, dem Häusergewirr, mattsilberne Finsternis. Der Neubauturm löste sich aus den Giebelzacken.

Doktor Wicking zog einen welken Halm durch die Zähne: »Ein recht schwermütiger Sommerabend. Es zieht wie Wehmut durch diese weiche Lichtstimmung. Wie eine Ahnung der Vollreife, die sich nun auflösen wird.«

Josa nickte langsam: »Ich muß immer in das Leuchten starren. Es ist, als ob mein Ich mit der Stille dort ineinanderrinne.«

Sie sahen sich von der Seite an und schritten weiter. Sie wunderten sich. Sie sprachen beide mit solch gesuchten Worten. Es ist das seltsame Licht, das so vornehm stimmt, dachte Josa. Aber sie wußte, daß es der Abschied war. Am Rande des Akazienwaldes setzten sie sich auf Josas Lieblingsbank.

Eine Weile schwiegen sie. Jeder überlegte, was der andere wohl dachte, und jeder betrachtete sich mit den Augen des anderen.

Josa hielt die Rosen im Schoße. Sie strich eine Knospe auf und hielt sie abwechselnd auf das linke und das rechte Auge: »Das ist so kühl, so duftend kühl.« Die drückte sie ihm auch auf das Augenlid: »Nicht wahr?«

Er nickte: »Ja, – ja – wie liebe, süße Worte.«

Sie lachte fröhlich: »Ach, wie süße Worte. Sie haben recht. Ja, ja. Daran habe ich gar nicht gedacht. Aber es ist so. Wie liebe kosende Worte.«

Nun begann sie eine Rose nach der anderen gewaltsam zu öffnen:

»Ich bin sonst nie so grausam. Aber heute habe ich Lust, tyrannisch zu sein!«

Sie legte mit übertriebener Gewalt jedes Rosenblatt um, so daß sie zuletzt bis zum Innersten geöffnet waren. Sie verglichen und rochen und prüften den Duft der verschiedenen Rosen. Der silberblaue Schein des elektrischen Lichtes vom Bahnhof spannte sich hinter dem Festungsberge hoch gegen den Himmel. Josa unterdrückte einen Seufzer. Der Abschied sank schwer in ihre Gedanken. Sie sagte leise zu ihren Rosen: »Ich habe Ihnen noch etwas sagen wollen. Ich möchte Ihnen herzlich danken. Sie haben mir geholfen. Sie glauben nicht, wie wohl Sie mir taten.«

Sie sah ihn an, und ihre Stimme wurde fester: »Ich gehe jetzt fort. Schenken Sie mir Ihre Freundschaft. Erlauben Sie – ich schätze Sie sehr – ich möchte Ihnen gern schreiben.«

Sie reichte ihm die Hand. Er versprach ihr ein Freund zu bleiben.

Josa hatte die Rosen zerrissen. Sie erhob sich und warf die Blätter von ihrem Schoß auf die Erde: »So – nun sollst du auch einen Abschiedsgruß haben, einen duftenden, du lieber Platz, damit du auch merkst, daß ich fortgehe. Adieu, lebe wohl, hab' Dank.«

Und dann strich sie mit den Händen über die mondbeschienenen Sträucher am Wege. »Zum letzten Male, zum letztenmal!« fügte sie an alle Sätze.

Doktor Wicking sagte ihr, sie mache sich den Abschied zu schwer. Aber sie schüttelte den Kopf: »Ich bin eine Frau. Und Frauen müssen auch vom Kleinsten Abschied nehmen, weil sie am Kleinsten hängen. Und wenn es auch weh tat, das liebe ich gerade. Man soll es fühlen, daß man geht, dann fühlt man auch, daß man glücklich gewesen.« – – –


Aber Josa reiste nicht. Ein Brief von Theodor kam. Er habe in dieser Woche auswärts die Stelle eines anderen Geistlichen zu vertreten. Josa möchte ihre Abreise um acht Tage verschieben.

Doch Doktor Wicking reiste zum festgesetzten Tage. Der Abschied von ihm fand in Josa zuerst kaum einen Gedanken, den er foltern konnte. Sie waren ihr alle voraus nach Hause, nach Leipzig geflogen. Aber als Martin sagte: »Wie übel er aussah. Wer weiß, ob wir ihn noch einmal sehen.«

Da sahen sich ihre Gedanken nach ihm um, und der Schmerz blendete sie, und die Sehnsucht suchte und behorchte die Erinnerungen. Am Nachmittag ging sie mit Martha auf den Berg, denselben Weg, den sie zuletzt mit ihm gegangen. Martha begann öfters zu sprechen, aber Josa quälte sich, eine Antwort vorzubringen. Die Unbefriedigung erwürgte ihre Gedanken. Sie hätte immer mit verbundenen Augen geradeaus gehen mögen. Mitten durch den Wust ihrer grämlichen Stimmungen. Ab und zu blieb sie stehen und sah auf die Stadt hinunter. Es war kein farbenfreudiges Genießen, ein gespreiztes Starren, ohne sicheren Ausdruck, zerfleischt von ätzendem Vermissen.

Die Sonne zog bald ihr Licht ein, dann strömte sie es wieder in blendendem Guß nieder. Eine stumme rauchgraue Wolkenwand wuchs von der Zellerwaldspitze nach Osten. Einmal zersprengte der wetzende Goldschliff vom Maine unten Josas Empfindungsleere. Nur ein stachelnder Reiz, nur einen Augenblick, dann fiel sie wieder zurück, und das aschige Schweigen begrub sie von neuem. Die Öde sah ihr auch zu Hause mit unglücklichen Augen aus allen Ecken entgegen, schlaffe Unlust betäubte sie mit eklem Überdruß.

Würde die Zukunft jetzt ein Glück werden, wie es ihre Hoffnungen und Wünsche aufgebaut hatten? Jetzt wo sie allein, zitterte ihre Ruhe. Sie fürchtete, sich vor Theodor nicht behaupten zu können. Ihre Überzeugung konnte er nicht schwanken machen. Wenn sie seinem Glauben auch alle Rechte zusprach, würde er nicht doch ihre fremden Ansichten, die ihm zuwider, abtöten wollen? Würde er sie neben seinem Glauben dulden? Vorher hatte sie sich gesagt, sie könne den Wert seiner Religion jetzt anerkennen, also auch darin mit ihm beharren. Sie werde nie mehr atheistische Behauptungen aufstellen. Aber nun kamen Bedenken. Auf die Dauer ließ sich das nicht durchführen. Sie mußte ihm ihre Ansicht allmählich einimpfen. Aber mit Worten war das unmöglich. Bei Auseinandersetzungen litt das Persönliche zu sehr. – Sie war ratlos. Er ließ sich nie zu einem schärferen Erwägen anderer Gedanken bewegen. Er klammerte sich an die Allheiligkeit des Bibelwortes. – – Josa war zur Stadt gegangen. Einkäufe und Abschiedsbesuche gemacht. Aber ihre Gedanken folgten ihr überall wie zähe Schatten.

Sie stand beim Kranenplatze am Mainkai. Holz wurde ausgeladen. Große Barken. Männer warfen sich Scheite zu und schichteten sie in Karren. In der Luft spitzer Teer- und Kiengeruch.

Es war gegen Abend. Der Westhimmel zitronengelb, das Mainwasser von schwärzlichem Efeugrün, von schlanker Glätte wie straffe Seide. Auf den Wogen messinggelbe Strähnen und springender Flimmer. Die Wellen stritten um den Goldschmuck, tränkten, schoben, überstürzten sich. Schmiegten sich aneinander, glitten geschmeidig fort, tauchten, bogen und wölbten sich in geschäftigem Wechsel.

Schreiben! Alles schreiben!

In den Büchern wurde bis jetzt nur vom vernichtenden Atheismus gesprochen, der die Religion als unnütz beiseite schiebt. Er konnte Theodor nie bezwingen. Aber vom milden, duldenden Atheismus, der alles im Recht läßt, die Religion als Stütze der Gesellschaftsordnung gepflegt wissen will, von ihm sprach man nie. Er mußte überzeugen.

Sie wollte ein Buch schreiben.

Drüben über die kargen Häuser, über die krummen steilen und geduckten Giebel des Mainviertels kroch träge schleppender Rauch. Um die Türme der Schottenangerkirche brannte der Himmel in schwülem Goldlackton. Aber der Rauch erstickte ihn mehr und mehr. Erdbraune Schattenlocken schwammen breiter und breiter über das Wasser, griffen über den Glanz und verschlangen alles.

Josa trat wieder in die Stadt. Graue Gleichgültigkeit in den Straßen, über den Menschen. Alles umher war erbärmlich, freudlos, farbenmatt. Nur sie allein kam sich rauschend übermenschlich vor. Sie schritt mit jauchzendem Gang und phosphoreszierendem Geist und meinte, alle müßten ihre flammengebadeten Gedanken sehen. – – –


Dann wieder zu Hause in Leipzig. –

»Bist du geheilt?«

»Ja, Theodor, und gesünder als je.« Sie sagte es fast mit Theaterpathos. Sie hatte die Frage erwartet und in Gedanken, wie vor einem Spiegel, einstudiert. –

Josa schrieb jetzt.

Die Mächtigkeit ihrer Aufgabe staute sich immer gewaltiger vor ihr, je mehr sie sich in die Arbeit vertiefte. Ihre Gedanken machten sie trunken und krönten sie mit üppigem Stolz. Vor dem Eifer und der Leidenschaft, welche so viel Ungeheures umzuwälzen begann, um es in Form und Sprache zu hauen, sanken alle anderen Gefühle nichtig zusammen. Selbst die Liebe begann zu verkümmern.

Josa mußte heimlich arbeiten. Schnell alles verstecken, wenn Theodor kam. Vor Weihnachten fanden sich die Ausreden leicht, aber später machte sie das lauernde Horchen nervöser und gereizter.

Das Demütigende des Geheimnisses allein erdrückte ihre Liebe nicht. Es war, daß sie sich nach einiger Zeit des Zusammenlebens wieder bewußt wurde, wie zäh Theodor an seinem Glauben hafte. Je mehr sie ihre Machtlosigkeit einsah, desto mehr zog sich ihre Liebe zurück, und nun begann sie ihn wegen seiner Unbeugsamkeit zu verachten. Sie zweifelte an der Wirkung ihres Buches. Aber sie gab ihre Arbeit doch nicht auf. Der Reiz des unumschränkten Denkens hatte sie zu sehr entzündet.

Wenn ihr Buch auch nicht ihn überzeugen konnte, hundert anderen mußte es wohltuende Erklärung bringen.

Aber, wenn er nicht duldete, daß sie das Buch der Welt gab?

Er mußte es dulden.

Aber sie schauerte und fürchtete das weiter auszudenken.

Ohne daß einer von beiden etwas Kränkendes sprach, legte sich mit der Zeit eine Verstimmung zwischen sie. Jeder fühlte die schleichende Unaufrichtigkeit. Keiner wagte die Lüge zu fassen. – –

In den ersten Tagen des Februar war noch starke vermummte Schneekälte. Dann eines Morgens Tauwetter. Kieselregen rasselte gegen die Fenster. Die Scheiben waren eisfrei, und draußen wogte fremdartige laue Luft. Man sah sie ordentlich klar, wie blankgeputztes Glas, ohne Stäubchen, ohne Hauch. Alles schien näher gerückt. Mit alter Vertraulichkeit grüßten drüben die Häuser, die Giebel, die Telephonstangen. Nach den matten Frostfarben erquickten jetzt die kräftigen Töne, der rötliche Sandstein, das bleigraue Eisendach, die goldbraunen Falzziegel, die Kamine mit den bekannten Rußspuren. Und überall tropfte und triefte es. Auf den Trottoirs wurde gescharrt und gehackt und Sand gestreut. Die Leute trippelten vorsichtig komisch, als hätte ihnen diese eine warme Nacht das Selbstbewußtsein geraubt.

Josa fühlte sich gleichfalls wie aufgetaut. Versöhnliche Gedanken strichen friedlich durch ihr Herz. Sie hoffte, es müsse ein Brief oder eine gute Nachricht kommen. In ihrem Schritt, in ihrer Stimme, in allem, was sie tat und dachte, schwang das Jauchzen und der Glockensang der Zufriedenheit.

Beim Frühstück küßte sie Theodor, was sie lange nicht mehr von selbst getan. Er blieb unbewegt in dem Ernst, der ihn seit Wochen umdunkelte.

»Ein Brief aus Würzburg? – Ist das nicht komisch, ich hatte den ganzen Morgen eine Ahnung, es müsse ein Brief kommen; ich freute mich ganz fest darauf.«

Aber es waren traurige Neuigkeiten. Die Kinder seien beide sehr krank, Scharlach, und auch Martha fühle sich recht angegriffen. – Diese wenig erfreuliche Nachricht konnte Josa doch nicht verstimmen. Sie fühlte sich zu lebensfroh heute und vermochte sich Krankheiten schwer vorzustellen.

Theodor war fortgegangen, und sie setzte sich an ihren Schreibtisch am Fenster, um ihre wohlige Stimmung zum Arbeiten auszunützen. Unten an der Ecke, hinter einem Apfelsinenkarren, stand ihr Mann und sprach mit einem Arbeiter. Sie lächelte und blätterte in ihrem Manuskripte.

Plötzlich wurde es dunkel. Stumpfes Licht klemmte sich zwischen die Häuser. Ein Platzregen brach nieder. Senkrechte Strahlen schossen am Fenster vorbei. Droschken rasten durch die Straße. Die Menschen drängten unter die Haustüren. Im Hause ein Rennen, Fenster- und Türenzuschlagen. Stimmen durchschrien das Brausen.

Josa sah Theodor eilends zurückkommen. Er sah herauf, sie nickte. Sie klappte das Heft zu und wollte es einschließen. Dann besann sie sich. Sie wollte nichts mehr verheimlichen. Einmal mußte er es doch erfahren. Ein herausfordernder Trotz trat alle Überlegung nieder.

Sie breitete das Heft wieder vor sich aus. Sie hörte die Glastüre schließen. Er trat die Stiefel auf dem Kokosteppich ab. Die Türklinke bewegte sich. Sie fror und bereute schon. Doch nicht so stark, daß sie sich noch rasch zur Einsicht entschließen konnte. Sie erhob sich, um seine Aufmerksamkeit von ihrem Platze abzulenken, ging ihm entgegen und trat mit ihm an das andere Fenster.

Die Häuser drüben wurden dunkelfeucht. Und auf dem Pflaster platzten und spritzten die Tropfen. Theodor erzählte von dem Arbeiter, er habe ihn früher einmal im Spital besucht. Josa meinte, wie gut es gewesen, daß er noch so nahe am Hause war.

Dann begann er auf und ab zu gehen. Er kam am Fenstertisch vorüber. Ihre Nerven spannten sich härter.

»Nun? – Du schreibst? Was ist denn das?«

»Ja, ich wollte eben schreiben.«

Er bog sich über das Heft.

Sie wandte sich ab:

»Ich will mal sehen, ob das Mädchen die Fenster im Schlafzimmer geschlossen hat.«

Sie ging ins Nebenzimmer. Sie schloß die Türe hinter sich nicht. Die Fenster waren zu. Aber auf dem Fensterbrett und an der Diele große Wasserlachen.

Sie rief in den Korridor. Das Mädchen kam und wischte auf. Josa blieb still stehen, sog den zähen Firnisgeruch ein und horchte nach Theodor.

Er ging drinnen einige Male auf und ab. Dann blieb er stehen und zog den Regulator auf. Das verblüffte. Sie dachte, er würde sie aufsuchen. Aber nun ging sie hinein, mit kurzen gezwungenen Schritten.

Das Manuskript war zugeklappt. Theodor wandte ihr den Rücken. Er zog alle drei Gewichte auf. Dann legte er den Schlüssel in die Uhr und schloß den Glasdeckel. Josa war befangen. Sie wußte nicht, was kommen würde. Sie hatte sich auf Furchtbares vorbereitet, es blieb so stockend ruhig. Theodor hielt die Hände auf dem Rücken. Er atmete einmal tief auf. Jetzt wußte sie, daß er erregt war.

»Komm – Josa, – laß uns das endlich in Ruhe besprechen.« Er deutete mit Ellenbogen und Schulter leicht nach dem Manuskript. Warf sich in einen Sessel. Zog mit der Fußspitze einen anderen Sessel heran, schlug leicht mit der Hand darauf: »Setze dich.«

Josa ging um den Sessel und setzte sich in die Sofaecke. Er stand auf und setzte sich neben sie:

»Nein, wir müssen beide uns vornehmen, ganz ruhig zu bleiben, so kommen wir am schnellsten zum Ziel, nur so. Wir müssen einmal mit der Sache zum Ende kommen. Warum du das dort geschrieben, weiß ich. Du dachtest, ich verstehe dich besser, wenn du mir deine Gedanken schriftlich bringst. Nicht? – Nun ja, ich wußte es. – Die Liebe sucht eben alle Wege, um zu ihrem Rechte zu kommen. Nicht wahr?«

Josa vermied seinen Blick. Sah in ihren Schoß und strich mit den Füßen über die Teppichfransen. Er streichelte leise ihre Hände. »Ich habe es mir so halb und halb gedacht, daß du noch nicht in allen Gedanken mein bist. An vielem merkte ich das. Ich war darum nicht sehr überrascht, als ich das dort fand.«

Josa zog ihre Hand zurück. Er schnell: »Nein, nein, das ist kein Vorwurf. Die Schuld trifft mich allein. Ich habe nicht mehr daran rühren wollen. Es war Schwäche von mir, ich muß sagen, ich fürchtete mich, das wieder vorzuholen, das ich begraben glaubte. Du selbst hattest zu mir gesagt: ich bin geheilt. Ich zwang mich, es zu glauben. Ich hätte dir laut sagen müssen, die Zweifel kannst du nicht so schnell loswerden, das läßt sich nicht abschütteln, da muß die Zeit helfen und – Gott. Nun, es ist ja auch jetzt nicht zu spät. Ich kann dir jetzt noch kräftig helfen, dich aufzurichten.«

Er rückte näher und legte den Arm hinter sie auf die Sofalehne:

»Aber du mußt auch, so viel in deinen Kräften steht, nicht dagegen arbeiten. Wenn du recht überlegst, mußt du dir doch sagen, daß das, was du da schreibst, keinen Wert haben kann. Mich kennst du doch, denk' ich. Meinen Gottesglauben kann mir niemand abringen. Nichts kann mich von dem Wege drängen, den ich als den einzig wahren erkannt habe. –«

Josa wollte sprechen – »Nein – bitte – erst – laß – noch einen Augenblick, ich meine, wenn du über meine Festigkeit noch nicht ganz sicher warst, so sage ich es dir jetzt. Dein Schreiben hat keinen Zweck – ganz nutzlos, darüber noch ein Wort zu verlieren. Du selbst aber schadest dir nur durch das hartnäckige Festklammern an solch wahnwitzige Gedanken. Du hinderst damit nur deinen Glaubensdrang, der früher oder später wieder durchbrechen muß. Der Drang, einen Gott zu lieben, vor ihm zu knien, denn der Drang ist jedem Menschen angeboren. Darum habe ich auch nicht Sorge, das muß wieder kommen, das ist nur momentane Verirrung. Aber du darfst dich nicht sträuben, es muß dir doch selbst wohl tun, schneller aus den Wirren herauszukommen. Dies Grübeln und Aufbauen von Vernunftgründen, überlaß das denen, die sich dazu berufen glauben. Das sind diese Hochmutsmenschen, die sich in kindischem Vermessen an ewige Rätsel wagen.«

Josa wurde unruhiger, sie hatte das Medaillon an ihrer Uhrkette mit dem Taschentuch abgerieben und auf- und zugedrückt. Er, halb komisch scherzend, faßte sie an der Schulter und schüttelte sie leicht:

»Du, hör mal, die Sache schien mir schon damals nicht so ganz geheuer, als du mir vom Pfauenhof schriebst, daß der Doktor – der Doktor, wie heißt er doch – na, es ist ja egal, daß der wieder zurückgekommen wäre. Na, dann wird sie mir doch nicht ganz heil zurückkommen, dachte ich. Und daß du im Briefwechsel mit ihm stehst, jetzt kann ich's ja sagen, es wollte mir nie recht behagen. Solchen Verkehr mußt du vor allem jetzt zuerst vermeiden. Dieser Doktor scheint mir auch einer von denen zu sein, die glauben, wenn sie mit dem Mikroskop die Wunder der Schöpfung etwas genauer sehen, sie hätten Anfang und Ende gefunden. Statt daß die Wissenschaft sie gottesfürchtiger machen sollte, werden sie hochmütig und dünken sich klüger als ein Gott, und wer weiß was. – Du tust mir nun den Gefallen und läßt alles andere sein, folgst nur meiner Führung. Willst du?«

Josa war gereizt, daß er ihre Überzeugung ganz übersah, und verletzt durch die Geringschätzigkeit, mit der er von Doktor Wicking sprach. Ihre Gedanken kräftigten sich an der Erinnerung der Macht, die Doktor Wickings Lehre auf sie ausgeübt. Sie erstarrte in harter Begeisterung für ihre Ansichten, die Mächtigkeit ihrer Aufgabe schwellte sie und verdrängte alle anderen Gefühle. Sie erhob sich und trocknete mit dem Taschentuch Lippen und Schläfe.

Er sank tief in das Polster zurück, die Finger über den Knien gefaltet, den Bart an die Brust gepreßt. Er sah sie nicht mehr erwartend an. Ihr Schweigen hatte ihm geantwortet.

Eine grauengeätzte Stille sauste im Zimmer. Diese Unheimlichkeit machte Josa hilflos. Die Luft umpreßte sie enger. Sie sehnte sich mit flatternder Angst nach Erlösung. Ihre Nerven schmerzten hart und straff, wie auf das Rad geflochten. Eine Erschütterung, und alles mußte schrill zerspringen. Sie bereute, jauchzte, stöhnte und weidete sich an dieser Spannung, alles, in jäh fliegendem Wechsel.

Ohne Überlegung, nur um etwas zu tun, für sich, für ihn, legte sie die Hände auf seine Schulter. Er blickte nicht auf. Eine steile Furche drängte sich zwischen seinen Brauen zusammen. Sie zog die Hände wieder zurück.

Er tat ihr leid, und doch sprach sie jetzt nicht schonend, die trotzgehärteten Gedanken waren stärker als die Trauer um ihn und ihre Liebe. Ihre Stimme warf die Worte wie schroffe Steine vor ihn hin. Je mehr es sie schmerzte, daß sie ihn quälte, desto unbedachter, wirrer von Verzweiflung und rücksichtsloser kantete sich ihre Rede:

»– – – Ich bin überzeugt. Fest von allem überzeugt, was ich dort schreibe. Und das ist keine angelernte Überzeugung, als Kind zweifelte ich schon. Und dann später immer wieder. Aber jetzt freue ich mich, ich habe Klarheit. Du kannst und darfst nicht verlangen, daß ich das aufgeben soll. Es ist ganz unmöglich. Das sind ja nicht fremde Ansichten, Auswendiggelerntes, das sich verwischt; das kann man nicht mehr hergeben. So wenig, wie ich meinen Arm losreißen kann. Das ist mir auch eingewachsen. Das kann ich nicht mehr von mir trennen. – Siehst du, am Anfang glaubte ich auch, das Buch würde ich für dich schreiben. Aber du verstehst mich nicht, und wirst mich nie verstehen, das ist unmöglich, das habe ich eingesehen.

Aber die anderen, die mich verstehen, für die schreibe ich jetzt –«

Er hob den Kopf. Sie merkte nicht das gesteigerte Zittern der Wimpern und sein dumpfes Staunen. Sie las mit dem Munde in entfesselter Hast die jagenden Worte von ihren Gedanken.

»– – diesen anderen soll es nützen. Ich habe lange gekämpft, bis ich das erreicht habe, was ich jetzt weiß. Wo ich nun helfen kann, werde ich helfen. Solchen, die wankend zwischen Religion und Atheismus stehen, für die will ich schreiben. Sie wollen auch ruhig werden, Ruhe will ich ihnen geben, so wie ich sie jetzt habe.«

Theodor war aufgestanden. Jetzt erst merkte sie die Veränderung. Sein Gesicht leuchtete wie von gelbem Feuer beschienen, Bart und Haare drohend dunkel.

»Du willst das veröffentlichen?« Er jagte die Worte wie erstickenden Rauch von sich.

Josa wurde in ihrem Gedankenstrom zurückgeworfen. Sie stockte. Sie fühlte das Grauen, das sie entfesseln würde. Knapp an der Entscheidung begann ihr Wille zu stottern.

Er sah sie nicht an. Den Blick am Boden schritt er zum Fenstertisch. Sie verstand sofort. Empörung flog auf. Sie eilte ihm nach und riß das Manuskript an sich:

»Nein – ich will nicht! Das sollst du mir nicht auch noch nehmen.«

Er, wie erwachend:

»Aber Josa – um Gottes willen – du weißt nicht, was du tust!«

Sie hatte wirklich im Augenblick nichts Bestimmtes gewußt.

Hätte er zuerst zugegriffen, sie würde ihm das Heft gelassen haben, es war das der letzte Widerstand gewesen, dessen ihr Wille fähig. Aber nun als sie die Blätter in den Händen fühlte, tränkte sie von neuem die Flut der darin aufgestauten Begeisterung und trieb sie zur steilsten Entschlossenheit.

Er fuhr nervös durch sein Haar. Er schluckte einige Male, und die Nasenflügel zitterten:

»Ich – es handelt sich nun nicht mehr, ob du mir das antust. Das ist mir jetzt gleich. Ich liebe meinen Gott mehr als die Menschen. Nur für ihn spreche ich jetzt. Dies Buch darf nicht in die Welt. Und auch mein Haus soll rein bleiben. Das ist alles Unrat. Wirf das Buch fort. Im Namen des Herrn befehle ich es. Du wirst das Buch fortwerfen, Josa!«

Josa lehnte am Spiegeltisch, das Heft in beiden Händen auf dem Rücken. Die Erregung klemmte ihren Hals, Schultern und Arme in gespanntem Schmerz. Ihre Knie begannen zu zittern. Sie stemmte die Fußspitzen auf die Diele, um aufrecht zu bleiben. Sie hatte sich gegen den niedern Silberschrank gepreßt, dessen Türe von selbst aufgegangen war; nun versuchte sie, sich hochzurichten:

»Theodor –,« ihre Brust schütterte, und aus ihren Augen quollen Tränen – »ich – kann nicht

Sie klammerte sich an den Rand der Schranktüre und schlug mit der Stirn an die Kante.

Er kam, faßte sie behutsam am Arm und führte sie zum Sofa. Sie fühlte sich so wohl, so schlaff, so umfriedet von seiner Güte. Sie fiel erschöpft auf das Polster. Er hob ihr die Füße hinauf und schob ihr die Kissen zurecht: »Ruhe dich aus. Du bist jetzt zu aufgeregt. Wenn du zur Ruhe gekommen, wird sich wohl alles geben.«

Sie nickte leise mit geschlossenen Augen. Nicht als Antwort, mehr um ihre eigenen schmerzenden Gedanken zu besänftigen. –

Dann lag sie eine Stunde allein.

Sie preßte immer das Taschentuch an die Augen, aber sie konnte nicht weinen. Beim Niederlegen hatte sie das Manuskript unter ihren Arm geschoben. Sie zog es höher, unter die Schläfe, strich auf dem glatten Umschlag auf und nieder und lauschte dem Knistern ihrer Haare. Allmählich wurde sie ruhiger, sinnender. Eine lange Zeit lag sie unbeweglich. Dann erhob sie sich, rieb fröstelnd die Hände und ging fast leicht und unbefangen durch das Zimmer. An der Diele hob sie eine Stecknadel auf. Im Weitergehen stach sie sich in die Hand. Die Finger waren taub. Sie stach wieder, ein feiner Blutpunkt kam, aber sie fühlte nichts. Ein Lachen ritzte ihr Gesicht, als ob ein weher Sprung feines Glas splittert. Dann warf sie die Nadel fort. Sie wickelte sich in ein Tuch und suchte Briefpapier, und dann setzte sie sich zum Schreiben.

Eine Weile sah sie sich im Zimmer um. Das lag alles in kühler stechender Klarheit. Alles unberührt. Nichts wallte und pochte mit dem entschlossen geballten Gedanken, der in ihr wach geworden.

»– – nicht wahr, Sie verstehen mich? Es gibt nur einen Menschen, von dem ich weiß, daß er mich ganz versteht. Ich sage Ihnen das offen, und Sie müssen dabei vollständig vergessen, daß es eine Frau ist, die Ihnen dies sagt. Nach dem, was sich heute ereignete, habe ich nur zwischen zwei Möglichkeiten zu wählen. Bleiben kann ich nicht. Ich bin fest entschlossen, sofort zu gehen, entweder in das Nichts zurück, oder – lassen Sie mich noch offener sein und vergessen Sie noch mehr, daß ich eine Frau bin – wenn Sie mir versprechen könnten, ein Bruder zu werden, wie ich Ihre Schwester sein möchte! – Wenn wir vereint arbeiten und streben könnten in einem idealen Verhältnis, wie es die Welt mit ihren häßlichen Vorurteilen noch nicht kannte, – – das wäre die andere, die letzte Möglichkeit.« – – –

*

Fünf-, sechs-, siebenstöckige Häuser. Eiserne Balkons, welche über die ganze Frontlänge schnurren. Riesige Goldlettern wie Trompetenstöße: Pension Fischer, Pension Pikand, Pension Birard, Boret, Bovard! Auf leeren Seitenflächen quer zur Höhe: » bon- langerie«, » Horlogerie!« Am Kai Hotelpaläste, ganze Ketten. Dann die Rhone, dies Märchenwasser, dies Gemisch von Mondnachtblau und Pfauengrün. Breite, flache Brücken, qualmende Dampfer, Zischen, Pfauchen, hohles Tuten. An Ecken, Plätzen kokette bunte Zeitungskioske. Schilder, Firmen, ein Klettern und Schreien bis über die Dächer. Und draußen die Wasserebene, der See mit seinen Silberzähnen, seinen glasklaren Indigoaugen. Segelboote wie Schmetterlinge, und noch weiter, fern über den ernsten Savoyerbergen, der Montblanc – ein Alabastersarkophag, in ewigem Schweigen den Himmel stützend.

Dies – Genf.

Und Josa war in Genf.

Ihrem Briefe an Doktor Wicking jagte eine Depesche nach. Sie warte nicht auf Antwort, sie reise sofort.

Mit Theodor sprach sie nicht mehr. Sie schrieb kurz nieder, daß Trennung die einzige Lösung dieses Konfliktes wäre. Dann reiste sie ab.

Doktor Wicking hatte sie in Genf am Bahnhof empfangen und ihr schweigend die Hand gedrückt. Im Hotel hatte sie ihm nochmals alles erzählt. Er hoffte, daß alles noch gut würde. Das reizte sie fast. Sie sagte, daß sie ihr Buch weiterzuschreiben gedächte. Er hatte nur genickt. Das wäre das beste, dabei lerne sie sich am besten kennen. Dann hatte er mit einem karikierenden Humor, den Josa sonst nie an ihm gekannt, von gleichgültigen Dingen begonnen.

Er half ihr eine Pension suchen, und immer wieder flatterte durch seine Reden diese Champagnerfröhlichkeit, die alle Worte Grimassen reißen läßt und ihnen Clownkappen überstülpt.

Josa hatte sich das Wiedersehen anders gedacht. Dramatischer. Er kniend vor ihren Leiden, sorgsam Teppiche über Schärfen und Stachel ihrer Vergangenheit breitend, gebeugte Ehrfurcht, Bewunderung für ihre Wunden, und atemlose Aufopferung für die Gegenwart.

Von all diesem war nichts. Er schien durchaus nicht von der Bedeutung, welche die Trennung von ihrem Manne nach sich zog, durchdrungen zu sein. Er plauderte mit oberflächlicher Harmlosigkeit zu ihr, so wie man auf Kranke einspricht, um durch mutwillige Gespräche den Ernst ihrer Lage fortzutäuschen.

Allmählich sträubte sie sich nicht mehr gegen diese Art. Sie war überzeugt, wenn er erst die Festigkeit ihres Entschlusses eingesehen, mußte dieser tändelnde Ton wieder dem Ernst weichen, den sie so sehr an ihm schätzte.

In der ersten Zeit vermied es Josa ängstlich, allein zu sein. Die Stille war ihr wie eine helle verstörte Nacht. Die Erinnerungen schossen mit irrem Fluge auf, und sie duckte sich erschreckt.

Sie sagte sich, daß das, was sie getan, geschehen mußte. Daß es für sie und Theodor nur diesen einen Ausweg zur Befreiung gegeben. Daß er sich sicher wohl dabei fühle und glücklicher als in diesem immerwährend wühlenden Zwist. – Aber es nützte nichts. Eine ätzende Angst hatte sich in ihrer Brust festgesogen. Das hemmte mit würgendem Druck den Blutlauf, den Atem, alle Bewegungen. Sie fühlte sich nur noch mit Anstrengung leben.

So schreckhaft war sie geworden. Das Klingeln im Hause, das Öffnen der Türe, ein Brief, alles Plötzliche schnitt mit jähem Griff ihre Kraft ab und stürzte sie wie von Turmhöhe nieder. Oft mit einem grellen Ruck gelähmt, – erst allmählich sammelten sich dann wieder die versprengten Kräfte.

In den ersten Wochen sah sie überall Theodor. Auf der Straße, in den Anlagen, auf der Treppe, und in der Nacht, wenn sie mit einem Male wach lag, so wach als hätte sie gar nicht geschlafen, hörte sie seinen Atem in der Zimmerecke. Dann fror sie und fühlte im Genick warmen Schweiß.

Das Manuskript lag unberührt in ihrem Koffer. Sie scheute sich, ihre Gedanken vorzuholen. Sie waren noch besudelt von ächzendem Blut. Kampfblut, das ihre Freiheit ertrotzt hatte.

Um sich zu vergessen, versuchte Josa mit anderen zu fühlen, in andere einzudringen. In der Pension Jacques war man eine lebhafte Gesellschaft. Jeder hatte seine Eigenart. Ein schielender Bulgare, der der alten Mademoiselle Jacques, der Dame des Hauses, den Hof machte; den Mademoiselle Olivier, ebenfalls eine Dame höheren Alters, nicht leiden mochte, weil er die besten Bratenbissen und den meisten Wein erhielt. Dann ein junger Mann, der auf einem deutschen Konservatorium Musik studiert hatte, der aber am Sterbebette seinem Vater versprechen mußte, die Musik aufzugeben, Geschäftsmann zu werden. Der nun jedermann klagte, daß er in dem Genfer Bankhause einschlafe. Eine junge Pariserin, die von Polen schwärmte und von Pasteur, der sie vom Tode gerettet haben sollte. Zwei deutsche Schweizer, die in einer Uhrmacherschule lernten, von denen der eine stets leise pfiff und der andere stotterte und spuckte.

Die Unterhaltung wurde französisch geführt. Zuerst war es Josa reizvoll, die verschiedenen Menschen zu belauschen und sich selbst mit Fragen und Blicken befühlen zu lassen. Aber es lenkte nur kurze Zeit ab. Die Flut der eigenen Empfindungen war so bis ins Innerste aufgejagt, das ließ sich nicht dämmen, das wälzte sich heran und preßte alles andere rücksichtslos nieder.

Dieser Zustand wurde unerträglich. Wenn sie nur eine Sehnsucht hätte! Aber da war auch nichts, keine Hoffnung, keine Erwartung; alles war gekommen wie sie es gewollt. Nun sie Freiheit zum Arbeiten hatte, fehlte ihr die Leidenschaft, das Herzpochen nach einem Ziel.

Mit Doktor Wicking kam sie täglich zusammen. Er zeigte ihr die Stadt, oder sie saßen oben auf dem Balkon, er erzählte die Tagesneuigkeiten, aus der Zeitung, aus seinen Arbeiten, aber sie fühlte, wie seine Worte mit erzwungener Blindheit in weitem Bogen um das gingen, was sie beide am lebhaftesten bedachten und verschwiegen. Er fragte sie nie nach dem Manuskript. Er berührte nie die Gedanken, die eigentlich die Grundlage ihrer Freundschaft waren. Das gab ihrem beiderseitigen Benehmen scheue Verschleierung und hinderte das Überströmen vertraulicher Wärme. –

Es wurde im Kalender Frühling. Draußen merkte man noch nichts. Der März war pfauchend wie ein Kettenhund, der April griesgrämig. Das Wetter blieb tagelang dasselbe. Als ob die Welt stehen geblieben wäre und sich besinnen müsse, was sie wollte. Die Beleuchtung war an jedem Tag zur selben Stunde genau dieselbe, dieselbe blasse Ausdruckslosigkeit. Kein Licht, kein Schatten. Graue gefühlsleere Stimmung. Josa sehnte sich fast die Augen blind nach Wechsel und Sonnenschein. – Plötzlich ein blauer Tag. Und dann noch einer. Man atmete. Das kam erlösend. Aber nicht lange, dann wieder schwere dunkle Stunden. Wolkenkolosse wälzten sich über das Blau. Der Sturm keifte. Die Luft floh und prallte zur Erde.

Aber das war doch Abwechslung. Man hörte die Natur noch leben. Nicht jene Ruhe, in der jeder Atemzug am Boden schlich.

Dann eines Morgens alles Sonne, alles blau. In gleichgültiger Deutlichkeit, als wäre es nie anders gewesen. Die Strahlen standen steil auf der Erde. In der Stille schwoll allmählich eine aufdringliche Hitze.

Das grelle Licht tat Josa wohl. Es war ein noch stärkerer Reiz als ihre herzschnürenden Gedanken. Sie begann unter den lärmenden Farben aufzuwachen. Sie trank begierig die Farbenüppigkeit, die über Land und See und Bergen blühte. Wenn das Grün und das Blau und das Rot ihr im Auge brannten, fühlte sie sich satt gestärkt. Nur in der toten Einsamkeit ihres Zimmers schwollen die quälenden Gedanken aschfahl wie vorher. –

Eines Spätnachmittags war Josa mit Doktor Wicking auf den kleinen Salève gestiegen. Oben in Monnetier hatte sie ein savoyardischer Hochzeitszug aufgehalten. Sie merkten plötzlich, der Himmel hatte sich bedeckt, es war schnell dämmerig geworden.

Sie waren noch oben zwischen den spärlich bewachsenen Böschungen, da zuckte eine gelber Schein auf. Noch einer und noch einer – Wetterleuchten. Bald hier, bald dort. Gedankenschnell. Drei Lichtmeere zu gleicher Zeit. Es griff jäh über den Horizont, klammerte einen zitternden Moment blendend am Himmel und stürzte zusammen. Bläulich gelb, fahlgrün, rosigviolett, aber alles stier, groß wie das Auge eines Wahnsinnigen.

Sie schritten schneller. Je tiefer, desto brütender die Luft und die Stille. Mit jedem Flammenschlag flohen verstörte Lichter vor ihnen her, umzüngelten die Laubmassen, zerfleischten die Dämmerung.

Josa blieb bewundernd stehen, auch Doktor Wicking, aber dann trieb er zur Eile.

»Wir müssen unten sein, ehe der Regen kommt. Sonst werden die Steine glatt. Dann ist es in der Nacht gefährlich.«

Der schmale Stufenweg, der flimmernde Granit, die flackernden Schatten machten Josa schwindlig. Sie glitt einige Male aus und lachte etwas gereizt:

»Ich komme kaum noch weiter.«

Er sagte, sie solle die Hände auf seine Schulter legen, die Augen schließen und ihm ruhig folgen.

Es war fast völlig dunkel geworden. Die Flammen zerrten gieriger an der Nacht. In den Bergen gor ein röchelndes Grollen. In der fiebernden Helle stieg ein Wolkenqualm über den Bergkamm.

Josa konnte die Augen nicht schließen. Es lag solch kitzelnde Erregung in diesem atemlosen Auf- und Niederschrillen von Tag und Nacht. Sie sah über Doktor Wickings Schulter, dabei geriet sie wieder ins Stolpern. Er wandt sich rasch und hielt sie an den Armen. Im selben Augenblick barst die Nacht, ein Krachen, drei, vier Schläge, die Luft rasselte, knackte, der Boden schütterte, es war, als spalte sich der Berg.

Josa hielt sich fest an ihn: »Das ist ja furchtbar!« Aber sie fürchtete sich nicht. Sie wäre gern stehen geblieben und hätte weiter gelauscht.

»Es wird noch alles gut. Wir sind gleich unten. Ist Ihnen noch schwindlig?«

»Nein.«

Das Laub knirschte. Die Luft begann zu kreisen, ein wimmernder Wind flog über ihre Köpfe. Ein leises Picken, die ersten Tropfen sprangen ihnen in den Nacken.

»Kommen Sie, so geht es besser.« Er schob seine rechte Hand unter ihrem Arme durch und faßte sie fest um die Hüften:

»Halten Sie sich. Sie können nicht fallen.«

Nun jagte er mit ihr hinunter. Mit der freien Hand in das Gebüsch, an die Felsen greifend, sich immer einen Schwung gebend. Zuerst versuchte Josa mit den Füßen an der Erde zu bleiben, dann, wie er schneller raste, fand sie keinen Boden mehr. Sie umklammerte mit der einen Hand seinen Hals, mit der andern seine Schulter. Zweige schlugen ihr ins Gesicht, und sie drängte den Kopf an seine Brust. Der Wind jagte ihnen immer schwerere Tropfen nach. Sie sog den laufeuchten Dunst, der aus seinem nassen Rock quoll. Sein Springen stieß sie ruckweise mit dem Mund an das warme Tuch.

Seine festgepreßte Hand um ihre Hüfte, die steilgeschwollenen Armmuskeln, die hochgezogene Schulter, in diesem harten Krampf, der sich um sie spannte, lag solch wilde angstgedrängte Anstrengung. Es war ein reiches Bewußtsein, daß dies ihr galt, diese hochgestemmte Kraft für ihren Körper kämpfte.

Daß es Doktor Wicking war, daran dachte sie im Augenblick nicht. Mit zugepreßten Augen wühlte sie sich in das lauschige Behagen der Sicherheit. Wie aus einem Versteck horchte sie auf seine klatschenden Schritte, das prasselnde Laub, auf das Fluten in den Bergen. Sie verfolgte durch die leise geöffneten Wimpern das Wüten des Lichtes, und das Aufschreien der gegeißelten Nacht. Die Stöße wurden milder, sein Schritt langsamer, da erwachte sie. Er ließ sie auf den Boden gleiten.

»Schon unten?« Es entfuhr ihr unwillkürlich.

Er nickte, wollte sprechen, aber er hatte keinen Atem. Er sog mit geöffnetem Munde nach Luft, seine Brust stieß auf und nieder. Dann überfiel ihn ein Hustenkrampf. Josa klagte und befürchtete, daß er sich geschadet habe. Er antwortete nicht und hielt das Taschentuch vor den Mund. Dann keuchte er einige Worte: – »der – Zug – gleich« und deutete nach der Richtung des Bahnhofs von Veriers.

Sie gingen rasch durch das Dorf und konnten eben noch in die Waggons steigen. Sie sah erst jetzt, wie bleich er war. Die Augen geschlossen, das Kinn, die Backenknochen spitzer, und unter den Wimpern und an den Schläfen graue Tiefen. Die Schultern zitterten, und er hielt die Hand an die pochenden Halsadern.

Es war stumpfer Dunst im Wagen. Josa öffnete das Fenster. Er nickte leise dankend. Dann griff er plötzlich nach dem Taschentuch. Ein kurzer, knirschender Husten – sie schauerte:

»Blut?!«

Er schüttelte abwehrend den Kopf. Aber sie hatte es gesehen. Es drängte sich fast schwarz durch das weiße Tuch. Er nahm den Hut ab und legte ihn neben sich. Schweiß stand ihm auf der Stirn, sein Haar klebte an den Schläfen und zitterte im Luftzug. Josa schloß wieder das Fenster. Die Erregung zuckte um ihre Mundwinkel, sie mußte fast lachen vor Entsetzen. Er wollte sprechen, sie fühlte, daß er sie beruhigen wollte, und bat ihn, sich nicht anzustrengen.

Dann lehnte sie sich in den stoßenden und schütternden Sitz zurück.

Wenn er sterben würde? Sie hatte noch kaum an diese Möglichkeit gedacht. Vorhin sie so ruhig und bequem in seinem Arm, und er todwund, ringend mit der entsetzlichen Nacht. Sie kam sich schuldig vor. Sie griff nach seiner Hand: »Sie dürfen nicht sterben.«

Er verstand sie nicht gleich in dem Rasseln der Räder und machte eine fragende Bewegung mit dem Kopf. Aber sie konnte das nicht sofort noch einmal sagen. Indessen hatte er aus dem zerflatterten Klang den Sinn begriffen, und wehrte wieder ab, diesmal übermütig belustigt. Nun konnte sie es wiederholen, noch schwermütiger und noch inniger: »Nicht sterben.«

Er steckte das Taschentuch ein. Rückte vor, strich über ihre Hand und hielt sie in seinen beiden Händen. Sie starrten hinaus. Laternen, erleuchtete Fenster. Baumsilhouetten flogen vorüber und manchmal krampfte noch den Himmel ein jäher Lichtstoß. Eingehüllt in das Klirren und Poltern und Zischen des Zuges sank Josa wieder in wunschlose Ruhe. Mit weit geöffneten Augen ließ sie sich von ihr in Träume singen. Sie fühlte nur das weiche pochende Blut seiner Hände, und die Wärme, die aus jeder Pore strömte. Sonst hatte sie alles vergessen, sich und ihn und die Welt.


Josa arbeitete wieder. Einige Tage nach jenem Ausfluge, als sie sich eines Abends auskleidete, drängte sich ihr eine neugierige Sehnsucht nach ihren Gedanken auf. Sie holte das Manuskript. Sie las. Und blieb grübelnd in der Sofaecke, bis sie vor Müdigkeit fror. Es war ihr fast unangenehm, daß sie schlafen mußte. An den nächsten Tagen begann sie mit Eifer zu schreiben.

Seit jenem Abend war eine Schwüle in ihre Freundschaft zu Doktor Wicking gekommen. Sie wußte, daß sie ihn anders liebte, wie vorher: Dies satte Verstehen und Zusammenschmelzen ihrer beiderseitigen Ansichten hatte das Blut begehrend entzündet, in den Adern rauschte es und wollte in Purpur und Flammen überschäumen.

Es war natürlich. Es hatte so kommen müssen. Eine murmelnde Ahnung war schon gekommen, als sie zu ihm geflüchtet und von Idealfreundschaft gesprochen. Schon damals. Aber sie hatte ihr den Mund zugehalten, und sie mit der ekstatischen Phrase von einer Liebe wie Schwester und Bruder überschrien. –

Wochen waren vergangen. Josa arbeitete mit drängendem Eifer. Mit zärtlicher Sorgfalt prüfte und sondierte sie alle Worte, in welche sie ihre Gedanken meißelte. Diese Gedanken waren in ihm geboren. Alle Kraft, die sie ihnen zuwandte, sollte mit Wärme von seiner Wärme pulsieren. Einmal las sie ihm einen Teil vor. Er blieb noch eine lange Weile wie ein Knäuel zusammengekauert, das Kinn auf die Hand gestützt, an seinem Bart kauend und mit den Fingerknöcheln über die Unterlippe reibend.

Sie kannte das so gut an ihm. So blieb er, wenn er sich in einen Gedanken tief eingearbeitet, und sich nicht trennen konnte. Schon diese Stellung war ihr Lob genug für ihre Arbeit.

Von da ab war eine leise gehärtete Zurückhaltung in der Art, wie er mit ihr sprach, wie er ihr die Hand reichte, in allem eine ernste sich neigende Achtung. Erst war sie verblüfft. Dann schien es ihr lächerlich, sie suchte mit Scherzen abzuwehren, aber ihr Sträuben änderte nichts. Sie glaubte, er bewundere ihre Klugheit ihren Scharfsinn, in die Bewunderung mische sich Scheu. Sie sagte ihm, ihre Arbeit baue sie nur auf seinen Ansichten auf, seine Anschauungen, seine Gedanken füge sie zusammen, um sie der Welt in bequem verständlicher Form zu zeigen. Auch das vermochte nichts. Sie vermochte ihn nicht mehr zu sich zu ziehen. Er hatte mit seiner Zurückhaltung einen kühlen Ring um sie gelegt, den er nicht überschritt, und aus dem sie selbst nicht zu ihm gelangen konnte. Sie hatte so viel von ihrer Arbeit erwartet! Das letzte, was ihrer Freundschaft fehlte, das heiße Aufschnellen und Ineinanderstürzen ihrer Wärme – und nun – diese sich steifende Fremdheit, deren Ursprung sie nicht ergründen konnte. –

Gegen Ende des Sommers.

Ihr Buch war beendet. An einem hellen Abend las sie ihm in den einsamen Anlagen an der Arve den Schluß vor. Auf dem Heimwege war er nachdenklich. Vor ihrer Wohnung meinte er, das Buch halte er noch nicht für ganz abgeschlossen. Sie habe alles logisch entwickelt, vom Keim der frühesten Religion bis zum allmählichen Aufbau der Lehre vom Christentum, dann den Atheismus, und daß die Religion noch nicht zerstört werden dürfe, da die Menschen zur Selbstbeherrschung noch nicht reif seien. Aber sie müsse noch von der Nächstenliebe sprechen. Daß wir in ihr uns selbst lieben, um durch augenblickliche Entsagung uns nachträgliche Befriedigung zuzuwenden.

Sie bat ihn, mit hinaufzukommen, ihr das weiter zu erklären. Er überlegte einen Augenblick: »Heute noch nicht.«

Aber dann, wie sie sich wunderte: »Warum nicht heute?!«

»Nun gut, es kann auch heute sein.«

Dann ging er mit ihr. Es war schon dunkel im Treppenhause. Mademoiselle öffnete: das Mädchen habe vor fünf Minuten die Lampe in Frau Vogts Zimmer getragen.

Aber die Lampe rauchte, und das Zimmer war voll Qualm. Mademoiselle riß Fenster und Türe auf. Bat, man möge zu ihr in den Salon kommen, es werde gleich serviert. Mit ihrer umklammernden Liebenswürdigkeit lud sie Doktor Wicking zum Abendessen ein. So kamen sie nicht dazu, weiterzusprechen. Nach dem Abendessen war Monsieur Tabonnier gebeten, auf seiner Violine vorzuspielen. Man setzte sich wieder in den Salon. Die Pariserin wollte, daß er im Dunkeln spiele. Mademoiselle schickte das Mädchen mit den Lampen hinaus.

Eine gelbliche Dämmerung schwamm in dem Zimmer. Josa saß am Ende einer Chaiselongue. Sie hörte das Spiel kaum. Sie saß still mit ihren Gedanken, die Musik umwölbte ihre Einsamkeit.

Plötzlich ein Riß. Sie wurde wie hineingeschleudert. Doktor Wicking hatte sich neben sie gesetzt. Seine Finger berührten ihre Hand. Sie bewegte sich nicht. Er saß ganz nah, seinen Arm auf die Chaiselonguelehne gestützt. Sein Atem wärmte ihr Haar. Nun begann ein leises wechselndes Kosen. Sie hob ihre Hand und berührte die seine und ließ sich dann wieder von ihm streicheln. Und um sie gähnte die wirre, von der Musik geblendete Stille. Schwüles, versengtes Rosenholz, betäubender Scharlach, und darinnen wühlten die Töne mit weißen, grinsenden Dolchen.

Ihr Kopf rauschte. Sie preßte die Zähne zusammen, um nicht zu zittern. Mademoiselle Jacques flüsterte ihr etwas über die Musik zu. Sie nickte und antwortete sehr langsam und sehr genau. Aber ihre Worte waren doch gleichsam geborsten. Jeder Nerv horchte nach jener Wärme hin, die von ihm strömte. Zuletzt drückte er noch mit weichem Umfassen ihre Hand. Es war wie eine Umarmung ihres ganzen Körpers. Dann wurde geklatscht, man trennte sich.


Der nächste Tag ein Sonntag. – Pension Jacques lag in der zweiten Etage des Eckhauses am Platz » du rond point« und des Boulevard » des philosophes«. Eine reiche Aussicht auf den bewegten Platz. Vorn die graugrüne Wiesenfläche des Plaint palais, dahinter schwarze Baumgruppen und weiter violett und silbergrau die zerrinnende Ferne. Bei klarem Wetter ganz nah der schneegeäderte Jurazug. Bog man sich über den Balkon, nach links, hob sich dicht, zum Greifen nah, über den glimmernden Schieferdächern mit ihren grünglasigen Oberlichtkasten und der Unruhe vielarmiger, geweihartiger Kaminröhren, der »große Salève«.

Die Balkontüren zu Josas Wohnzimmer waren weit geöffnet. Ein Sonnendreieck streckte sich über die Schwelle. Die Tulpen des Teppichs spien wildes Rot, über den Fäden der schwarzen Kante Irisflimmer. Tiefer im Zimmer lagen die Farben trocken und stumpf. Zimmetrot, Sandgelb und welke braune und grüne Töne.

Draußen hing die grüne Persienne schräg tief bis über das Geländer. Nur durch die Löcher der Gurten spritzte das Licht.

Josa im Schaukelstuhl. Sie stemmte die Füße gegen die Balkonbrüstung. Hatte das Kinn auf die Knie herabgebeugt und starrte durch das staubige, gerankte Eisen hinunter auf den weißen Platz.

Nachmittag: und sie erwartete Doktor Wicking. Den ganzen Tag hatte ihre Sehnsucht den Stunden vorausgegriffen und ihr den Augenblick mühsam herangezerrt, wo sie ihn wiedersehen und sprechen sollte. Sie wußte, was kommen mußte, sie schloß die Augen, die Gedanken krochen ins Blut und wühlten wieder jene rotsausende Glut auf, die alle Sinne in ätzendem Narzissennebel erstickte.

Sie spähte unter den vibrierenden Wimpern nach der Straße. Dann bog sie mit der Fußspitze die grünlila Blütenballen des Floks beiseite. Unten breite graublendende Asphalttrottoirs. Nur wenige Leute. Bläuliche Schatten, Netze der Ahornbäume. Das Grün schon saftlos gerunzelt, von müdem Olivebraun.

Nicola – Nicola – la – la – la!

Josa lachte still.

Das war der Papagei des Herrn aus Sumatra unten im Parterre.

Sie war jetzt nicht mehr mit ihren Gedanken ganz allein. Sie erhob sich. Der Schaukelstuhl fiel zurück, an die Wand, und feiner Mörtel rieselte auf den Blechboden.

Dann stand sie im Zimmer vor dem Kaminspiegel.

Sie war seit zwei, drei Jahren schöner geworden. Sie wußte es. Um den Nasenrücken legte sich die Haut knapper. Das Oval nicht mehr eirund, eine leise schwingende Senkung unter den Backenknochen, ein leises gespanntes Niederdrücken der Mundwinkel und der matte violette Halbmond unter den Wimpern gaben dem Gesicht eine reichere Nüancierung. Und dann noch ein Schwellen und Zusammendrängen der Brauen zu einer nach innen tastenden Falte, das auch, das machte ihre Züge beherrschter, vom Denken geschärfter.

Sie steckte die Schildpattnadeln im Haare fester. Plötzlich lief sie auf den Zehenspitzen wieder zur Balkontüre. Bückte sich. Lachte leise. Und kam wieder zurück. Sie hatte geglaubt auf dem Trottoir seinen Schritt zu hören.

Das Warten war so kitzelnd. Durchaus nicht langweilig. Man lebte schon halb im Genuß. Die Gedanken hatten ihre Fühler in die nächsten Sekunden eingesogen, nur der Körper blieb noch plump zurück.

Sie ging durch das Zimmer und strich mit dem Zeigefinger über die hellen, elfenbeinfarbigen Sessel, mit den eingewebten blauen Palmzweigen und blauen Kolibris. Sie tippte auf den Fächer der kleinen vergoldeten Porzellanchinesin. Eine Weile balancierte das, sie tippte wieder, immer wieder. Zuletzt im Takte einer Melodie. Dann sang sie zwischen den Zähnen. Dazwischen wälzten sich ihre Gedanken im Kern des Empfindens um Doktor Wicking, nur die Ausläufer streiften halbwach die Umgebung.

Neulich hörte er mit ihr Coquelin. Sie hatte ihn noch nie so herzlich lachen sehen. Er hatte lebhaft mit seinen großen weichen Händen geklatscht. Sie versuchte es auch. Sie sah wieder das Theater mit den braungoldenen Logen, den Vorhang, zwei Säulen gemalt, aufgespannte Teppiche, darunter in der Mitte eine Landschaft vom See und Montblanc.

Der Tempelchor aus Aida fiel ihr ein. Sie hob erst die Arme, die Hände geschmeidig gesenkt, den Oberkörper wiegend. Sie griff nach zwei japanischen Fächern hinter dem Spiegel. Summte den weichen müden Gebetssang und senkte dabei die Fächer auf und nieder. Mit schleifendem, stockendem Gang bewegte sie sich durchs Zimmer immer auf dem Zickzack des Parketts. Ein Blinken im Spiegel hemmte sie. Sie blieb stehen, betrachtete vorsichtig ihre Hand, zog den Trauring ab, trug ihn in das Schlafzimmer. Es klingelte. Sie schreckte auf: Sie warf den Ring in eine Schmuckschale. Die Hände griffen den Kommodenrand, der Kopf horchte nach rückwärts.

Nichts. Eine fremde Stimme. Besuch für den Bulgaren. Sie ging wieder hinaus, direkt auf den Balkon.

Schon halb vier.

Sie rieb die Hände und drehte an der Stelle, wo der Ring gesessen.

enn er unwohl geworden? Sollte sie zu ihm schicken? Noch einmal wollte sie bis ans Ende des Boulevards sehen. – Sie bog sich über das warme Geländer.

Lauter gleichgültige Menschen. Die eine Seite des Platzes schon im Schatten, die andere grell beleuchtet. Der Lichtstrom fiel steil an ihr nieder und preßte dünne, knappe Linien unter die Gesimse. Die Häuser mit den trägen Jalousien von oben bis unten leer und monoton geglättet. Oben dicht an den Dachkanten ein steifblauer Himmel, ebenes Blau.

Sie las der Reihe nach die Schilder der Magazine. Stiere kettern auf schwarzem Grunde. Die Töne eines Klaviers träufelten aus irgendeinem Stockwerk. Triller, Läufe, immer dasselbe. Sperlinge keiften, einige Peitschen klatschten. Wagen mit gestreiften Sonnendächern aus Leinwand, Leute darin mit gierig suchenden Augen und abgejagten Gesichtern, Vergnügungsreisende.

Mademoiselle Jacques kam vom andern Ende des Balkons. In der Hand, mit dem Jettreifen am Gelenk, den wedelnden Palmfächer, den sie im Sommer nur nachts fortlegte. Sie hielt zwei Briefe hoch. Ihre blauen Perläuglein zwinkerten vergnügt zwischen rosigen Fettpolstern.

Josa wußte, er hat geschrieben.

Mademoiselle neckte von weitem: »Was bekomme ich, was bekomme ich, wenn ich Ihnen was bringe?«

»Herzlichen Dank!« Josa lachte knapp und ungeduldig.

Mademoiselles rechte Wange noch rot vom Mittagsschlaf, mit der eingepreßten Struktur der Schlummerrolle. Sie war wie immer echauffiert. Sie knickte geziert, erschöpft in den Schaukelstuhl. Sie gab die Briefe noch nicht frei: »Nein, nein, nein, – hören Sie erst. Denken Sie, Loisette vergaß um zwölf Uhr den Briefkasten zu öffnen. Mir fällt es vorhin ein. Ach, denk' ich, was wird die arme Madame Vogt warten! Sie lauern doch täglich auf Nachrichten von Ihrer Frau Schwägerin. So sind diese Mädchen. Man muß überall selbst sein. Ich lief also gleich selbst hinunter. Sie hat ihren Sonntag heute. Aber ich werde es ihr sagen. Auf nichts kann man sich verlassen, immer hat man seinen Ärger.« –

Josa hatte seine Handschrift erkannt. Sie machte sich los und las in ihrem Zimmer.

Er konnte nicht kommen. Er mußte wegen einer wichtigen Angelegenheit heute morgen nach Lausanne fahren. Er komme zum Abend zurück. Würde sich erlauben, sie nochmals aufzusuchen. Josa war etwas gelähmt von dem Unerwarteten. Daß er nach Lausanne mußte, überraschte sie nicht. Er hatte dort den Verleger seines botanischen Werkes. Also irgendeine Besprechung.

Allmählich sammelte sie sich wieder. Sie holte einen kleinen Portemonnaiekalender und suchte die Züge von Lausanne auf. – Gegen zehn Uhr der nächste. Nein, da kam noch einer um sieben. – Eine Weile überlegte sie noch und suchte ihn in den Bergstraßen Lausannes. Dann dachte sie an den zweiten Brief.

Martin schrieb. Die Kinder seien wohl. Martha könne sich immer noch nicht vom Scharlach erholen, das sie von den Kindern bekommen hatte. Sie sei recht schwächlich, doch immerhin um vieles besser ...

Nun begann wieder das Warten. Das Grübeln begann sie zu quälen. Ihre Gedanken liefen in einem Kreise. Wenn sie sich weglief, kam sie doch stets wieder auf sich zurück. Sie beobachtete kurze Zeit eine junge Russin in rotem Fez, die drüben auf dem Balkon Zigaretten rauchte. Später kam eine Savoyardengruppe. Harfen- und Violinspieler. Josa warf einige Franken hinunter. Da spielten sie ihr fast eine Stunde.

Allmählich wurde die Sonne gelber. Mücken wirbelten wie Staub in der Luft. Die Schatten schoben sich bleischwer über den Platz.

Doktor Wicking war nicht um sieben gekommen. Nach dem Abendessen ging Josa aus dem Speisezimmer den Balkon entlang und überlegte, ob er nun um zehn kommen würde, da stand er unter der Balkontüre ihres Zimmers.

Sie erschrak nicht. Die Plötzlichkeit warf nur alles Empfinden in ihr zurück. Sie begrüßte ihn gefühlloser. Von der Überraschung geblendet.

Das Mädchen habe ihn eben erst eingelassen. Er warte kaum einige Sekunden. Er habe gesagt, man solle sie nicht beim Essen stören.

Sie hatten sich über den Schaukelstuhl die Hände gereicht. Die Persienne hing noch über das Geländer. Er mußte sich bücken, während er sprach.

Dann traten sie in das dämmerige Zimmer. Ob sie seinen Brief erhalten habe?

Josa stolperte im Sprechen. Sie sagte Dinge, die sie eigentlich nicht sagen wollte. Daß sie sich sehr nach ihm gesehnt habe. Daß sie ihn auf alle Fälle noch um zehn erwartet hätte.

»Ich kam um halb acht mit dem Dampfschiff. Ich richtete es so ein. Ich wollte gern mit Ihnen noch einiges besprechen.«

Josa zog am zweiten Fenster die Jalousie hoch.

Seine Stimme hatte den eingedrückten Klang, womit er gewöhnlich eine Erregung zur Gleichgültigkeit zwang. Sie konnte kaum die Öse der Schnur finden. Er mußte helfen.

Jetzt würde es sich entscheiden. So nah dem ersehnten Augenblick, begann in ihr ein zitternd wohliges Reuegefühl zu pochen. Die nächste Minute mußte die Sehnsucht sprengen. Die Erfüllung in gellender Röte aufbersten.

Es tat ihr fast weh, sich von dem liebgewordenen Sehnen zu trennen. Sie war der Sättigung schon wieder vorausgesprungen und stellte sich bereits das öde Behagen einer verdauenden Zufriedenheit vor.

Sie versuchte das Sehnen noch auszukosten. Sie tat, als überhöre sie, daß er sie sprechen wollte. Erzählte entlegene Dinge. Von Martin, den Kindern, vom Pfauenhof. –

Doktor Wicking hatte sich in einen Sessel ans Fenster gesetzt. Josa stand noch unschlüssig. Dies Ineinanderrinnen von Hell und Dunkel rings legte sich lau und sanft um ihren Blick. Die Farben alle mit dumpfem Staub belegt. Rot war braunschwarz, und blaßblau weißlich. Das Scharfe und Harte zerging in unklare Weichheit.

»Ich – wollte – doch – etwas tun?« Josa sagte es gedehnt und sich langsam behorchend. Dabei dachte sie an den Wirbel, der bald diese Ruhe hier aufwühlen mußte. Aber sie drängte mehr von ihm fort als zu ihm. – Er schlug die Füße übereinander, und der Sessel schütterte.

»Wollten Sie vielleicht Licht machen?«

»Ja, ja« Aber sie wollte es nicht. Sie suchte die Streichhölzer. Er stand auf und gab ihr die seinigen. Die Lampen waren nicht da. Sie zündete eine Klavierkerze an.

Sie lachte: »Das genügt uns, nicht wahr?«

Sie gab ihm die Streichholzschachtel, und er behielt ihre Hand. Er führte sie zum Sessel. Es rieselte ihr ein Sternschauer vor den Augen.

Es klopfte. Das Mädchen stellte die Lampen auf den Kamin.

Goldleisten, Glasfunken, Spiegelleuchten, glasierte Kacheln, hochpolierte Holzteile, alles sprang plötzlich lärmend in das Zimmer. In diesem Schrillen aufgejagter Reflexe fiel die stockende Befangenheit von Josa. Die Nerven vibrierten ungeduldiger, die Sehnsucht reckte die heißen zitternden Nüstern, alles an ihr schlürfte lechzendes Verlangen.

Sie waren allein.

Er saß neben ihr, tiefer auf der niederen Fensterbank:

»Wozu lange Umschweife, ich war heute in Lausanne, um mir eine Wohnung zu suchen.«

Er legte sich eine Gardinenfalte über das Knie und glättete sie. Josa sah nur diese gelbe Hand, diese runden stumpfen Nägel.

Sie wartete auf diese Hand. Es schlug schon wieder diese Brandwelle über sie zusammen. Diesmal nicht die Hand allein – sein Arm, seine Brust, seine Lippen, alles Fleisch, alle Wärme an ihm – in einem Flammenstrudel sollte es sie einsaugen.

Vor dem Hochstürmen und Niederstürzen ihres Blutes hörte sie kaum seine Stimme.

Oh, nur Wärme – nur seine Wärme! –

Er sah auf.

Sie griff mit der Hand unter die Armlehne, in den Behang der seidenen Schnüre, um das Zittern zu verbergen. Aber auch ihre Schultern, ihr Kinn schütterten ruckweise.

Er bog sich näher und suchte ihre Hand:

»Ich weiß es, es wird schwer sein. Aber nur für den Anfang, denk' ich. Sie wußten wohl wie ich, diese Trennung mußte kommen. Es geht nicht, es darf nicht weiter sein. Wir müssen entsagen.« In seiner Stimme begann Mitleid überzuschwellen. »Wir müssen. Und Sie werden es ruhig nehmen. Sie sind stark. Sie werden es können.«

Josa hatte allmählich gehört, ganz allmählich. Doch seine Worte sanken welk ab. Jedes Verstehen wurde niedergestoßen von dem Jauchzen, das auf Funkenrädern in ihr wirbelte.

Er tastete auch nach ihrer andern Hand: »Helfen Sie mir. Seien sie tapfer. Wir müssen es gemeinsam tragen. Ich leide sehr.« Er drückte leise die Lippen auf ihre Hand und wollte sich erheben.

Josa bei dieser Berührung wie in einem Qualm süß ätzender Düfte. Es schwoll; es gor. Es brandete. Ein tolles Kreisen, glühende Nebel, Tuberosen, Jasmin – sie drängt vor, ihren Oberkörper – seine Brust an ihre Knie – ihr Kopf auf seine Schuler. Die Seide des Kleides knirscht. Sie – vom Stuhl – auf den Boden – auf seine Hände.

Ihre Nägel drängen in seine Handfläche. Sie wühlt ihre Lippen in seinen Hals, in seinen Mund, in die Winkel der Augen, in seine Haare.

Und sie entfesselte ihn. Erschüttert schlürfte er zum ersten Male den Duft, der aus gesprengten Rosen stürzt. – –

Dann lehnten sie matt Schläfe an Schläfe. Eine lange Weile. Endlich zog er behutsam, aber entschieden ihre Arme von seinem Nacken. Stand auf, und Josa erhob sich mit ihm.

Er drängte sie in den Sessel nieder und schritt durch das Zimmer. Sie legte die Wange auf das Seidenpolster. Das Licht am Klavier flackerte bei seinem Gehen. Sein Schatten schrumpfte und dehnte sich über die Wände und deckte Glanzlinien und geschliffene Ecken und Kanten.

Sie wußte, jetzt in der Erschöpfung schwollen die betäubten Gedanken in ihm herrisch höher. Die Besinnung drängte sich wieder zwischen sie. Er mußte von neuem von der Trennung beginnen. Aber sie würde sich sträuben und widersetzen.

Er stand an der Balkontüre. Sie erinnerte sich, vorhin die italienische Kapelle von Toskana gehört zu haben. Jetzt mußte Pause sein. Es war so still. Sie hörte das Picken ihrer Taschenuhr und das Zischen der Lampen. Ihre Gedanken glätteten sich an dieser Ruhe.

Er kam zurück. Er lehnte sich an den Kaminsims. Erst hustete er, dann: Er halte sich jetzt, nachdem sie ihm ihre Liebe gezeigt, erst recht stark, das zu tun, was sie glücklich machen sollte.

Sie streckte die Arme nach ihm aus, konnte ihn aber nicht erreichen. Er blieb unbeweglich: »Ich halte die Trennung immer noch für geboten –«

Sie richtete sich auf, ihr Gesicht lachte und ihre Stimme schluchzte vor Erregung: »Das glaubst du nicht. Nein, sagen Sie sich doch so etwas nicht vor. Nein, nein, nein. Eine Trennung! Jetzt, Sie wissen doch alles! Wie können Sie mich noch so quälen?«

»Wir haben es uns schwerer gemacht. Aber es muß sein.« Aber in seinen starren Worten zuckte doch leise am Grunde die Wehmut.

An sie klammerte sich Josa:

»Lassen Sie sich doch sagen, das ist doch unmöglich. Ein Weiterleben allein, was sollen wir allein? Du willst es auch nicht. Nein. Warum denn auch? Es hindert uns ja nichts.«

Er kam näher. Sie fühlte seine Hand hinter ihr auf der Sessellehne.

Ob sie nicht mehr an ihren Mann denke? Er habe gehofft, sie werde ihm doch noch einmal die Ruhe wiedergeben.

Sie sah langsam über ihre Schulter zu ihm auf. Die Brauen stemmten eine Falte in ihre Stirn, sie schüttelte den Kopf: »Das geht nicht mehr. Das kann ich nicht.«

»Doch, Sie können, wenn Sie wollen

Ihr Blick öffnete sich weit zu einer erstaunenden Frage.

Er wischte sich mit dem Taschentuch den Bart und hustete leicht:

»Sie haben Ihr Buch jetzt beendet. Betrachten Sie das Manuskript als eine Gedankenarbeit, die Ihnen in Selbstbeobachtung und dem Klarwerden über solch wichtige Probleme genügend genützt hat. Verzichten Sie, das Buch der Welt zu geben. Geben Sie Ihrem Manne die Ruhe wieder.«

Sie drehte am Finger an der Stelle, wo ihr Trauring gesessen:

»Ich soll wieder zu ihm gehen?!«

»Nein, das nicht. Das rate ich nicht. Damit würde auf die Dauer niemandem genützt sein. Sie sollen ihm nur in dem einen nachgeben. Dies Buch. Sagen Sie, Sie hätten sich besonnen. Er will ja nur dies eine von Ihnen.«

Sie warf den Kopf in den Nacken, und ihre Haltung wurde steiler:

»Das ist es, das ist es, – daß er nur dies will. – Dies eine gerade!«

Eine Weile war es dunkel still im Zimmer. Dann faßte Wicking leise ihren Kopf und bog ihn sacht zu sich nach rückwärts über die Sessellehne. Er streichelte ihre Stirn.

»Neulich sprach ich über den Schluß Ihrer Arbeit. Über die Nächstenliebe. Ich meine, sobald wir die Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tode aufgegeben haben, sollten wir all unsere Kraft diesem Leben zuwenden, nicht in pessimistische Resignation verfallen. Wir sollen ›leben dem Leben zuliebe‹, das ist für mich kurz gesagt die Nächstenliebe. Wer den Mitmenschen nützt, nützt damit sich am meisten in echoender Rückwirkung. – – Josa –« er sah ihr innig ins Auge –. »Sie lieben Ihren Mann noch. Ich weiß es. Nicht alles an ihm. Aber – Sie schätzen ihn doch. Sie können ihm nicht für immer weh tun?!«

– – – Ja, sie liebe ihn noch. Sie sei in marterndem Zwist. Sie liebe beide. – Und könne keinem gehören!

Sie preßte die Hände vor das Gesicht. Ihre Schultern zuckten. Ihr Kopf zuckte. Durch ihre Finger drängten Tränen.

Wicking nickte und streichelte beruhigend ihr Haar.

Draußen am Balkonende krähte Mademoiselles dünne Stimme, und dann das geduckte Lachen des Bulgaren. Vom Toskana klimperten die Harfen herüber. Hie und da ein kurzes Tuten der Dampfstraßenbahn.

Wicking schloß die Balkontüre und zog die Vorhänge zu. Dann kam er wieder zu ihr:

»Ich wußte es. Jetzt werden Sie verstehen, warum ich auf eine Trennung dringe. Unser Zusammenleben würde nie ein volles Glück sein. Daß wir unsere Liebe auf der zerstörten Liebe eines anderen aufbauen, muß uns mit der Zeit verhängnisvoll werden. Vorwürfe kommen. Es geht nicht. Ganz können wir uns nicht von dem eingeimpften Gerechtigkeitsgefühl losmachen. Das drängt sich doch allmählich durch. Es drängt sich dann zwischen uns. Neue Qualen, neue Foltern. Sehen Sie, auf dem Pfauenhofe liebt man Sie immer noch sehr. Gehen Sie zu Ihrem Bruder. Dort finden Sie wenigstens ein friedliches Genießen. Damals wollten Sie Ihrer Arbeit wegen nicht zu Frau Martha. Jetzt fällt das alles. Sie sind mit Ihren Gedanken im klaren, niemand kann Sie reizen oder beeinflussen. – Tun Sie es. Es ist gewiß das Beste für alle Teile.«

Josa sah langsam zu ihm auf. An ihren Wimpern noch die Tränen, um die Mundwinkel ein leeres erschöpftes Lächeln. Wimmernde Entsagung krümmte sich in diesem Lächeln.

Er richtete sich auf. Er zog seine Uhrkette straff und lockerte den Rockkragen. Sie wußte, daß er nun gehen würde, und erhob sich.

»Ich reise morgen nachmittag, Josa, du schreibst mir vielleicht, zu was du dich entschließt.« Und als Tränen auf seine Hand fielen, bittend: »Mach es uns nicht wieder schwer.«

»Nie – nie – nie dich wiedersehen!!« Sie umkrampfte ihn. Sie tobten noch einmal in Küssen! Dann ging er.

Und sie blieb steif, mit geschlossenen Augen in der Mitte des Zimmers. Die Korridortüre fiel ins Schloß.

Eine greisenhafte Schwäche schmerzte in ihren Füßen. Sie stützte sich wie eine Kranke von Sessel zu Sessel. Ihre Gelenke, ihr Genick, ihre Hände wie feuchtes, kaltes Blei. Die Luft wie Rauch. Ihr Atem kämpfte. Das würgte und knirschte und wollte sich bäumen. Sie tastete zum Tisch. Auf die Kante gestützt, starrte sie mit hohlen Augen durch das helle Zimmer.

Auf dem Kamin fächelte noch die kleine Chinesin von der Erschütterung, da er die Türe geschlossen. Als sie in der steifen Puppe noch Leben von seinem Leben schwingen sah, warf sie die Arme über den Tisch, schlug mit der Stirn auf die Platte und brach in stoßendes Schluchzen aus.

Nun war sie ganz allein. –

*

In den nächsten Tagen und Wochen wälzte Josa ihren Gram im Herzen hin und her. Sie befühlte ihn von allen Seiten. Es wurde zum wollüstigen Behagen, den Schmerz laut schreien zu lassen. Sie peinigte sich, bis die Wunden, trocken und ausgepreßt, kein Blut mehr hatten.

Dann ruhte sie und lauschte dem linden, schleichenden Heilen. Eine blaue Stille wölbte sich über ihr. Sie kniete entsagungsvoll nieder.

Ihre Handlungen alle in zermalmter Gefügigkeit. Sie hatte weder Haß noch Liebe. Ihr Leben schien stumm wie die zertretenen, klaglosen Steine.

Aber sie freute sich dieser Gefühllosigkeit. So immer bleiben. Stumm, in steilem Aufrechtstehen gegen alle Eindrücke. Ohne Erwarten, ohne Enttäuschung. So wie Funke an Funke, die weißen, unberührten Sterne. Fern, entrückt allem Leid, aller Lust. Hoch über dem Flammengeprassel, dem gierigen Feuerraufen der Welt. Ein Fortschweben, auf in hohle, urweite Nacht, in die leere Unergründlichkeit. Immer zurückweichender, immer tiefer die Erde, eine mächtige Scheibe aus blassem, gelbem Silber. Immer insichkriechender, immer kleiner. Dann endlich die ungeheuere, schwarze, marmorschwarze Stille, eine Stille, die glatt und blank und kühl geschliffen. Und sie gebannt in dieses Weltschlundschweigen. – Sie schauerte. Sie prallte zurück. Die Sehnsucht schleuderte sie nieder. Sie knickte zusammen. Stürzte zur Erde. O hunderttausendmal lieber zerdolcht von Leid und Liebe, als in diesem Nagen und Saugen lechzender Einsamkeiten. – – –


Es kamen die feuchten, umflorten Novembertage mit ihrer schleichenden Poesie. Es wurde spät hell. Die Dämmerung kauerte tagsüber in den Ecken. Keine Sonne. Kein Glanz. Kein Schatten. Müdes, schläfriges Milchlicht. –

Die Berge kamen wochenlang nicht zum Vorschein. Kotiger Qualm kroch über die Dächer. Am Abend die nassen Straßen, wie chinesischer Lack mit goldnen Lachen, und die Menschen wankende Silhouetten.

Täglich dasselbe graue einsame Bild. Und täglich grauer und einsamer. –

Und dann am Vorletzten des Monats kam die Todesnachricht aus Würzburg. Martha war gestorben.

Am selben Abend packte Josa ihre Koffer. Am nächsten Morgen wollte sie zu Martin. Bis jetzt hatte sie sich von Genf noch nicht trennen können. Hier war sie Doktor Wicking noch nahe. Den See, die Berge zu sehen, den Namen seiner Stadt täglich zu hören. Es war da in allem ein Gedanke, ein Herzzucken von ihm. Aber nun mit der Zeit hatte sich das vibrierende Sehnen gestumpft. Zwischen Gegenwart und Erinnerung legte sich ein immer unbeweglicheres, breites Schweigen. Und aus den braunen, fauligen Resten verwester Hoffnungen lugten junge durchsichtige Keime. – –

Bis Mitternacht hatte sie mit der Pension Jacques Abschied feiern müssen. Dann saß sie allein in ihrem zerwühlten Zimmer am Kamin auf ihrem zusammengerollten Plaid. Sie hielt den Wecker in der Hand und zog ihn auf. Die breiten, goldnen Flammen schaufelten stoßweise braunrote Lohen in das Zimmer. Dann zerknallten Funkenhiebe auf dem Messing des Weckers, und die Seide ihres Kleides schrie auf.

Sie streichelte den moderweichen Stoff dieses Kleides. Sie liebte es sehr. Die Taille, der Rock von einem mehltauigen Graugrün. Wie zerfallene Birkenasche und tageslichtgeblendete Katzenaugen, aber beide Farben, grau und grün, unter einer dumpfweichen Schimmelschicht. Die Seide der bauschigen Ärmel und des Stuartkragens von fleischigem Kupfer mit haarscharfen kritzelnden Feueradern. Nur in den Schatten und Faltenbrüchen glimmend. Auf den Schwellungen mit samtnem Pudersilber bestäubt. Über dem Ganzen lag die Schwermut des reifebleichen Sommers. Unter den zögernden Farben pochte ein zurückgedrängtes Schluchzen.

Sie strich immer wieder über den Stoff. Das schmiegte sich wie Daunen, wie Schmetterlingsflügel. Der Pfauenhof, der Steinbruch, wo sich auf den Kanten der Quader die weißen und dottergelben Schmetterlinge sonnten. Und dann auf den Rhabarberstauden im unteren Garten. Da auch. Dann stand sie im wühlenden Grübeln oben im grünen Zimmer, wo sie mit Theodor die erste Nacht ihrer Ehe verbracht hatte. Nun wurde es Leipzig. Weihnachten wirbelte seinen Schimmer aus Schaufenstern über die Straße. Dann zu Hause. Die Lampe mit dem Sonnenblumenschirm. An der Decke ein wirbelndes Lichtrad gerade über dem Zylinder. Das schnurrte, und die Gedanken rollten sich so behaglich an ihm ab. Und von draußen durch die Doppelfenster schwirrte das Straßengeräusch wie feines, singendes Geläute. Und diese schlaftrunkenen Dezembermorgen. Das gähnte und streckte sich und konnte kaum erwachen. Man trat mit dem Licht in die trägen, stillen Zimmer. Die Luft war da noch geknetet vom Atmen und Sprechen. Und alles wie am Abend vorher. Die Zeitungen auf dem Tisch, die verschüttete Asche, das Feuerzeug, die Stühle, als ob man eben noch gesessen und geplaudert. Gar nicht als ob Stunden vergangen wären. Und draußen der Himmel von schmächtigem Elfenbeingelb, und drüben die Häuser in sich gekauert, und die Träume hingen noch blaugrau über ihnen. Überall raunten und kicherten Märchen, und durch die weichbeschneite Stadt schlich flüsternde Christfestheimlichkeit.

Es knackte in der Ecke. Josa sah sich nicht um. Sie wußte, daß es das Schloß des Korbkoffers war. Aber ihre Träume hatten sich umgesehen und waren zerstoben, und sie saß allein am Kamin. Einen Augenblick nur, dann schluchzte eine jähe, wilde Sehnsucht auf.

Sie stellte den Wecker an die Erde. Zerrte sich einen kleinen schwarzen Handkoffer heran und holte aus der Briefmappe Theodors Bild. Diese warmen, schweren Augen! Wie hatte sie nur diese Augen vergessen können! Sie versuchte, sich seine Stimme vorzustellen. Es gelang ihr nicht. Aber seine Gesichtsfarbe, das Neigen des Kopfes, den Gang.

Das Kaminfeuer fächelte blutbraune Schatten und rotgelbes Licht über das Bild. Es war, als ob es sich bewege. Sie sah ihn näherkommen. Sie umfassen. Sie suchte seinen Kuß. Die warmen Lippen, die sie nur durch das trockene, elastische Barthaar fühlte.

Sie preßte das Bild an die Lippen. Und rieb ihre Wange an seiner Glätte. Sie drängte es dicht vor die Augen, sie sprach es an, und plauderte und lachte und weinte, bis sie es vor Tränen nicht mehr sah, dann wärmte sie es an ihren geschlossenen Augen.

Und sie griff in die Winkel ihrer Erinnerung und holte alles vor, was ehemals Theodor gehörte. Und die zuckende Sehnsucht warf sich schluchzend darüber, bis es wieder zu pulsen begann und sich zu recken und das Herz zu schütteln, das es so lange schmachten und verkümmern ließ. – – –


Am nächsten Morgen reiste Josa nach Leipzig. Bei Biel war der Zug eingeschneit. Sie kam erst am zweiten Tage, am Spätnachmittag in Leipzig an. – Wilde Ahnungen peitschten sie. Wenn Theodor krank. Oder gar tot. Mit Selbstgeißelung zerfetzte sie sich die Freude der Erwartung. – – –

Endlich an der Haustüre. Sie blieb einen Augenblick stehen. Im Treppenhause schwankte die Hauslampe noch an den Ketten. Sie mußte eben angezündet worden sein.

Josa stockte. Es gor wie prickelnde Blasen in ihr auf. Es stach ätzend mit dünnen Lanzetten in die geschwollenen Adern ihres Mutes.

Diese wiegenden Bewegungen der Lampe drückten eine ekelfade Gleichgültigkeit aus. Sie sah genau das lange Gesicht schablonenhafter Alltäglichkeit. Diese Lampe wurde Abend für Abend von demselben Dienstmädchen angezündet und Abend für Abend um zehn Uhr ausgeschraubt. Wie sie das so genau kannte, diese endlose, öde Schnur, die durch alle Stunden rollte und allem seine Richtung gab. Die schillernden, farbenfröhlichen Traumblasen in ihr waren zersprungen. Das Gerippe der alten, dürren Verhältnisse stand duftlos, starr vor ihr. Struppige Ecken und Kanten und all die weichen, wehenden Schleier, die Erinnerung und Ferne darumgesponnen, fortgeflogen.

Zagend schritt sie hinauf. Die Namen an den Entreetüren der Stockwerke belebten sie wieder. Sie ertrugen es auch, alle diese anderen da drinnen. Es mußte doch nicht zu schlimm sein.

Die Aufwartefrau kannte Josa nicht, und sie mußte als ihr eigener Besuch in ihren Salon eintreten, Theodor war in der Abendkirche.

Sie ging durch die Zimmer. Im Schlafzimmer stellte sie ein Paar Stiefel von ihm in den Schrank. Hing ein Handtuch auf, das an der Erde lag. Sie las ihr Monogramm an der Kante, da wurde sie wieder frischer und kräftiger.

Dann war Theodor gekommen. Er hatte wild in ihren Armen geschluchzt. Und sie blieben lange schweigend in Tränen und Küssen.

Er sah gelb und schmal aus. Der Bart dichter, mehr bis unter die Backenknochen gewachsen und ungepflegter. Die Falte zwischen den Brauen war auch grauer und steiler geworden. Er hatte sich angewöhnt, mit dem Handrücken über die Schläfen zu streichen. Er sagte, er habe keine Schmerzen dort, nur wie Spinnweben hänge es manchmal über den Adern.

Als sie beide ruhiger geworden, sagte ihm Josa, sie wollten nicht mehr von dem Vergangenen sprechen. Sie wolle versuchen, zufrieden und nach seinem Wunsche neben ihm zu leben.

Er antwortete nicht. Sein Auge glasig, steif wie in ein Grab starrend. Sein gehärteter Ernst schlug mit dumpfem Echo in Josa an und weckte dieselben hoffnungslos gebeugten Gedanken: Es ist unmöglich! –

Und es war unmöglich. – Einige Monate lebten sie zusammen. Aber keiner von ihnen konnte es vermeiden, daß mit der Alltäglichkeit kleine Verstimmungen aufzuckten. Pfeilgefechte entgegengesetzter Meinungen. Urteile, die gar nicht ausgesprochen wurden, die aber einer dem andern aus den Gedanken las. Wenn auch Josa bei den Gebeten zu den Mahlzeiten mit zu beten schien, das Bewußtsein, daß sie nur für ihn die Hände falte, spannte in Theodor allmählich die erste stachelnde Reizung. Dann die Umgebung, die Gesellschaft, die Kirche, das alles trieb in die Stille zwischen ihnen feuerrote Giftdornen. Sie fühlten, wie jeder allmählich wieder die Fühler der Annäherung erschlaffen ließ, wie jeder hinter dem Wall seiner Ansichten kauerte und den andern lauernd im Auge hielt.

Jeder ballte sich immer fester in sich, und wenn sie aneinander stießen, schlugen die Funken immer störrischer. Josa begann Vergleiche zwischen Theodor und Doktor Wicking anzustellen. Und da sie ihn in das Profil des andern drängen wollte, fühlte sie nur noch verletzender und rauher sein Anderssein. Sie zerbiß sich selbst mit Vorwürfen, aber die Unzufriedenheit ließ sich nicht säumen. Es stemmte sich ein zu hartstirniges Sträuben einem Verstehen mit Theodor entgegen. –

Im Januar kam ein Brief. Doktor Wicking schrieb, wie er sich über ihre Heimkehr freue, mit ihr hoffe, und von Herzen Glück wünsche. Er selbst fühle sich ausnehmend frisch und wohl. Seine »Desmidiaceen« waren in Genf von der Universität preisgekrönt worden. Er machte jetzt eine Reise nach Südfrankreich.

Acht Tage später kam ein Brief von Mademoiselle Jacques, der ihr seinen Tod anzeigte. –

Josa bekam einen Lachkrampf. Sie lachte, daß ihr Nacken steif wurde und sie sich die Zunge blutig biß. Theodor und die Aufwartefrau mußten sie halten. Dann sank sie schlaff wie mit gebrochenen Knochen zusammen und schlief ein, und schlief eine Nacht und einen ganzen Tag. Darauf war sie ganz still und ging schweigend umher. Man hatte sie anziehen müssen und ihr das Essen aufnötigen. Sie fragte und sprach nicht und tat auch nichts. Sie saß oder stand mit dem Kopf an die Wand gelehnt und immer an ihrem Trauring drehend.

Theodor sagte ihr nicht, daß ihr Haar an der rechten Schläfe silbern geworden war. Aber am vierten Tage hatte sie wieder zu sprechen begonnen, und am Nachmittag fand er sie, die Arme auf den Toilettentisch gestützt, und leise weinend. In ihrem Schoße lag ein Handspiegel, und ihre Tränen fielen auf das Glas. –

Theodor war milder und ging behutsamer und nachsichtiger um ihre fremde Gedankenwelt. Das nahm ihrem Verhältnis das Verachtung- und Zorngeätzte. Sie behandelten sich gegenseitig wie Kranke. Sie deuteten nur schweigend auf ihre Wunden. Nickten besorgt und berührten nur Dinge, die außer der Empfindungssphäre ihres Schmerzes lagen. – – –


Die ersten lallenden Lüfte wankten auf. Die Menschenherzen krochen hervor und liefen hinaus und suchten den Frühling. Sie wunderten sich, daß noch kein Grün jauchzte. Sie überlegten, wie lange es noch dauern könne, und die Hoffnung füllte ihnen die Farbenleere mit Türkisen und Smaragden. Aber wenn die Sonne untergegangen und wieder alles leer und kühl und dunkel geworden, dann schlichen sie fröstelnd nach Hause, und die graue Enttäuschung streute Asche auf ihre Wünsche.

Eines Abends war Josa auf den Boden gegangen und hatte die Pelze in die Koffer gelegt. In Schwefel und Veilchen und Purpur brannte ein Sonnenuntergang über den Dächern. Die Telephondrähte glühend, und durch den Rauch über den Kaminen biß sich das hitzige Weinlicht mit blendenden Zähnen, biß grell in die blanken Dachscheiben und qualmte wie Blutstaub in die kleine Kammer. Josa stand am Fenster und wärmte ihre Augen an den Farben. Dann streichelte sie die rotgeblendete Wand, und zum ersten Male lächelte sie wieder.

Von nun ab saß sie öfters am Abend dort oben auf dem knarrenden Korbkoffer, auf dessen zerschlissenem Wachstuch noch die Post- und Hotelzettel klebten: Genève – Bâle –; Hôtel des Alpes; – – Würzburg –.

Und bei dem Naphthalingeruch, der von den Pelzen aus dem Koffer drang, dachte es sich so gut an den Pfauenhof. Dann sah sie zuerst die ausgestopften Eulen und Geier Martins oben im kleinen Saal. Und dann ging sie an alle lieben Plätze der Heimat und dabei starrte sie über die Stadt draußen, wie unter ihr die Nacht aus den Straßen kroch und das Tageslicht bis zum letzten Tropfen erwürgte.

Und dann die gelassene beschwichtigte Dämmerung, das tat wohl, und aus seinen, ganz fernen verästelten Adern sickerten zarte Erinnerungen. Und sie legten sich warm an ihr Herz und kosten es.

Kühle Sommermorgen, wo der Himmel wie Kristall und die Erde grün schäumend. Und Lerchen aus dem Blau Perlen streuten. Und Wald und Wiesen sich in Liedern wiegten. – Dann Herbst, müdes Auflösen. Regenfunken in bleicher Luft. Schlaffe Farben, knirschendes Laub. Schwache duftlose Tage mit großen, feuchten Augen und die leeren Hände voll Tränen.


Eines Abends küßten sich Josa und Theodor und besprachen, ihre Qual zu brechen. Sie wollten getrennt leben. Josa bei Martin auf dem Pfauenhofe. Er würde sie besuchen, wenn sie Sehnsucht nach ihm habe. Ganz konnten sie sich nie entbehren, das hatten sie beide eingesehen. So würde es am besten sein. –

*

Nun ist es Sommer. Die Luft lau. Wolken treiben am Himmel. Zehn Sekunden Sonnenschein, fünf Sekunden Schatten. Der Himmel lacht und schließt plötzlich wieder die Augen.

Im Garten am Berghange tropfen die schwarzblauen Rosen. Die Gerste liegt geschnitten in halben Schichten. Der Roggen steht noch hoch, und die Grannen wetzt ein Lufthauch.

Josa steht unten im Garten. Ihr rostfarbenes Kleid stammt aus dem Grün der Farrenfächer und der Rhabarberstauden. Sie hat den Arm voll wilder Weinranken und die Hand vor die Sonne, und lacht zur Mauer hinauf. Auf der Terrassenbrüstung liegen die Zwillinge und blasen Seifenkugeln. Das schwebt wie große funkelnde Augen durch die Luft. Einige fallen ihr aufs Haar, auf die Schultern, in die Ranken und zerspringen.

Später steht sie im Wohnzimmer. Faltet rotes und grünes Seidenpapier für die Blumenstöcke. Sie erwartet morgen Theodor.

In den Vasen strotzen Rosen. Meerschaumgelbe und weiße, und violett-purpurne. Einige zerstreut auf dem Klavier, den Konsolen, den Gesimsen. Sie schlingt die Ranken über die Bilder, den Wandschirm, die Etagèren und quer gespannt über die Ecken.

Dann zieht sie die Stiefeletten aus, steigt auf das Sofa und wirft das Grün über die »Klythia« und die Hängelampe.

Sie setzt sich und sieht rund um. Die Blicke klettern mit den Ranken über Wände, Bilder, Möbel. Kühler, bitterer Saftgeruch schärft allmählich die Luft. Mit einem Male beginnt alles so feierlich zu werden. Die Gezwungenheit fremder neuer Formen und Linien spreizt sich. Dabei drängt etwas gewaltsam Andächtiges aus den geschmückten Möbeln. – Sie will alles wieder herunterreißen. Dann besinnt sie sich und geht fort.

Im Korridor riecht es nach Branntwein und Knasterdunst. In der Küche hört sie den alten Sepper ächzen. Ein Blinder aus Höchberg, der Freitag abend die Essenreste im Pfauenhofe holt.

Zwischen den Scheunen kommt ihr Martin entgegen. Im blauen Arbeitskittel. In der Hand einen Riemen, an der andern zerrt er die Diana mit sich. Er ist noch rot und zorngedunsen. Der Hund hat einen Hasen gehetzt. Er hat ihn geprügelt und flucht über die Canaille. Aber dabei lacht er doch bis in die Stirnwinkel.

Josa geht den Berg hinauf. Martin ruft ihr nach, sie soll sich oben die neue Bank ansehen. Josa nickt, aber sie hat ihn nicht recht verstanden, der Truthahn schrie dazwischen.

Sie steigt den Hang hinauf. Rings auf den Höhen wechseln weißliche Kornfelder und wasserblaue Kleestreifen und wie Goldschaum die Weinberge. Es liegt viel Emsigkeit in diesen geschäftig bunten Flecken. Josa geht durch den Akazienwald. Dahinter im Baumland an einer Bergstufe findet sie die neue Bank. Jetzt weiß sie, was Martin meinte.

Josa will sich setzen. Aber neben der Bank ein grauer Federhaufen. Ein Geier hat eine Taube zerrissen. Das stört sie. Sie geht einige Schritte weiter, breitet ihr Taschentuch ins Gras und setzt sich.

Drüben gleitet die Sonnenscheibe hinter blaue Wolkendämme. Der Himmel weit geöffnet, in ewiger Ferne eine seltsame Welt. Durchsichtige Gletscherrücken. Schwellend, gehäuft voll rosigen Flieder, grüne Malven. Bernsteinadern krampften sich darüber. Aus Rissen und Buchten stürzten Strahlenkeile wie steile Säulen aus Perlmutter. Und in den Wolkengründen gor grünes Gold und zerstäubte zum veilchenrosigen Zenith. Allmählich kroch aschiger Moder über die Silberblüten. Ein Granatlicht ballte sich. Über dem Waldsaum, den Bergflächen, wirbelte es wie Graphitstaub vor Flammen. Aber das Rot stöhnte immer rasender, Blut floß über Himmel und Erde. Es tränkte die grauen Weinbergmauern, bräunte das Grün, und zerfleischte mit wilden, flackernden Küssen das Laub.

Unten zwischen Schlehdornen kniete der blinde Sepper, raufte Gras und stopfte es in einen Sack. Er sprach fortwährend. Und kniff die toten Augen zu, als wolle er einen Blick hervorpressen.

Da kam ein stilles, ernstes Glück über Josa. Sie trank und trank, bis die Dämmerung aufrauchte. Dann erhob sie sich und schritt hinunter. Und hinter ihr schlug die Dunkelheit zusammen.